OGH 1Ob647/89

OGH1Ob647/8911.10.1989

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Hofmann, Dr. Schlosser und Dr. Graf als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Matthias P***, geboren am 18. Februar 1981, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Brigitte P***, Köchin, St. Pölten, Unterwagramer Straße 45/3, gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten als Rekursgericht vom 27. Juli 1989, GZ R 423, 424/89-54, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St. Pölten vom 28. Juni 1989, GZ 2 P 77/86-49, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß der Antrag des Vaters, ihm alle aus § 144 ABGB erfließenden Rechte an dem mj. Matthias P*** einzuräumen, abgewiesen wird.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern wurde mit Beschluß des Bezirksgerichtes St. Pölten vom 18. März 1986, 2 Sch 15/86-3, einvernehmlich geschieden. Mit Vergleich vom selben Tag einigten sich die Eltern dahin, daß der Minderjährige in die alleinige Obsorge (§ 144 ABGB) der Mutter kommt. Dieser Vergleich wurde mit Beschluß des Erstgerichtes vom 11. Juni 1986, ON 4, pflegschaftsbehördlich genehmigt. In Pflege und Erziehung der Mutter befinden sich auch deren zwei 1972 und 1975 geborene Kinder aus erster Ehe. Im August 1987 übergab die Mutter das Kind der väterlichen Großmutter nach Kematen an der Ybbs in Pflege und Erziehung. Der im selben Haus wohnhafte Vater arbeitet ebenso wie der väterliche Großvater in Wien. Beide kommen nur an den Wochenenden nach Kematen an der Ybbs. Seit 26. Juni 1989 befindet sich das Kind wieder bei der Mutter in St. Pölten.

Der Vater stellte am 24. August 1988 den Antrag, ihm an dem Kind die Rechte und Pflichten nach § 144 ABGB einzuräumen. Der Minderjährige befinde sich ohnedies in seiner Pflege und Erziehung, er habe sich in Kematen an der Ybbs bestens integriert. Das Kind werde während der beruflichen Abwesenheit des Vaters von der väterlichen Großmutter versorgt.

Die Mutter erklärte sich zwar ursprünglich bereit, die Vormundschaft über das Kind an die väterliche Großmutter zu übertragen, später war sie nur mehr mit der Übertragung von Pflege und Erziehung an die väterliche Großmutter einverstanden. Der Übertragung der Obsorge an den Vater stimmte sie aber nie zu; der Vater lebe hauptsächlich in Wien, er sei ein Trinker. Es fehle auch jeder Anlaß, die Obsorge an den Vater zu übertragen. Sie habe vor, das Kind wieder in ihre Pflege zu nehmen. Sie habe nunmehr für die Pflege und Erziehung des Kindes die entsprechenden Voraussetzungen. Das Erstgericht entzog der Mutter alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj. Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten, das sind Pflege, Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung, und übertrug sie dem Vater. Der Mutter räumte es ein Besuchsrecht ein. Es stellte fest: Der Vater kümmere sich am Wochenende sehr gut um seinen Sohn, unternehme mit ihm viele Freizeitaktivitäten und teile mit ihm das Zimmer. Die Wohnverhältnisse in der Wohnung seien sehr ordentlich, es sei genug Platz für das Kind vorhanden. Im Ort wohnten auch einige Verwandte, zu denen das Kind guten Kontakt habe. Die Mutter wohne mit den Kindern aus erster Ehe sowie mit ihrem Lebensgefährten in einer Zwei-Zimmer-Küche-Wohnung in St. Pölten. Im familiären Bezugssystem finde man eine deutliche Präferenz des Kindes für den väterlichen Bereich. Die väterliche Großmutter stelle für den Minderjährigen eine starke Bezugs- und Vertrauensperson dar. Eine feste Bindung bestehe auch zum Vater, der sich in seiner Freizeit liebevoll und intensiv mit dem Kind beschäftige. Darüber hinaus habe das Kind auch starke Beziehungen zu weiteren väterlichen Verwandten sowie Freunden gebildet. Das Verhältnis des Kindes zu seiner Mutter und zu seinen Halbgeschwistern sei distanzierter. Das Kind fühle sich zwar zu seiner Mutter in einer gewissen Weise hingezogen, doch herrsche nicht so eine warme und intensive Gefühlsbeziehung wie zum Vater und den väterlichen Großeltern. Allerdings habe die väterliche Großmutter eine gewisse Spannungssituation aufgebaut.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, es entspreche dem Wohl des Kindes, in seiner gewohnten Umgebung aufzuwachsen, wo ihm die bestmögliche Erziehung und Obsorge geboten werde. Der Vater kümmere sich sehr um sein Kind, das Gericht habe keinen schädlichen Einfluß auf das Kind feststellen können.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Von der ursprünglich gemäß § 55 a EheG vereinbarten Regelung betreffend die Pflege und Erziehung könne abgegangen werden, wenn sich die Verhältnisse seit Vergleichsabschluß wesentlich verändert haben. Bei geänderten Verhältnissen habe das Pflegschaftsgericht neu zu entscheiden. Ein Wechsel der Pflege- und Erziehungsverhältnisse könne dann vorgenommen werden, wenn besonders wichtige Gründe eine Änderung geboten erscheinen ließen bzw. wenn aus besonderen Umständen eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes zu erwarten sei. Diese Voraussetzungen seien gegeben. Bei der Beurteilung erscheine es wesentlich, daß sich das Kind seit rund zwei Jahren bei der Familie seines Vaters in Kematen an der Ybbs befinde, wo es integriert sei und auch bleiben möchte. Der tragende Grundsatz der Kontinuität erfordere eine Beibehaltung dieses Aufenthaltes, welchem Zustand auch durch eine klare Regelung aller elterlichen Rechte und Pflichten Rechnung getragen werden müsse. Der Mutter mag durchaus zugestanden werden, daß sie keine liederliche Person und außerdem vollkommen gesund sei und ihr Leben in geordneten Bahnen verlaufe, doch müsse dies in gleicher Weise auch vom Vater gesagt werden. Wohl sei der ständigen Betreuung des Kindes durch die Mutter einer solchen durch die Stellvertreterin des Vaters prinzipiell der Vorzug zu geben; dies gelte aber nur bei Gleichwertigkeit der sonstigen Voraussetzungen und in aller Regel auch nur für Kleinkinder, die der Betreuung durch die Mutter im besonderen Maße bedürften. Berufsbedingte längerdauernde Abwesenheiten des Vaters sprächen dann nicht gegen eine Zuweisung der Elternrechte an ihn, wenn durch diese Abwesenheit zwischen dem Kind und ihm keine Entfremdung eintrete, das Kind in seinem Lebensrhythmus durch den Verbleib in der gewohnten Umgebung nicht beeinträchtigt werde und diese Abwesenheiten nicht so weit führten, daß der Vater seine Elternrechte faktisch nicht mehr wahrnehmen könne. Da der Vater seinen Elternrechten und Elternpflichten dem Kind gegenüber durch Zuhilfennahme seiner Mutter ausreichend nachkommen könne, sei eine Übertragung der Obsorge an den Vater und nicht an die Großmutter der Vorzug zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist berechtigt. Der Mutter steht auf Grund eines pflegschaftsbehördlich genehmigten gerichtlichen Vergleiches die Obsorge an dem Kind zu. Die einem Elternteil zuerkannten rein persönlichen Rechte aus dem Eltern- und Kindschaftsverhältnis dürfen aber nur dann auf den anderen Elternteil übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs. 1 ABGB vorliegen, es muß eine Gefährdung des Kindeswohles gegeben sein (EFSlg. 54.002, 51.277, 48.397, 48.395; SZ 51/136 uva:

