OGH 1Ob592/92

OGH1Ob592/9225.8.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Daniela P*****, geboren am 17. Juni 1981, infolge Revisionsrekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten als Rekursgerichtes vom 4. März 1992, GZ R 192/92-61, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St. Pölten vom 7. Februar 1992, GZ 2 P 48/91-58, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluß des Gerichtes zweiter Instanz wird dahin abgeändert, daß der erstgerichtliche Beschluß in seinem ersten Absatz wiederhergestellt wird.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern der Minderjährigen wurde am 21. Oktober 1986 gemäß § 55 a EheG geschieden. Mit dem pflegschaftsgerichtlich genehmigten Scheidungsfolgenvergleich einigten sich die Eltern auf die Obsorge durch die Mutter; der Vater verpflichtete sich zu monatlichen Unterhaltsleistungen von S 2.000,-- ab 1. Oktober 1986. Am 24. Februar 1991 starb die Mutter. Am 22. März 1991 übergab der Vater die Minderjährige seiner Schwester in Pflege und Erziehung, weil er außerstande sei, das Kind zu betreuen. Mit Beschluß vom 15. April 1991 wurden der Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse von monatlich S 2.000,-- gewährt. Mit Beschluß vom 30. September 1991 übertrug das Pflegschaftsgericht über Anregung durch den zum Sachwalter gemäß § 213 ABGB bestellten Magistrat der Landeshauptstadt St. Pölten die Obsorge für die Minderjährige an die Schwester des Vaters.

Dieser wurde auf deren Antrag gemäß § 28 Abs 3 iVm § 28 Abs 2 Z 3 NÖ.JWG ab 1. Jänner 1992 ein monatlicher Pflegebeitrag von S 3.350,-- (15mal jährlich) gewährt. Deshalb ordnete das Pflegschaftsgericht die Auszahlung der Unterhaltsvorschüsse ab 1. Februar 1992 an den Magistrat der Landeshauptstadt St. Pölten an.

Auf Antrag des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien stellte das Erstgericht jedoch die Unterhaltsvorschüsse mit Wirkung vom 31. Dezember 1991 ein, weil der Pflegeperson für das Kind aus Mitteln der Jugendwohlfahrtspflege ein Pflegebeitrag ausbezahlt werde; es widerspreche den Intentionen des Gesetzes, würde dieser Aufwand auf den Bund überwälzt.

Das Gericht zweiter Instanz wies den Antrag des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien ab und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Der Unterhaltsvorschuß wäre gemäß § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG einzustellen, wäre die Unterbringung der Minderjährigen bei deren Tante eine Maßnahme der vollen Erziehung nach öffentlichem Jugendwohlfahrtsrecht. Gemäß § 28 JWG gehöre zur vollen Erziehung unter anderem die Pflege und Erziehung des Minderjährigen in einer Pflegefamilie, sofern das Kind vom Jugendwohlfahrtsträger aus dessen bisheriger Umgebung entfernt werde. Hier sei die Unterbringung bei der Tante von den Angehörigen veranlaßt und vom Jugendwohlfahrtsträger bloß befürwortet worden, so daß von einer Maßnahme der vollen Erziehung im Sinne des § 28 JWG nicht gesprochen werden könne und daher auch nicht der Einstellungsgrund des § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG vorliege. Wohl sei es Zweck des § 2 Abs 2 Z 2 UVG, die Überwälzung von Kosten der Unterbringung des Kindes bei Pflegeeltern oder in Heimen vom Jugendwohlfahrtsträger auf den Bund zu verhindern. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut dürften die Unterhaltsvorschüsse aber nur im Falle einer Maßnahme der vollen Erziehung eingestellt werden; auch die Gewährung von Pflegebeiträgen aus öffentlichen Mitteln reiche zur Einstellung nicht aus. Gemäß § 28 NÖ.JWG diene der Pflegebeitrag der Erleichterung der mit der vollen Erziehung verbundenen Lasten; daraus sei ersichtlich, daß es sich um einen Anspruch der Pflegeeltern und nicht des Kindes handle. Mit diesem Beitrag werde somit der Unterhaltsanspruch des Kindes nicht gedeckt, so daß der Unterhaltsvorschuß nicht zum Ersatz des mit der Gewährung des Pflegebeitrages verbundenen Aufwands herangezogen werden dürfe.

Der vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien dagegen erhobene Revisionsrekurs ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 2 Abs 2 Z 2 UVG (idF des Kindschaftsrecht-Änderungsgesetzes) besteht ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nicht, wenn das Kind aufgrund einer Maßnahme der Sozialhilfe oder der vollen Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht unter anderem in einer Pflegefamilie untergebracht ist. Nach den Materialien zum Kindschaftsrecht-Änderungsgesetz (RV, 172 BlgNR 17.GP, 24) sollte die genannte Bestimmung mit der Neufassung bloß an die geänderte Terminologie des neuen Jugendwohlfahrtsrechtes angepaßt werden, ohne damit auch eine wesentliche inhaltliche Änderung zu erfahren. Die Regelung des § 2 Abs 2 Z 2 UVG (alter und damit auch neuer Fassung) soll nach dem Justizausschußbericht zum Stammgesetz (199 BlgNR 14.GP, 5) sicherstellen, daß die Kosten der Unterbringung des Kindes in einem Heim oder bei Pflegeeltern nicht von den Trägern der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe, die diese Kosten nach der geltenden Rechtslage - zumindest vorerst - zu tragen haben, im Wege der Unterhaltsbevorschussung auf den Bund überwälzt werden.

Das Gericht zweiter Instanz hat das Vorliegen des vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien ins Treffen geführten Einstellungsgrundes gemäß § 20 Abs 1 Z 4 lit a iVm § 2 Abs 2 Z 2 UVG deshalb verneint, weil der Jugendwohlfahrtsträger im vorliegenden Fall keine Maßnahme der vollen Erziehung getroffen habe; daran könne auch die Gewährung eines Pflegebeitrages nichts ändern. Dieser Argumentation kann indessen nicht beigepflichtet werden:

Wie der Revisionsrekurswerber zutreffend ausführt, gehört gemäß § 28 Abs 1 JWG u.a. die Pflege und Erziehung des Minderjährigen in einer Pflegefamilie zur vollen Erziehung. Diese volle Erziehung wird der Minderjährigen bei deren Tante auch zuteil. Diese Maßnahme leitete zwar deren Vater, der seither unbekannten Aufenthaltes ist, dadurch ein, daß er das Mädchen nach dem Tod der Mutter seiner Schwester zur Pflege und Erziehung übergab und diese sich dazu auch bereit fand; die Durchführung dieser Maßnahme war aber nur möglich, weil sie das zuständige Organ des Jugendwohlfahrtsträgers befürwortete und daran mitwirkte.

Mag es auch zweifelhaft sein, ob schon die Veranlassung der vollen Erziehung der Minderjährigen (durch deren Tante) als Maßnahme nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht im Sinne des § 2 Abs 2 Z 2 UVG anzusehen ist; die volle Erziehung wurde aber jedenfalls mit der Bewilligung des Pflegebeitrages an die Pflegeperson, die darauf einen gesetzlichen Anspruch hatte, auf die Grundlage des öffentlichen Jugendwohlfahrtsrechtes gestellt, zumindest seit diesem Zeitpunkt ist das Pflegeverhältnis als „Maßnahme der vollen Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht“ im Sinne des § 2 Abs 2 Z 2 UVG zu beurteilen oder einer solchen Maßnahme wenigstens rechtlich gleichzuhalten. Vor allem kann es - entgegen der Auffassung des Rekursgerichtes - keinen Unterschied machen, ob der Jugendwohlfahrtsträger, der für die Pflege und Erziehung des Mädchens nach dem Tod deren Mutter letztlich schon deshalb vorzusorgen hatte, weil dessen Vater unbekannten Aufenthalts ist, bloß die Bemühungen von Angehörigen gutheißt oder selbst durch entsprechende Verfügungen eingreift. Daß dem so ist, kommt nicht zuletzt auch in der Regelung des gesetzlichen Anspruchs auf den Pflegebeitrag im § 28 NÖ.JWG deutlich zum Ausdruck.

