OGH 10ObS102/93

OGH10ObS102/9315.6.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Friedrich Tschochner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Karl Dirschmied (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Konrad R*****, vertreten durch Dr.Jörg Hobmeier und Dr.Hubertus Schumacher, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10.März 1993, GZ 6 Rs 1/93-64, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7. Oktober 1992, GZ 45 Cgs 157/90-59, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 4.5.1990 lehnte die Beklagte den Antrag des am 23.8.1941 geborenen Klägers vom 23.2.1990 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Die auf eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag gerichtete Klage stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Arbeitskraft des überwiegend im angelernten Beruf eines Hilfszimmerers (Schalers) tätig gewesenen Klägers infolge seines Gesundheitszustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sei.

Die Beklagte behauptete, daß der Kläger überwiegend als Hilfsarbeiter tätig gewesen sei und durch solche Tätigkeiten wenigstens die Hälfte des üblichen Entgeltes eines gesunden Versicherten erwerben könne.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab Stichtag (1.3.1990) die Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe zu gewähren, ohne dem beklagten Versicherungsträger nach § 89 Abs 2 ASGG eine vorläufige Zahlung aufzutragen.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen kann der Kläger infolge seines seit Februar 1990 bestehenden körperlichen und geistigen Zustandes nur mehr leichte, eine halbe Stunde auch mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen, im Freien und in geschlossenen Räumen verrichten. Heben und Tragen von Lasten über 15 kg, häufiges Bücken und Treppensteigen sowie das Besteigen von Leitern und Gerüsten sind zu vermeiden. Die Anmarschwege und die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sind nicht beschränkt. Auspendeln aus dem Wohnbezirk (Osttirol) ist zumutbar. Wegen der schon vor Eintritt in das Berufsleben bestehenden und seither nicht wesentlich veränderten sehr niedrigen intellektuellen Leistungsfähigkeit (IQ 71) ist der Kläger weder umschulbar noch anlernbar, aber unterweisbar. Deshalb kann er nur einfache Arbeiten verrichten, die nur geringe Anforderungen an die intellektuelle Leistungsfähigkeit stellen, keine besonderen Gedächtnisleistungen verlangen, keine höheren Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit, die Monotonie- und Belastungsbedingungen sowie an die motorische Geschicklichkeit stellen und kein rasches Arbeitstempo und kein häufiges Umstellen auf neue Arbeitsbedingungen erfordern.

Der Kläger (- der keinen Beruf erlernt hat -) hat vom 1.3.1975 bis Ende Februar 1990 152 Beitragsmonate (der Pflichtversicherung) erworben. Vom 18.9.1978 bis 8.1.1990 war er - mit Unterbrechungen - bei ein und derselben Baufirma als "Schaler" beschäftigt. Dieser Beruf scheint in der Lehrberufsliste nicht auf. Seit 15.7.1987 gibt es allerdings den Lehrberuf 'Schalungsbauer'. Der Kollektivvertrag für die Bauindustrie und das Baugewerbe kennt den angelernten Beruf "Schaler".

Das Erstgericht beschrieb das Berufsbild des "Schalers" und des "Schalungsbauers" und stellte fest, daß die theoretischen Kenntnisse eines "Schalungsbauers" und die für die Herstellung der diversen Schalungen erforderlichen Materialkenntnisse höchstens während je eines Zehntels des täglichen Arbeitseinsatzes (der täglichen Arbeitszeit) benötigt werden. Die schwere körperliche Tätigkeit eines "Schalers" und "Schalungsbauers" erfordert Handgeschicklichkeit, räumliche Vorstellungskraft und mathematisch-technisches Verständnis. "Beim Kläger liegen die von einem gelernten "Schalungsbauer" geforderten und ihm während seiner - auch theoretischen - Ausbildung beigebrachten theoretischen Kenntnisse nicht vor".

Die Feststellungen zum Anforderungsprofil und den tatsächlichen Kenntnissen des Klägers traf das Erstgericht aus dem berufskundlichen Gutachten. Die von der Beklagten beantragte Vernehmung von informierten Vertretern insbesondere des langjährigen Arbeitgebers des Klägers wurde wegen offenkundiger Verschleppungsabsicht abgelehnt.

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht ua aus, die Tätigkeit eines "Schalers" sei früher von Maurern, Zimmerern oder Betonbauern verrichtet worden, die sich ausschließlich auf das Anfertigen von Schalungen verlegt hatten. Der "Schaler" verrichte insgesamt qualifizierte Arbeiten, wofür die durch die herkömmlichen Lehrberufe (Zimmerer und Betonbauer) vermittelte Ausbildung einerseits nicht genügte und genügt, andererseits in der Praxis entbehrlich ist. "Nach den Feststellungen beherrscht der Kläger die praktischen Fähigkeiten, die von einem Schaler oder 'Schalungsbauer' im täglichen Leben verlangt werden, vollständig. Der Kläger hat jedoch nicht die theoretischen Kenntnisse eines Schalungsbauers. Derartige theoretische Kenntnisse werden im praktischen Berufsleben höchstens zu 10 % verlangt." Der Kläger sei überwiegend im angelernten Beruf "Schaler" tätig gewesen und gelte daher als invalid iS des § 255 Abs 1 ASVG.

In der Berufung machte die Beklagte Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtige Beweiswürdigung und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab.

