OGH 10ObS251/92

OGH10ObS251/9213.10.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Fendrich (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Helene K*****, vertreten durch Dr.Alexander Grohmann, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter (Landesstelle Wien), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22.Juni 1992, GZ 34 Rs 80/92-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2.September 1991, GZ 14 Cgs 204/90-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil der ersten Instanz wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin binnen vierzehn Tagen die einschließlich 503,04 S Umsatzsteuer mit 3.018,24 S bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung und die einschließlich 603,84 S Umsatzsteuer mit 3.623,04 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin vom 18.September 1990 an einen Hilfslosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

Nach den Feststellungen besteht bei der am 15.August 1939 geborenen Klägerin infolge einer Einschränkung der Sprung- und Hüftgelenke eine Gangstörung. Sie kann sich nicht bücken. Seitbeugungen sind nur wenige Grade möglich, so daß dies einer praktischen Unbeweglichkeit gleichkommt. Das rechte Schultergelenk ist ebenfalls eingeschränkt. Die Klägerin kann sich mit Ausnahme der Strümpfe und Schuhe selbständig an- und auskleiden und sich waschen, sie kann die Toilette aufsuchen, die Wohnung durch oberflächliche Reinigung im Handniveau instand halten, einfache Speisen zubereiten und die kleine Leibwäsche waschen. Sie ist jedoch nicht mehr in der Lage, die Wohnung gründlich zu säubern und regelmäßig Nahrungsmittel einzuholen und benötigt für das Großreinemachen und Fensterputzen Hilfe. Nur bei normalen Witterungsbedingungen kann sie mit Unterbrechungen höchstens 300 m gehen.

Wegen dieser Behinderungen nahm das Erstgericht nach seiner Lebenserfahrung an, daß die Klägerin pro Monat durchschnittlich 34 Stunden eine Hilfskraft beanspruchen müsse, deren Stundenlohn mindestens 90 S betrage. Dabei setzte es für das An- und Ausziehen von Schuhen und Strümpfen täglich mindestens zweimal 20 Minuten (monatlich 20 Stunden), für die gründliche Wohnungsreinigung einmal wöchentlich 1 Stunde (monatlich 4 Stunden), für die Reinigung der großen Wäsche, der Kleidung und der Schuhe jede zweite Woche 1 Stunde (monatlich 2 Stunden), für das Einholen von Nahrungsmitteln in größerem Umfang jede zweite Woche 1 Stunde (monatlich 2 Stunden) und für den Einkauf sämtlicher Lebensmittel in den Wintermonaten und sonst bei schlechten Witterungsbedingungen im Jahresdurchschnitt wöchentlich 1,5 Stunden (monatlich 6 Stunden) an.

Weil die mit mindestens 3.060 S anzunehmenden monatlichen Kosten einer Hilfskraft den "mittleren" Hilflosenzuschuß überstiegen, - die Klägerin könnte nur das Mindestausmaß des Hilflosenzuschusses erhalten, das in der zweiten Hälfte des Jahres 1990 2.644 S, im Jahre 1991 2.776 S betrug - gebühre der Klägerin nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes ein Hilfslosenzuschuß.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei Folge und wies die Klage ab.

Nach Meinung der zweiten Instanz könnte die Klägerin unter Verwendung eines langstieligen Schuhlöffels Schlüpfschuhe anziehen und allein ausziehen. Deshalb sei der monatliche Zeitaufwand einer Hilfskraft nur mit 30 Stunden anzunehmen. Die diesbezüglichen monatlichen Kosten lägen daher bei einem realistischen Stundenlohn von 80 S beträchtlich unter dem monatlichen Durchschnitt des Hilflosenzuschusses.

Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit dem Anrag, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg.cit. zulässige Revision ist berechtigt.

Das Berufungsgericht hat - diesbezüglich in Übereinstimmung mit den erstgerichtlichen Feststellungen - zutreffend hervorgehoben, daß die Klägerin in einem sehr hohen Maß in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt ist, das "praktischer Unbeweglichkeit" entspricht. In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige für Chirurgie in seinem schriftlichen Befund (ON 8 AS 15) u.a. festgehalten, daß Seitbeugen und Torsion (Drehung) der Wirbelsäule nur wenige Grade durchführbar, Vorbeugen überhaupt nicht möglich ist. Die Klägerin fällt (beim Vorbeugen) um und muß gehalten werden. Das rechte Schultergelenk und das rechte Hüftgelenk sind zu 2/3 schmerzhaft eingeschränkt. Die Klägerin trägt am rechten Bein eine Peronäusschiene, ihr rechtes Sprunggelenk ist unbeweglich. In der mündlichen Ergänzung seines Gutachtens (ON 11 AS 22) hat dieser Sachverständige deshalb von einer praktischen Unbeweglichkeit gesprochen.

Unter diesen Umständen wurde der Hilfsbedarf der Klägerin zu gering eingeschätzt.

Berücksichtigt man nämlich, daß die Klägerin nur mehr oberflächliche Reinigungsarbeiten im Hand(Tisch)niveau durchführen kann und daher nicht nur zur gründlichen Wohnungsreinigung, sondern zu allen Reinigungsarbeiten über und unter Tischniveau Hilfe braucht, dann reicht dafür - entgegen der Meinung des Erstgerichtes - eine Stunde pro Woche nicht aus.

Auch für die über die noch mögliche Reinigung der kleinen Leibwäsche hinausgehenden Wäsche-, Kleider- und Schuhreinigungsarbeiten wird nicht nur jede zweite Woche eine Stunde aufgewendet werden müssen.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf Bedacht zu nehmen, daß die Klägerin wegen ihrer praktischen Unbeweglichkeit nicht nur viele Wohnungsreinigungsarbeiten nicht mehr ausführen kann, sondern auch zu einigen anderen Haushaltsarbeiten kaum mehr imstande sein wird, zB zum Her- und Wegräumen von nicht in Tischniveau aufbewahrtem Geschirr und Speisezutaten und zum Bettenmachen.

Unter weiterer Berücksichtigung der auch vom Berufungsgericht für notwendig erachteten täglichen zweimaligen teilweisen Hilfe beim Anziehen, wobei wegen der jedenfalls notwendigen Hilfe beim Anziehen der Strümpfe die mögliche Verwendung eines langen Schuhlöffels beim Anziehen von Schlüpfschuhen kaum zeitmindernd ins Gewicht fällt, und der weitgehenden Hilfe beim Einholen der Lebensmittel und sonstigen Bedarfsgegenstände ergibt sich daher sogar ein höherer Zeitaufwand, als vom Erstgericht angenommen wurde. Selbst unter Zugrundelegung des vom Berufungsgericht in Übereinstimmung mit den Berufungsausführungen angenommenen durchaus realistischen Stundenlohnes einer Hilfskraft von 80 S ergibt sich daher insgesamt ein monatlicher Mehraufwand, der den begehrten Hilflosenzuschuß erreicht.

Deshalb ist die Klägerin nach der ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates hilflos iS des § 105 a Abs 1 ASVG, so daß ihr nach der zit. Gesetzesstelle zur Pension ein Hilflosenzuschuß gebührt.

Das angefochtene Urteil war daher durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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