European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1992:E30424
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes wird verworfen.
Gründe:
I./ Mit Urteil des Bezirksgerichtes Klagenfurt vom 20. Juni 1991, GZ 17 U 441/90‑22, wurden der am 20.August 1941 geborene Werkmeister Hans‑Jörg Sch*, der am 18. Oktober 1941 geborene Bauingenieur Ing. Manfred H*, der am 3. November 1964 geborene Elektroinstallateur Manfred Ga* und der am 6. Juni 1964 geborene Beamte Peter Gu* von der wegen des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs 1 StGB erhobenen Anklage gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Das Erstgericht stellte hiezu fest, daß die Beschuldigten Ga* und Gu* am 19. August 1990 (insofern auf AS 125 der Tatzeitpunkt mit 30. August 1990 angegeben wird, liegt ersichtlich ein unberichtigter Diktat‑ oder Schreibfehler vor, vgl AS 7 und 124) knapp vor Mitternacht im Ortsgebiet von Krumpendorf die Weiterfahrt des vom Beschuldigten Sch* gelenkten PKW's, in dem sich auf dem Beifahrersitz der Beschuldigte Ing. H* befand, hinderten, indem sie als Fußgänger in Begleitung zweier Frauen vor dem PKW des Beschuldigten Sch* unnötig langsam die Fahrbahn überquerten, wobei Ga* und dessen Begleiter letztlich überhaupt vor diesem PKW stehenblieben. Dadurch fühlten sich die Beschuldigten Sch* und Ing. H* provoziert. In weiterer Folge stieg der Beschuldigte Ing. H* aus dem PKW aus, worauf es zwischen ihm und den Beschuldigten Ga* und Gu* zu einer tätlichen Auseinandersetzung kam. Schließlich stieg auch noch der Beschuldigte Sch* aus, um Ing. H* zu Hilfe zu kommen. Nach den Tätlichkeiten wiesen die Beschuldigten Ing. H*, Ga* und Gu* mehrfache, jedoch (auch insgesamt) leichtgradige Verletzungen auf. Die Freisprüche der vier Beschuldigten stützte das Erstgericht darauf, daß in Ansehung des Beschuldigten Sch* nicht feststehe, ob er (überhaupt) Tätlichkeiten gegen die Beschuldigten Ga* und Gu* gesetzt habe und in Ansehung der drei übrigen Beschuldigten nicht festgestellt werden könne, "wer die ersten Tätlichkeiten gesetzt und wer wem welche Verletzungen zugefügt hat" (AS 126). Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das Erstgericht aus, daß im wesentlichen zwei "Gruppen" von Aussagen, nämlich einerseits die der Beschuldigten Sch* und H* sowie der von ihnen geführten Zeugen und andererseits jene der Beschuldigten Ga* und Gu* und deren Zeuginnen vorlägen, wobei jede der beiden Seiten jeweils behaupte, von der "anderen Seite" zuerst angegriffen worden zu sein und sich allenfalls zur Wehr gesetzt zu haben. Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht den Standpunkt, daß die Ergebnisse des abgeführten Beweisverfahrens nicht ausreichten, um mit der für eine Verurteilung im Strafverfahren erforderlichen Sicherheit den einzelnen Beschuldigten bestimmte tätliche Angriffe mit bestimmten Verletzungsfolgen zur Last legen zu können.
Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt ließ den Freispruch des Beschuldigten Sch* in Rechtskraft erwachsen. Unter gleichzeitiger Zurückziehung der vom Bezirksanwalt angemeldeten Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld führte die Anklagebehörde lediglich eine Nichtigkeitsberufung gegen den Freispruch der Beschuldigten Ing.H*, Ga* und Gu* aus, die sie ‑ ohne ausdrücklich Feststellungsmängel zu behaupten ‑ ausschließlich auf den Nichtigkeitsgrund nach dem § 468 Abs 1 Z 4 (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a) StPO stützte.
Das Landesgericht Klagenfurt gab mit Urteil vom 10. Dezember 1991, AZ 4 Bl 248/91 (= GZ 17 U 441/90‑29 des Bezirksgerichtes Klagenfurt) der Berufung ohne Beweiswiederholung Folge, hob das angefochtene Urteil hinsichtlich der Beschuldigten Ing. H*, Ga* und Gu* auf und erkannte in der Sache selbst, daß diese drei Beschuldigten des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs 1 StGB (die Beschuldigten Ga* und Gu* als Beteiligte gemäß dem § 12 StGB) schuldig seien. Das Berufungsgericht übernahm dabei die Feststellungen des Erstgerichtes und führte wörtlich aus, daß "sich nach den Feststellungen ergibt, daß Ga* und Gu* im Zug ein‑ und derselben Auseinandersetzung gemeinsam gegen Manfred H* tätlich vorgingen und somit im bewußt gemeinsamen Zusammenwirken als Mittäter handelten". Damit sei es aber rechtlich ohne Belang, wer die einzelnen Tathandlungen (Schläge) mit welchen Verletzungsfolgen setzte, da sowohl Ga* als auch Gu* für den zumindest (zu ergänzen: bedingt, vgl. die wörtlich übernommene Berufung der Staatsanwaltschaft Klagenfurt, AS 132) gewollten gesamten Verletzungserfolg hafteten. Da umgekehrt auch Ing. H* Tätlichkeiten gegen Ga* und Gu* gesetzt habe, hafte er auch für die Verletzungsfolgen.
Rechtliche Beurteilung
II./ Nach Ansicht der Generalprokuratur steht das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt mit dem Gesetz deshalb nicht im Einklang, weil das Berufungsgericht zwar erklärtermaßen die erstgerichtlichen Feststellungen als unbedenklich übernommen habe, in Wahrheit aber bei der rechtlichen Würdigung des Sachverhaltes (AS 158) von urteilsfremden Annahmen ausgegangen sei.
Die Generalprokuratur führte dazu folgendes aus:
"Obgleich das Erstgericht zur subjektiven Tatseite und über den Hergang der Tätlichkeiten zwischen dem Beschuldigten Ing. H* (einerseits) und den Beschuldigten Ga* und Gu* (andererseits) überhaupt keine näheren Feststellungen getroffen hatte, nahm das Berufungsgericht insbesondere ein gemeinsames Vorgehen der Beschuldigten Ga* und Gu* gegen Ing. Manfred H* an, woraus es rechtlich auf eine Mittäterschaft dieser Beschuldigten schloß. Abgesehen von der (durch die erstgerichtlichen Feststellungen nicht gedeckten) Annahme der Mittäterschaft von Ga* und Gu* ging das Berufungsgericht aber auch entgegen dem Erstgericht, das hinsichtlich des Beschuldigten Ing. H* gleichfalls nicht feststellen konnte, welche Verletzungen er den Beschuldigten Ga* und Gu* zugefügt hat, der Sache nach davon aus, daß die Verletzungen der Beschudigten Ga* und Gu* dem Beschuldigten Ing. H* zuzurechnen seien. Dabei ließ es allerdings unter anderem auch völlig außer acht, daß das Erstgericht (im Zweifel) zwar Tätlichkeiten des Beschuldigten Sch*, der aus dem PKW ausstieg, um seinem Beifahrer zuhilfe zu kommen, nicht feststellen konnte (AS 126), andererseits aber allfällige Tätlichkeiten dieses Beschuldigten (Sch*) gegen die Beschuldigten Ga* und Gu* auch nicht ausschloß, so daß die Verletzungen der beiden zuletzt Genannten auch von ihm verursacht worden sein können.
Hiezu kommt, daß sich den erstgerichtlichen Feststellungen auch nicht das Vorliegen eines Raufhandels im Sinne einer Aufeinanderfolge wechselseitiger Angriffs‑ und Abwehrhandlungen entnehmen läßt, bei dem Notwehr (der einen oder anderen Seite) nur ausnahmsweise in Betracht käme (vgl Leukauf‑Steininger StGB3, RN 84 zu § 3 StGB).
Die gesetzlichen Bestimmungen über das Berufungsverfahren gegen bezirksgerichtliche Urteile enthalten keine Vorschrift darüber, wie das Berufungsgericht vorzugehen hat, wenn materiellrechtliche Nichtigkeitsgründe (§ 281 Abs 1 Z 9‑11 StPO) vorliegen. Es kommen daher analog die entsprechenden Bestimmungen des Nichtigkeitsverfahrens zur Anwendung (Mayerhofer‑Rieder 3, E 4 zu § 473 StPO). Wenn daher, wie im vorliegenden Fall, die Anklagebehörde bei einem freisprechenden Urteil des Erstgerichtes eine Schuldberufung nicht ausführt und auch formelle Nichtigkeitsgründe nicht geltend macht, ist (auch mangels ausdrücklicher Behauptung von Feststellungsmängeln) nach den §§ 258 und 288 Z 3 StPO iVm § 447 StPO das Berufungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichtes bei der Überprüfung des Urteils unter dem Gesichtspunkt des geltend gemachten materiellen Nichtigkeitsgrundes gebunden (vgl Mayerhofer‑Rieder 3, E 27 zu § 281 StPO). Das dem Wortlaut der Berufung der Anklagebehörde folgende Berufungsgericht hat sich jedoch ebenso wie bereits die demgemäß nicht gesetzgemäß ausgeführte Nichtigkeitsberufung der Anklagebehörde, auf im Ersturteil nicht festgestellte Tatsachen (gemeinsames Vorgehen der Beschuldigten Ga* und Gu* gegen den Beschuldigten Ing. H* sowie Tätlichkeiten des Ing. H* als alleinige Ursache der Verletzungen der Beschuldigten Ga* und Gu*) gestützt und ist ohne Deckung durch entsprechende Feststellungen (insbesondere auch zur subjektiven Tatseite) zu einem Schuldspruch der Beschuldigten Ing. H*, Ga* und Gu* wegen § 83 Abs 1 StGB gelangt. Das Berufungsurteil wäre daher aufzuheben und zugleich die nicht gesetzmäßig ausgeführte Nichtigkeitsberufung der Anklagebehörde zurückzuweisen."
III./ Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ist nicht berechtigt.
Im Urteil des Bezirksgerichtes Klagenfurt wurde festgestellt, daß sich Hans‑Jörg Sch* und sein Beifahrer Ing. Manfred H* (Zweitbeschuldigter) durch das oben angeführte Verhalten der Fußgänger provoziert fühlten, daß sodann der Zweitbeschuldigte (H*) aus dem PKW seines Cousins ausstieg und daß es "zwischen ihm und dem Drittbeschuldigten (Ga*) und dem Viertbeschuldigten (Gu*) zu einer tätlichen Auseinandersetzung" kam (AS 126).
Damit ging das Erstgericht, das an anderer Stelle (AS 127) die Auseinandersetzung als "Rauferei" charakterisierte, der Sache nach unzweifelhaft davon aus, daß sich die Genannten in ein Handgemenge einließen und es zu Tätlichkeiten kam, worunter nur ein auf einen Willensentschluß zurückgehendes, vom zumindest bedingten Vorsatz getragenes aktives Tun, einen anderen am Körper zu mißhandeln, zu verletzen oder an der Gesundheit zu schädigen, verstanden werden kann. Daher ist ‑ entgegen der Meinung der Generalprokuratur ‑ die Annahme eines vorsätzlichen Handelns dieser drei Beschuldigten durch das Berufungsgericht in den erstgerichtlichen Feststellungen gedeckt. Andererseits ergibt sich aus den oben wiedergegebenen Konstatierungen des Bezirksgerichtes Klagenfurt, daß die Beschuldigten Ga* und Gu* gemeinsam gegen Ing. H* vorgegangen sind und damit Mittäter bei dieser tätlichen Auseinandersetzung waren. Es genügt, daß die Täter bei der Ausführung der Tat mit spontan entstandenem gemeinsamen Vorsatz bewußt und gewollt zusammenwirken und ihr diesbezügliches Einverständnis konkludent zum Ausdruck kommt; einer vorherigen Verabredung bedarf es im allgemeinen (ausgenommen etwa den Fall des § 84 Abs 2 Z 2 StGB) nicht (Leukauf/Steininger, Komm3 § 12 RN 23). Konsequenz der Mittäterschaft ist aber, daß jeder den gesamten eingetretenen Erfolg ‑ soweit er vom gemeinsamen Vorsatz erfaßt ist ‑ zu verantworten hat (Leukauf/Steininger aaO RN 21).
Der Meinung der Generalprokuratur zuwider ging das Berufungsgericht auch mit Recht davon aus, daß die Verletzungen der Beschuldigten Ga* und Gu* dem Ing. H* zuzurechnen sind. Das Erstgericht führte zwar aus, daß weder festgestellt werden konnte, wer die ersten Tätlichkeiten setzte, noch wer wem welche Verletzungen zugefügt hat (S 126). Da aber nach den Konstatierungen des Erstgerichts an dieser Auseinandersetzung Ga* und Gu* (als Mittäter) einerseits und Ing. H* andererseits beteiligt waren, liegt es auf der Hand, daß die Verletzungen der beiden Erstgenannten dem Ing. H*, dessen körperliche Beschädigungen hinwieder den Beschuldigten Ga* und Gu* - infolge ihrer gemeinsamen Haftung als Mittäter ‑ zuzurechnen sind. Daß allenfalls auch der Beschuldigte S* (vgl Seite 126: "Schließlich stieg auch der Erstbeschuldigte aus dem Auto aus, um dem Zweitbeschuldigten zu Hilfe zu kommen") den Beschuldigten Ga* und Gu* Verletzungen zugefügt haben könnte, hindert den Schuldspruch des Ing. H* nicht, weil dieser dafür als Mittäter mit S* nach den oben angeführten Grundsätzen haften würde.
Das Berufungsgericht darf zwar nach Aufhebung eines freisprechenden Urteils ‑ aus welchen Gründen immer ‑ nur dann in der Sache selbst entscheiden, wenn es im Urteil die Tatsachen, die bei richtiger Anwendung des Gesetzes dem Erkenntnis zugrunde zu legen wären, nach einem mängelfreien Verfahren mit unbedenklicher Begründung festgestellt findet (siehe SSt 37/22, 51/2 = RZ 1980/21, 12 Os 61,62/70, 9 Os 118/79, 10 Os 172/90). Andernfalls muß es ‑ von dem im § 470 Z 3 StPO geregelten Fall abgesehen ‑ in der Berufungsverhandlung, die den Charakter einer neuen, mit erhöhten Garantien für die Ermittlung der Wahrheit und des Rechts ausgestatteten Hauptverhandlung hat (siehe EvBl 1981/177 = JBl 1981,445, Foregger‑Serini 4, Erl III zu § 46 StPO), den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gemäß, das vom Erstgericht durchgeführte Beweisverfahren wiederholen und/oder ergänzen (so 9 Os 118/79). Dies ergibt sich schon aus der Erwägung, daß eine Prozeßpartei, die durch die Entscheidung erster Instanz nicht beschwert wurde und daher kein Anfechtungsrecht hatte, nicht schlechter gestellt werden darf als jene Prozeßpartei, gegen die schon in erster Instanz ein (schuldigsprechendes) Urteil ergangen ist und die daher in der Lage war, eine Verfahrens‑ und Mängelrüge zu erheben (siehe SSt 37/22). Nur so kommt das Gericht seiner im § 3 StPO niedergelegten Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit nach (vgl neuerlich EvBl 1981/177 = JBl 1981,445, zuletzt 11 Os 37/92).
Eine solche Gesetzesverletzung formeller Natur wird aber von der Generalprokuratur gar nicht releviert und bildet demnach nicht Gegenstand der Beschwerde. Im übrigen ist dem Urteil des Bezirksgerichtes Klagenfurt zwar zu entnehmen, daß "beide Seiten behaupteten, von der jeweils 'anderen Seite' zuerst angegriffen worden zu sein und sich allenfalls zur Wehr gesetzt zu haben" (AS 128). Da eine solche tätliche Auseinandersetzung (Rauferei) begriffsnotwendig aus einer Aufeinanderfolge wechselseitiger Angriffs‑ und Abwehrhandlungen besteht, kommt Notwehr nur ausnahmsweise in Betracht, und zwar bei einer einseitigen unangemessenen Eskalation der Auseinandersetzung durch inadäquaten Waffengebrauch des Gegners oder bei bereits eingetretener Wehrlosigkeit des Täters bzw. Beendigung der Tätlichkeiten seinerseits aus anderen Gründen (vgl Leukauf/Steininger, Komm3, § 3 RN 84). Aus den Akten ergeben sich dafür allerdings keine Anhaltspunkte, weswegen sich das Berufungsgericht mit dieser Frage nicht auseinandersetzen mußte.
Ebensowenig wurde von der Generalprokuratur eine Gesetzesverletzung darin erblickt und geltend gemacht, daß auf Grund der vom Bezirksgericht getroffenen Feststellungen ein Schuldspruch lediglich nach dem § 83 Abs 2 StGB gerechtfertigt gewesen wäre. Angesichts der Gleichwertigkeit dieses Tatbestandes mit jenem des Abs 1 dieser Gesetzesstelle in bezug auf die Strafsanktion ist dieser Aspekt aber mangels einer Anwendung des Strafgesetzes zum Nachteil der Angeklagten (§ 290 Abs 1 StPO) jedenfalls ohne Bedeutung.
Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher zu verwerfen.
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