Entscheidend sei, ob der Kläger jene Qualifikation aufweise, die dem erst mit Wirkung vom 15.7.1987 (BGBl 1987/299) in die Lehrberufsliste eingefügten Lehrberuf "Schalungsbauer" entspreche. Dies sei bereits nach dem unstrittigen Sachverhalt zu verneinen. Der Kläger sei mit dem Vermessen von Bauteilen, dem Lesen von Plänen und der Feststellung des Materialbedarfes nicht befaßt gewesen und habe selbst eingeräumt, daß er die theoretischen Teile des Berufsbildes "Schalungsbauer" nicht beherrsche, der die oben wiedergegebenen Bereiche umfasse. Von den 1200 Unterrichtsstunden in der Berufsschule entfielen 508 Stunden auf die im Ersturteil angeführten reinen Theoriefächer. Es gehe nicht an, diesen theoretischen Teil des Berufsbildes mit der Begründung zu vernachlässigen, daß er im praktischen Berufsleben nur ca 10 % einnehme. Eine solche Betrachtungsweise werde dem Stellenwert der für jeden angelernten Beruf essentiellen nichtmanuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht gerecht, die vielfach, auch wenn sie zeitlich nur von untergeordneter Bedeutung seien, eine unentbehrliche Voraussetzung für die Verrichtung der Arbeit seien. Dem Kläger fehle der theoretische "Unterbau" des Lehrberufes "Schalungsbauer", von dem nicht gesagt werden könne, daß er in der Praxis entbehrlich sei, zur Gänze. Deshalb könne er nicht einem gelernten Versicherten gleichgestellt werden. Die Frage, ob er invalid sei, sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen und wegen einer Reihe von seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden leichten Arbeiten, zB eines Portiers, Fabriksportiers, Wachorganes und Aufsehers, zu verneinen.

In der Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend und beantragt, das Berufungsurteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist im Ergebnis berechtigt.

Ob der Kläger überwiegend in einem angelernten Beruf tätig war, in welchem Fall die Frage seiner Invalidität nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen wäre, hängt davon ab, ob er iS des Abs 2 leg cit bei der Baufirma, in der er in den Jahren 1978 bis 1990 mit Unterbrechungen als "Schaler" beschäftigt war, eine Tätigkeit ausübte, für die es erforderlich war, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Berufe gleichzuhalten sind. Das kann jedoch noch nicht verläßlich beurteilt werden, weil Feststellungen über die näheren Umstände der vom Kläger in den genannten Jahren ausgeübten, in der Bestätigung der ihn beschäftigenden Baugesellschaft vom 28.8.1990 (Beilage des Schriftsatzes des Klägers vom 4.9.1990 ON 4) ohne weitere Beschreibung als die eines "Schalers" bezeichneten Tätigkeit fehlen:

Bei der Prüfung, ob die für überwiegend ausgeübte Tätigkeit notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten jenen in einem erlernten Berufe gleichzuhalten sind, ist zu berücksichtigen, daß der Lehrberuf "Schalungsbauer" erst mit Wirkung vom 15.7.1987 in die Lehrberufsliste eingefügt wurde (BGBl 1987/299), wobei gleichzeitig die Bestimmungen über den bisherigen Lehrberuf "Betonbauer" entfielen (dazu ausführlich SSV-NF 3/79). Der Kläger übte seine Tätigkeit als "Schaler" daher weit überwiegend während einer Zeit aus, in der es den Lehrberuf "Schalungsbauer" noch gar nicht gab. Deshalb könnte es ihm nicht zum Nachteil gereichen, wenn er nicht alle in den Ausbildungsvorschriften dieses neuen Lehrberufes (BGBl 1987/300) aufgelisteten Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hätte. Nach früherer Anschauung war die Tätigkeit des Schalers eine Spezialisierung von Maurern, Zimmerern und Betonbauern, die sich ausschließlich auf das Anfertigen von Schalungen verlegt hatten (vgl Berufslexikon Band 2 "Ausgewählte Berufe" Stand Jänner 1985, 422). Gerade die Schaffung eines eigenen Lehrberufes im Jahre 1987 deutet darauf hin, daß der Schalungsbauer insgesamt qualifizierte Arbeiten verrichtet, wofür die durch die herkömmlichen Lehrberufe (Zimmerer, Betonbauer) vermittelte Ausbildung einerseits nicht genügt, andererseits in der Praxis (teilweise) entbehrlich ist (SSV-NF 5/51).

Zur Beurteilung, ob der Kläger während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in einem angelernten Beruf iS des § 255 Abs 2 ASVG tätig war, ist also auch zu klären, welcher Lehrberuf der Tätigkeit eines Schalungsbauers - vor Inkrafttreten der Bestimmungen über diesen Lehrberuf - am nächsten kam und welche Kenntnisse und Fähigkeiten von einem Arbeiter in dieser Variante üblicherweise - nicht nur von dem Arbeitgeber des Klägers, sondern in der gesamten Baubranche - verlangt wurden. Diesem Standard werden dann die Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüberzustellen sein, die vom Kläger als "Schaler" angewendet wurden (SSV-NF 5/51).

Wegen der aufgezeigten Feststellungsmängel waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Rechtssache mußte zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen werden (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Revisionskosten beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte