OGH 4Nd513/90

OGH4Nd513/9020.11.1990

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr.Friedl als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith, Dr. Kodek, Dr. Niederreiter und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Markus S***, geb. am 15. August 1976, infolge Anzeige des Bezirksgerichtes Hietzing über einen Zuständigkeitsstreit mit dem Jugendgerichtshof Wien in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Minderjährige entstammt der mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 23. Oktober 1979, GZ 26 Cg 153/79-7, geschiedenen Ehe der Gertraud S*** und des Werner S***. In dem zu 3 P 210/79 des Bezirksgerichtes Hietzing eröffneten Pflegschaftsverfahren wurde mit Beschluß vom 17. Jänner 1980, ON 3, Punkt 6 des von den Eltern im Scheidungsverfahren am 23. Oktober 1979 geschlossenen Vergleiches pflegschaftsbehördlich genehmigt. Danach blieb der Sohn in Pflege und Erziehung der Mutter, welcher die elterlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) allein zustehen sollten; der Vater war für den Sohn zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von 1.000 S ab 1. November 1979 verpflichtet. Mit Beschluß vom 26. Jänner 1981, ON 8, wurde das Bezirksjugendamt für den 13./14. Bezirk zum besonderen Sachwalter für die Einhebung des Unterhalts bestellt. Auf dessen Antrag wurden am 16. März 1981 Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG bewilligt (ON 9). Mit Beschluß vom 28. Juli 1982, ON 19, wurde der Vater ab 1. September 1982 zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von 1.450 S verpflichtet. Im Rahmen des Verfahrens nach dem UVG langte am 10. September 1982 beim Pflegschaftsgericht die Mitteilung des Einhebungskurators ein, daß sich der Minderjährige "seit 3.9.1982 in Pflege der Stadt Wien befinde". Daraufhin wurden die Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des 30. September 1982 eingestellt (ON 23).

Am 2. Juli 1990 stellte das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger den Antrag, die Mutter ab 1. Juli 1990 zu einer monatlichen Kostenersatzleistung von 1.800 S für die volle Erziehung des Minderjährigen zu verpflichten, weil der Sohn am 3. September 1982 auf Antrag der Mutter in volle Erziehung, derzeit in der "Stadt des Kindes", übernommen worden sei. Daraufhin sprach das Bezirksgericht Hietzing mit Beschluß vom 23. August 1990, ON 32, seine Unzuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache aus und überwies diese zugleich "dem offenbar zuständigen Jugendgerichtshof Wien gemäß § 23 Abs 1 Z 1 lit a JGG 1988". Der Akt mit vier Beschlußausfertigungen wurde sodann ohne jede weitere Zustellung dem Jugendgerichtshof Wien übermittelt. Dieser holte eine Stellungnahme des Magistrates der Stadt Wien, MA 11 - Amt für Jugend und Familie 4., 5. Bezirk, ein, wonach der Minderjährige am 3. September 1982 auf Wunsch der Mutter, welche damals in einer schweren persönlichen Krise war und die Erziehung der Kinder nicht mehr gewährleisten konnte, in Pflege und Erziehung der Stadt Wien im Heim "Stadt des Kindes" übernommen wurde. Seit damals befindet sich der Minderjährige im Heim und wird, da keinerlei Kontakt zur Mutter besteht, als "unbesuchtes Heimkind" geführt. Dem Amt für Jugend und Familie sind derzeit keine Gründe bekannt, die auf eine begründete Gefährdung der persönlichen Entwicklung des Minderjährigen schließen ließen (ON 34).

Mit dem nur in Urschrift ergangenen (handschriftlichen) Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien vom 29. Oktober 1990 wurde der Akt daraufhin dem Bezirksgericht Hietzing "unter Hinweis auf ON 34 rückabgetreten".