Pichler in Rummel, ABGB, Rz 2 zu § 177). Eine Gefährdung des Kindeswohles liegt dann vor, wenn die elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt worden sind (EFSlg. 54.003, 43.322; SZ 53/142 uva; Pichler aaO Rz 1 zu § 176). Die Änderung der Obsorgeverhältnisse soll bei Anlegung strenger Maßstäbe eine äußerste Notmaßnahme sein (EFSlg. 55.644, 54.015, 51.274, 51.280, 48.398 uva). Maßnahmen nach § 176 ABGB sind nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die Erziehung bei einem Elternteil besser wäre als die an sich ordnungsgemäße bei dem anderen Elternteil (EFSlg. 51.284, 48.408); der Wunsch des Kindes kann für eine Änderung der Erziehungsverhältnisse allein nicht entscheidend sein (EFSlg. 51.301). Ein Verstoß gegen diese Grundprinzipien kann eine offenbare Gesetzwidrigkeit bilden (EFSlg. 55.644); ein solcher Fall liegt vor, wenn für eine solche Änderung keine besonders wichtigen, die Änderung rechtfertigenden Gründe vorliegen (EFSlg. 47.217).

Eine der Mutter vorwerfbare subjektive Vernachlässigung der Erziehung des Kindes wurde nicht festgestellt. Es kann aber auch nicht gesagt werden, daß die Mutter ihre elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt hat. Erziehungsmängel der Mutter in der Zeit zwischen März 1986 und August 1987 sowie während der Zeit der Ausübung ihres Besuchsrechtes stehen nicht fest. Die Vorinstanzen sprechen den Entzug der elterlichen Rechte nur deshalb aus, weil sich auf Grund des Sachverständigengutachtens eine deutliche Präferenz des Kindes für den väterlichen Bereich finde, eine feste Bindung zum Vater bestehe und das Verhältnis zur Mutter distanzierter sei, wozu allerdings betont wird, daß von der väterlichen Großmutter eine gewisse Spannungssituation aufgebaut wurde. Auf Grund dieses Sachverhaltes kann zwar angenommen werden, daß eine erstmalige Entscheidung nach § 177 Abs. 2 ABGB zugunsten des Vaters ausgegangen wäre, eine für die Entziehung der elterlichen Rechte und Pflichten der Mutter nach § 176 Abs. 1 ABGB unbedingt erforderliche Gefährdung des Kindeswohles läßt sich darin aber nicht finden (vgl. EFSlg. 48.408). Nur mit der Pflege und Erziehung durch die väterliche Großmutter (allenfalls auch unter Übernahme der Vormundschaft, niemals aber mit einer Übernahme der Obsorge durch den Vater war die Mutter einverstanden. Der Mutter, die offenbar aus beruflichen Gründen das Kind zur Großmutter gab, konnte es bei Geltung der vertraglichen Regelung nicht verwehrt sein, bei Wegfall der Gründe hiefür Pflege und Erziehung des Kindes wieder selbst zu übernehmen. In der vorübergehenden Unterbringung des Kindes bei seiner väterlichen Großmutter allein kann eine Gefährdung des Kindeswohles nicht erblickt werden.

Da die Vorinstanzen bei ihrer Entscheidung auf die sich aus den §§ 176 f ABGB ergebenden Grundprinzipien für eine Änderung der Obsorge nicht Bedacht nahmen, liegt der Revisionsrekursgrund der offenbaren Gesetzwidrigkeit vor. Die Beschlüsse der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, daß der Antrag des Vaters abgewiesen wird.

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