In Ausführung des § 21 JWG ordnet § 28 Abs 1 NÖ.JWG an, daß Pflegeeltern (Pflegepersonen) vom Land auf Antrag zur Erleichterung der mit der Durchführung der vollen Erziehung verbundenen Lasten einen monatlichen Pflegebeitrag erhalten. Dieser Antrag ist zu bewilligen, wenn entweder eine Pflegebewilligung erteilt oder das Pflegeverhältnis durch die Bezirksverwaltungsbehörde begründet wurde oder das Gericht - wie das im vorliegenden Fall zutrifft - den Pflegeeltern (bzw der Pflegeperson) das Erziehungsrecht übertragen hat (Abs 2). Diese Regelung gilt sinngemäß, wenn der Minderjährige von Personen, die mit ihm - wie hier die Tante - bis zum dritten Grad verwandt (oder verschwägert) sind, oder vom Vormund in volle Erziehung übernommen wurde (Abs 3). Das Gesetz selbst hält die Übernahme der vollen Erziehung durch nahe Verwandte demnach der Begründung des Pflegeverhältnisses durch die Bezirksverwaltungsbehörde gleich; der Angehörige hat bei Übernahme des Minderjährigen in die volle Erziehung deshalb auch gegen den Jugendwohlfahrtsträger dieselben Ansprüche wie jene Pflegeeltern, mit denen dieser das Pflegeverhältnis erst begründet hat.

Zutreffend weist der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien auf die bei Bejahung der rekursgerichtlichen Auffassung in der Sache nicht zu rechtfertigende Besserstellung jener Pflegepersonen hin, die - als nahe Angehörige - selbst den Minderjährigen in volle Erziehung übernommen, nichts destoweniger aber Anspruch auf den Pflegebeitrag im Rahmen des öffentlichen Jugendwohlfahrtsrechtes haben: Sie würden - anders als Pflegepersonen, mit denen die Bezirksverwaltungsbehörde das Pflegeverhältnis etwa erst begründet hat - neben dem Pflegebeitrag auch noch den Unterhaltsvorschuß erhalten. Wäre der Vorschuß darüber hinaus gar zum Rückersatz des Pflegebeitrags zu verwenden, wofür § 48 Abs 1 NÖ.JWG als gesetzliche Grundlage herangezogen werden könnte, käme es damit zu jener Überwälzung den den Ländern aufgebürdeten Lasten auf den Bund, zu deren Verhinderung der im § 2 Abs 2 Z 2 UVG verankerte Ausschluß des Anspruchs auf Unterhaltsvorschüsse angeordnet wurde.

Entgegen der Auffassung des Rekursgerichtes liegt demnach der im § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG vorgesehene Einstellungsgrund vor, weil mit der Bewilligung des Pflegebeitrags eine der Voraussetzungen für die Vorschußgewährung weggefallen ist.

Dieses Ergebnis steht auch mit der Entscheidung ÖA 1991, 22 nicht in Widerspruch: Auch dort wurde die Ansicht vertreten, daß die Kosten der Unterbringung des Kindes bei Pflegeeltern nicht auf den Bund überwälzt werden dürften; die Vorschüsse wurden nur deshalb gewährt, weil die Erteilung einer Pflegebewilligung gemäß § 16 JWG noch nicht die Pflicht des Jugendwohlfahrtsträgers auslöse, für das Pflegegeld aufzukommen. Der dort zu beurteilende Sachverhalt betraf ein vom Jugendwohlfahrtsträger in Tirol noch nach den Bestimmungen des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1954 bewilligten Pflegeverhältnisses in einer Zeit noch vor Inkrafttreten des Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetzes 1991. Im vorliegenden Fall mußte der Jugendwohlfahrtsträger dagegen gemäß § 28 Abs 3 NÖ.JWG den Pflegebeitrag bewilligen, so daß im vorliegenden Fall von einer in wesentlichen Punkten unterschiedlichen Sach- und Rechtslage auszugehen ist.

Ist der ins Treffen geführte Einstellungsgrund zu bejahen, so ist der erstinstanzliche Beschluß, soweit er abgeändert wurde, in Stattgebung des Revisionsrekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien wieder herzustellen.

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