Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung
Die Klägerin begehrt, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihr eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem dem Erlöschen der Gewerbeberechtigung folgenden Monatsersten zuzuerkennen und die fällig werdenden Beträge nachzuzahlen. Das Erstgericht gab diesem Klagebegehren statt. Es stellte fest, daß die am 30.September 1934 geborene Klägerin durchgehend als selbständige Gastwirtin in Leopoldsdorf, Rathausplatz 2, gearbeitet hat. Sie leidet vor allem an einer schweren Coxarthrose mit hochgradigen Bewegungseinschränkungen, an einer Beinverkürzung links mit deutlicher Gangstörung und Gangbehinderung. Sie ist nur mehr für leichte Arbeiten, ausschließlich im Sitzen, bei normalen Arbeitszeiten und den üblichen Unterbrechungen geeignet, gelegentliches Herumgehen und Stehen ist möglich. Die Anmarschwege sind auf 800 m pro Wegstrecke bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel beschränkt. Die Wohnadresse der Klägerin liegt 1 km vom nächsten Bahnhof entfernt, eine Autobusverbindung besteht nur an Wochentagen einmal täglich, eine Schnellbahnverbindung besteht nicht. Die Klägerin ist nicht in der Lage, in einen Zug einzusteigen, sie kann auch nicht selbst mit einem Auto fahren, da sie die Kupplung nicht bedienen kann. Mit einer Verschlechterung des Zustandes muß gerechnet werden.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, die Klägerin könne zwar noch leichte Arbeiten im Sitzen ausführen, eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt komme aber nicht in Betracht, weil sie auf Grund ihrer stark eingeschränkten Bewegungsmöglichkeit nicht in der Lage sei, Anmarschwege von ihrem Wohnort zu ihrer etwaigen Arbeitsstätte zurückzulege. Sie sie daher erwerbsunfähig im Sinne des § 133 Abs 1 GSVG.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß es feststellte, daß die Klägerin erwerbsunfähig sei, das Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, der Klägerin ab dem Erlöschen (des) der Gewerbeberechtigung folgenden Monatsersten, eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen, jedoch abwies.
Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sei unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer Untersuchung des Institutes für Raumplanung über die "Erreichbarkeitsverhältnisse im Individual- und öffentlichen Verkehr in Österreich" ein Versicherter so lange vom allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher und nachher ohne unzumutbare Pausen und mit angemessener Geschwindigkeit eine Wegstrecke von jeweils zumindest 500 m zu Fuß zurücklegen könne, weil an ihn dabei keine höheren Anforderungen als an den überwiegenden Teil der Berufstätigen Österreichs gestellt würden. Ohne weitere Ergänzung des Sachverhaltes, ob der Klägerin ein Übersiedeln oder Wochenpendeln zumutbar sei und über die Dauer der offenbar absehbaren Kankenstände ergebe sich schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung, daß die mangelnde Möglichkeit, in einen Zug einzusteigen, auch das Einsteigen in andere städtische öffentliche Verkehrsmittel, wie unter anderem Autobus und Straßenbahn ausschließe, weil in gleicher Weise das Bewältigen zumindest einer Trittstufe erforderlich sei. Es sei davon auszugehen, daß der Sachverständige diese Umstände, die allgemein bekannt seien, berücksichtigt habe. Damit aber sei die Klägerin vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, weil eine zumutbare Wegstrecke von höchstens 800 m unter Berücksichtigung durchschnittlicher Verhältnisse nicht ausreiche, um von der Wohnung einen Arbeitsplatz ohne Zwischenschaltung öffentlicher Verkehrsmittel erreichen zu können. Der Anspruch auf eine Erwerbsunfähigkeitspension sei aber auch davon abhängig, daß gemäß § 130 Abs 2 GSVG die Berechtigung zur Ausübung des Gewerbes erloschen sei. Dies habe die Klägerin nicht einmal behauptet. Ein Klagebegehren, bei dem die Fälligkeit der Leistung unbestimmt sei, sei unzulässig. Dies trotz der im § 89 Abs 1 ASGG eingeräumten Möglichkeit, auch Leistungen aufzuerlegen, die erst nach Erlassung des Urteiles fällig werden, weil jedenfalls die Fälligkeit im konkreten Fall von einer Bedingung abhängig sei, bei deren Eintritt aber auch der Zeitpunkt völlig unbestimmt sei und von der Klägerin abhänge. Im Hinblick auf die in § 133 a GSVG eingeräumte Möglichkeit der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit bilde diese Feststellung gegenüber dem Leistungsbegehren ein Minus, dessen Zuspruch, weil er in einer bloß quantitativen Minderung der begehrten Rechtsfolge bestehe, zulässig sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der beklagten Partei ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Der chirurgische Sachverständige hat in seinem Gutachten ausgeführt, daß die Anmarschwege von 800 m pro Wegstrecke bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel beschränkt sind und in der mündlichen Erörterung dies nur dahingehend weiter eingeschränkt, daß die Klägerin keinen Zug besteigen und nicht autofahren kann. Bei dieser Sachlage durfte das Berufungsgericht nicht ohne weitere Aufklärung davon ausgehen, daß die Benützung jedes Verkehrsmittels, insbesondere von Autobussen, Straßenbahnen oder U-Bahnen ausgeschlossen ist, weil erfahrungsgemäß die Trittstufenhöhe bei Eisenbahnen erheblich höher sein kann als bei den übrigen Verkehrsmitteln und weil auch eine Einschränkung hinsichtlich der Möglichkeit des Stiegensteigens nicht erfolgte. Die beklagte Partei hat schon in ihrer Berufung darauf hingewiesen, daß die Unmöglichkeit, einen Zug zu besteigen, noch keinen Ausschluß vom Arbeitsmarkt darstelle und nicht geprüft sei, ob der Klägerin eine Übersiedlung medizinisch zugemutet werden könne. Da das Verweisungsfeld und die Anforderungen, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auch bezüglich der Erreichung des Arbeitsplatzes verbunden sind, an den Verhältnissen des gesamten Arbeitsmarktes bemessen werden, muß die Lage des Wohnortes im Einzelfall bei der Prüfung der Frage, ob Erwerbsunfähigkeit besteht, außer Betracht bleiben, soferne nicht medizinische Gründe gegen eine Verlegung des Wohnortes sprechen (SSV-NF 1/20). Da das medizinische Leistungskalkül zur Frage der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - und allenfalls der Möglichkeit einer Übersiedlung oder des Pendelns - nicht ausreichend formuliert ist, ist eine Verfahrensergänzung durch Ergänzung des chirurgischen Gutachtens im aufgezeigten Sinne erforderlich.
Nur wenn ein Arbeitsplatz so nicht erreicht werden könnte (vgl dazu SSV-NF 2/105), würde sich die Frage stellen, ob innerhalb eines Umkreises von 800 m vom Wohnort der Klägerin eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen in den möglichen Verweisungsberufen vorhanden ist. Es war daher wie im Spruch zu entscheiden.
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