Rechtliche Beurteilung

Entgegen der Meinung des Bezirksgerichtes Hietzing sind die Voraussetzungen für die Entscheidung des von ihm angezeigten negativen Kompetenzkonfliktes im Sinne des § 47 Abs 1 JN nicht gegeben, mangelt es doch noch an entsprechenden, in Rechtskraft erwachsenen oder unanfechtbaren Zuständigkeitsentscheidungen zweier konkurrierender Gerichte (Fasching, Zivilprozeßrecht2 Rz 240; RZ 1962, 139; EvBl 1965/131; EvBl 1971/9; EFSlg 29.883, 32.293 ua, zuletzt etwa 4 Nd 508/90). Beide Beschlüsse sind anfechtbar, wurden aber bisher den Beteiligten nicht zugestellt; auch ein die Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien verneinender Beschluß liegt bisher nicht vor. Schon aus diesem Grund mußte der Antrag des Bezirksgerichtes Hietzing mangels der Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 47 Abs 1 JN zurückgewiesen werden. Im gegebenen Zusammenhang ist aber auch darauf hinzuweisen, daß der Oberste Gerichtshof zur Entscheidung dieses - noch nicht spruchreifen - negativen Kompetenzkonfliktes keinesfalls zuständig ist:

Gemäß § 23 Z 1 lit a JGG 1988 ist der Jugendgerichtshof Wien für die Sprengel der in Wien gelegenen Bezirksgerichte zur Ausübung der Vormundschafts- und Pflegschaftsgerichtsbarkeit über Minderjährige, bei denen aus einem bestimmten Anlaß eine Gefährdung der persönlichen Entwicklung zu besorgen ist, ausschließlich berufen. Anknüpfungspunkt ist daher nicht mehr, wie in § 22 Abs 1 Z 2 lit a JGG 1961, der Erziehungsnotstand, sondern die aus einem bestimmten Anlaß zu besorgende Entwicklungsgefährdung (Jesionek-Held, JGG 1988, 84 Z 4 zu § 23). Schon zu der erwähnten Vorgängerbestimmung war aber in der Rechtsprechung unbestritten gewesen, daß das Auftreten eines konkreten Erziehungsnotstandes im Zuge eines vor einem Wiener Pflegschaftsgericht bereits anhängigen Verfahrens der Zuständigkeit des Jugendgerichtshofes Wien nicht entgegensteht, weil § 29 JN in diesem Zusammenhang keine Anwendung findet (SZ 38/48; 3 Ob 629/85); auch das in § 111 JN vorgesehene Verfahren ist dabei nicht einzuhalten (6 Ob 98/63). Wird in einem Vormunschafts-(Pflegschafts-)verfahren vor einem Wiener Bezirksgericht eine zu besorgende Entwicklungsgefährdung des Mündels (Pflegebefohlenen) festgestellt, dann ist dieses Verfahren von Amts wegen gemäß § 23 Z 1 lit a JGG 1988 dem Jugendgerichtshof zur Übernahme und Weiterführung abzutreten (§ 44 JN; 6 Ob 98/63). Bei divergierenden Ansichten der betroffenen Gerichte über die Frage ihrer Zuständigkeit gelten daher die Grundsätze für die Lösung positiver oder negativer Kompetenzkonflikte (Kießwetter in ÖJZ 1967, 256 ff [258]).

Gemäß § 47 Abs 1 JN sind aber Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gerichten erster Instanz über die Zuständigkeit für eine bestimmte Rechtssache von dem diesen Gerichten zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gericht zu entscheiden. Darunter ist das organisatorisch unmittelbar übergeordnete Gericht ohne Rücksicht darauf zu verstehen, ob ihm in der Hauptsache selbst eine Entscheidungsbefugnis zukommt oder nicht (SZ 29/23; RZ 1978/125; 4 Nd 1/85; 4 Nd 3/85; 14 Nd 4/87 ua; aM Fasching, Kommentar I 292). Daraus folgt - selbst wenn im vorliegenden Fall die oben erwähnten sonstigen Voraussetzungen des § 47 Abs 1 JN bereits gegeben wären - die Zuständigkeit des Oberlandesgerichtes Wien zur Entscheidung über den Kompetenzkonflikt.

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