OGH 10ObS310/90

OGH10ObS310/9025.9.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Göstl (Arbeitgeber) und Walter Hartl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Walter B***, 2700 Wr. Neustadt,

Grubengasse 13/3, vertreten durch Dr. Hilde Domberger, Rechtsanwalt in Mödling, wider die beklagte Partei P***

DER A*** (Landesstelle Wien), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20.April 1990, GZ 33 Rs 60/90-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wr. Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28.November 1989, GZ 4 Cgs 208/89-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 3.Juli 1989 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag des Klägers vom 4.4.1989 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab. Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1989 gerichtete Klagebegehren ab. Es legte seiner Entscheidung nachstehenden Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger kann noch alle leichten und mittelschweren Arbeiten im Gehen, Sitzen und Stehen während der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen verrichten. Ausgeschlossen sind Arbeiten, die ein Abspreizen des linken Armes über 70 Grad erfordern, Arbeiten in der Hocke, im Knien und in überwiegend gebückter Haltung sowie Arbeiten auf Leitern und Gerüsten. Vermieden werden sollten Arbeiten, bei denen die Maschine das Tempo vorgibt. Aufsichtstätigkeiten sind ihm grundsätzlich zumutbar, es sei denn, er müßte alternierend immer mehrere Beobachtungstätigkeiten (auf Bildschirmen und/oder Apparaturen) ausüben. Längere als die üblichen Krankenstände sind nicht zu erwarten, wenn er in geschlossenen Räumen arbeiten kann und keine Schwerarbeit verrichten muß. Nach einer Gehstrecke von einem Kilometer muß er die Möglichkeit haben, kurzfristig zu stehen. Der Kläger kann öffentliche Verkehrsmittel (Autobus, Straßenbahn, Bahn) nur mit Mühe betreten, weil er sich beim Einsteigen nur mit der rechten Hand entsprechend aufziehen und abstützen kann. In öffentlichen Verkehrsmitteln sollte er einen Sitzplatz erhalten, weil er sich nur mit dem rechten Arm entsprechend anhalten kann. Der Kläger erlernte keinen Beruf und war immer als Hilfsarbeiter tätig. Eine Person mit dem medizinischen Leistungskalkül des Klägers kann auf Tätigkeiten als Aufseher in Museen, Ausstellungen, Messen, Versteigerungshäusern udgl., als Portier, Arbeiter an Kleinmaschinen (Prägen, Pressen und Stanzen), als Abservierer in Selbstbedienungsrestaurants usw verwiesen werden.

Bei dieser Sachlage folgerte das Erstgericht, daß der Kläger, der das 55. Lebensjahr noch nicht erreicht habe und auch keinen Berufsschutz genieße, sich auf alle ihm zumutbaren Tätigkeiten verweisen lassen müsse, von denen es noch zahlreiche gebe. Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung nicht Folge. Der Kläger sei nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, weil er nach den Feststellungen Anmarschwege von 1 km ohne Unterbrechung zurücklegen und auch öffentliche Verkehrsmittel benützen könne. Er sei daher nicht als invalid gemäß § 255 Abs. 3 ASVG anzusehen. Die gegen dieses Urteil vom Kläger erhobene Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, wonach der Kläger vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen ist, weil er nach dem festgestellten Leistungskalkül Anmarschwege von einem Kilometer ohne Unterbrechung zurücklegen und auch öffentliche Verkehrsmittel benützen kann, ist zutreffend und entspricht auch der höchstgerichtlichen Judikatur (§ 48 ASGG; SSV-NF 2/105 und 3/10). Daß sich der Kläger beim Einsteigen in einen Autobus oder eine Straßenbahn nur mit der rechten Hand entsprechend aufziehen und abstützen kann, bedeutet nach den Erfahrungen des täglichen Lebens keine wesentliche Einschränkung in der Fähigkeit, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen. Dazu bedurfte es auch nicht der vom Revisionswerber vermißten Feststellungen über die Ausstattung von Straßenbahnen und Autobussen. Auch beim Besteigen von Eisenbahnwaggons ist es nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht erforderlich, sich mit beiden Händen aufzuziehen und abzustützen. Wäre die Argumentation des Revisionswerbers zutreffend, dann wären alle Einarmigen vom öffentlichen Verkehr ausgeschlossen, was aber keineswegs der Fall ist. Auch während des Fahrens reicht es im allgemeinen aus, sich mit einer Hand entsprechend anzuhalten; im übrigen ist für die Bereitstellung von Sitzplätzen für Behinderte in öffentlichen Verkehrsmitteln Vorsorge getroffen (SSV-NF 3/10). Zutreffend macht der Kläger jedoch geltend, daß der Inhalt seiner Berufstätigkeit ungeprüft blieb. Die beklagte Partei selbst hat in ihrer Klagebeantwortung vorgebracht, daß der Kläger in den letzten 15 Jahren als Eisenbieger tätig war; dieses Vorbringen stimmt mit dem aus dem Anstaltsakt ersichtlichen Versicherungsverlauf überein. Über die berufliche Qualifikation wird damit keine Aussage getroffen. Ohne die Frage, welche Tätigkeiten der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag tatsächlich ausgeübt hat, mit den Parteien zu erörtern und ohne jede Beweisaufnahme stellte das Erstgericht fest, daß der Kläger bisher immer als Hilfsarbeiter tätig gewesen sei. Wohl wurde erstmalig in der Revision konkret ausgeführt, daß der Kläger einer qualfizierten Beschäftigung nachgegangen sei, doch kann darin ein Verstoß gegen das im Rechtsmittelverfahren herrschende Neuerungsverbot nicht erblickt werden. Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozeßvorbringens hierüber keine Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluß gezogen werden kann, daß der Kläger als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht auf Grund der Bestimmung des § 87 Abs. 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen (SSV-NF 3/136).

Nun hat im vorliegenden Fall das Erstgericht festgestellt, daß der Kläger als Hilfsarbeiter tätig war; das Berufungsgericht hat diese Feststellung mangels ausdrücklicher Anfechtung durch den Kläger in seiner Berufung übernommen. Sowohl nach dem Inhalt des Anstaltsaktes wie nach dem Vorbringen der beklagten Partei war der Kläger allerdings als Eisenbieger beschäftigt. Bei dieser Sachlage reicht die Feststellung, der Kläger sei als Hilfsarbeiter tätig gewesen, nicht aus. Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, daß ein Versicherter eine angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der Hilfsarbeitertätigkeiten, weil schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auch für jeden juristisch nicht Geschulten unter "Hilfsarbeiter" ein Arbeiter ohne besondere Qualifikation verstanden wird, also ein Arbeiter, der keine besondere Ausbildung besitzt und auch nicht angelernt ist (SSV-NF 3/46 mwN).

Rechtliche Beurteilung

Die Frage, ob der Kläger als Eisenbieger Berufsschutz genießt, kann mangels jeglicher Feststellungen über Art und Umfang der ausgeübten Tätigkeit nicht beantwortet werden. Dieser Frage könnte jedoch im vorliegenden Fall relevante Bedeutung zukommen, da es sich bei der Tätigkeit eines Eisenbiegers um eine anstrengende körperliche Arbeit handelt, die offenbar - genauer müßte dies noch geprüft werden - mit dem Leistungskalkül des Klägers nicht vereinbar wäre (vgl Berufslexikon Bd II "Ausgewählte Berufe" 127, Stichwort "Eisenbieger"). In dieser Richtung erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig. Insbesondere wird auch ein berufskundliches Sachverständigengutachten einzuholen sein. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war auch das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und die Sozialrechtssache an dieses zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.

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