OGH 10ObS299/89

OGH10ObS299/8910.10.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst und Dr. Kellner als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Köck (Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold K***, Tischlereiarbeiter, 3032 Eichgraben, Annenhofstraße 75, vertreten durch die Sachwalterin Maria I***, 1050 Wien, Siebenbrunnenfeldgasse 1/4/30, diese vertreten durch Dr. Rudolf Müller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1092 Wien, Roßauer

Lände 3, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7. April 1989, GZ 31 Rs 79/89-36, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 2. Jänner 1989, GZ 32 Cgs 1104/87-32, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. November 1986 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Der am 4. März 1975 (richtig: 1955) geborene Kläger absolvierte vom 3. August 1970 bis 2. August 1973 in einem Tischlereibetrieb die Tischlerlehre und besuchte die dazugehörende Berufsschule. Die Gesellenprüfung legte er nicht ab. Bis 9. November 1973 war er weiterhin in diesem Tischlereibetrieb beschäftigt. Dann arbeitete er vom 12. November 1973 bis 19. November 1982 in einem anderen Tischlereibetrieb, wobei er dort in erster Linie die Arbeiten eines Bautischlers, nicht jedoch jene eines Möbeltischlers, verrichtete. Er wurde in derselben Höhe wie die Mitarbeiter entlohnt, welche die Gesellenprüfung abgelegt hatten. Anschließend war er bis 8. Juli 1983 mit Unterbrechungen in mehreren anderen Tischlereibetrieben als Gehilfe tätig. Seither ist er arbeitslos. Der Kläger ist aufgrund seines - im einzelnen näher beschriebenen - körperlichen und geistigen Zustands, der durch eine durch Alkoholmißbrauch ausgelöste Epilepsie gekennzeichnet ist, imstande, leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen in der üblichen Dauer und mit den gewöhnlichen Pausen zu verrichten. Ausgeschlossen sind wegen der eher seltenen, aber möglicherweise unerwartet und plötzlich auftretenden epileptischen Anfällen Arbeiten an exponierten Stellen, also auf Leitern und Gerüsten, oder an gefährlichen Maschinen. Der Anmarsch zur Arbeit ist nicht eingeschränkt. Bei Alkoholenthaltsamkeit und regelmäßiger Medikamenteneinnahme, die dem Kläger zuzumuten wäre, die aufgrund seiner psychopathischen Grundpersönlichkeit aber nicht zu erwarten sind, könnte die Häufigkeit und Intensität der Anfälle verringert und das Fortschreiten des psychoorganischen Syndroms aufgehalten werden.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Frage der Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen sei. Obwohl er keine Gesellenprüfung abgelegt habe, habe er doch den Tischlereiberuf erlernt, weil er die Lehre und die dazugehörende Berufsschule absoviert habe. Da er anschließend 9 Jahre zur Zufriedenheit seines Dienstgebers als Bautischler tätig gewesen sei, könne "angenommen" werden, daß er nicht nur im Bereich der Bautischlerei, sondern in allen Bereichen des Tischlereiberufes die für dessen Ausübung nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten besessen habe. Entgegen der Ansicht des Sachverständigen für Berufskunde könne er infolge seines Anfallsleidens den Tischlereiberuf nicht mehr ausüben, weil er bei der Montage und Reparatur von Möbeln auch Leitern oder andere exponierte Stellen besteigen und dabei Handmaschinen, wie Sägen, Bohrer und Fräsen, die entgegen der Meinung des Sachverständigen für Berufskunde als gefährlich einzustufen seien, bedienen müsse. Aus demselben Grund könne er eine Tätigkeit im Fensterbau nicht mehr ausüben. Auf die Tätigkeit eines Material- und Werkzeugausgebers dürfe er nicht verwiesen werden, weil es sich dabei um eine unqualifizierte Tätigkeit handle.

Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren infolge Berufung der beklagten Partei ab. Dem Kläger könnten zwar Montage- und Reparaturarbeiten im Möbelhandel und die Tätigkeit eines Material- und Werkzeugausgebers aus den vom Erstgericht angeführten Gründen nicht mehr zugemutet werden, wohl aber Montagearbeiten im Kunststoffensterbau, weil die dabei zu verwendenden Handmaschinen mit Sicherheitsvorrichtungen versehen seien, die im Fall der Bewußtlosigkeit des die Maschine Bedienenden diese abschalten. Da nach dem Gutachten des Sachverständigen für Berufskunde Fließbandarbeiten mit dieser Tätigkeit nicht verbunden seien, sei sie dem Kläger zumutbar.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Entgegen der in der Revision vertretenen Auffassung kann allerdings (noch) nicht davon ausgegangen werden, daß die Frage der Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist. Dies setzt voraus, daß der Versicherte überwiegend in einem erlernten oder angelernten Beruf tätig war. In einem erlernten Beruf war der Versicherte aber nur tätig, wenn und nachdem er für den betreffenden Lehrberuf die Lehrabschlußprüfung erfolgreich abgelegt hat oder wenn diese gemäß § 8 Abs 7 oder § 28 Abs 1 BAG ersetzt wird. Nur dann ist gewährleistet, daß er sich die für den Lehrberuf erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse aneignete und die dem Lehrberuf eigentümlichen Tätigkeiten selbst fachgerecht ausführen kann (vgl. § 21 Abs 1 BAG). Was gilt, wenn der Versicherte im Ausland einen Beruf erlernte, ist hier nicht zu erörtern. Die Lehrabschlußprüfung hat der Kläger nach den Feststellungen des Erstgerichtes nicht abgelegt. Daß die Voraussetzungen für den Ersatz dieser Prüfungen durch einen Schulbesuch gemäß dem von der Zeit der Geltung allein in Betracht kommenden § 28 Abs 1 BAG erfüllt sind, hat er nicht behauptet. Dies ist nach den Verfahrensergebnissen auch nicht anzunehmen (vgl. die Umschreibung der Schulen in der hier noch maßgebenden V BGBl. 1970/142). In Betracht kommt also nur, daß der Kläger in einem angelernten Beruf tätig war. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (JUS 1989/214 ua) ist hiefür entscheidend, daß der Versicherte über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Wenn dem Erstgericht auch einzuräumen ist, daß die Absolvierung einer Lehre für das Vorliegen dieser Voraussetzung spricht, hätte es sich nicht - im Rahmen der rechtlichen Beurteilung - mit einer entsprechenden "Annahme" begnügen dürfen, sondern es hätte Feststellungen hiezu treffen müssen. Wie der Oberste Gerichtshof in der schon zitierten Entscheidung (JUS 1989/214; außerdem SSV-NF 2/98) weiters ausgesprochen hat, genügt es nicht, daß der Versicherte, der keinen Beruf erlernt hat, die Kenntnisse erwirbt, sondern sie müssen in der im Beobachtungszeitraum überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit in jenem Ausmaß zum Tragen gekommen sein, das hiefür üblicherweise von gelernten Arbeitern dieser Berufsgruppe erwartet wird. Auch in dieser Richtung haben die Vorinstanzen nichts festgestellt. Der Umstand, daß der Kläger in gleicher Weise wie jene Dienstnehmer entlohnt wurde, welche die Lehrabschlußprüfung für den Tischlerberuf erfolgreich ablegten, bildet zwar ein Indiz für das Vorliegen der angeführten Voraussetzung, ist aber hiefür nicht allein entscheidend. In den Entscheidungen der Vorinstanzen werden die Ausführungen zu den Tatsachenfeststellungen, zur Beweiswürdigung und zur rechtlichen Beurteilung (vgl. nunmehr § 417 Abs 2 ZPO idF der WGN 1989) zum Teil vermengt. Betrachtet man das Urteil des Berufungsgerichtes in seiner Gesamtheit, so ergibt sich daraus als Tatsachenfeststellung, daß Montagearbeiten im Kunststoffensterbau dem medizinischen Leistungskalkül des Klägers entsprechen, weil er durch die hiebei zu verwendenden Maschinen trotz seiner epileptischen Anfälle nicht gefährdet wird. Hier ist anzumerken, daß die Frage, welche Gefahren mit der Bedienung einer Maschine verbunden sind, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes keine Rechts-, sondern eine Tatfrage bildet. Im Rahmen der Tatsachenfeststellungen sind also die Gefahren zu beschreiben, die mit der Verwendung einer Maschine verbunden sind. Nur die Schlußfolgerungen, die sich aus diesen Gefahren für den Anspruch des Versicherten ergeben, gehören zur rechtlichen Beurteilung. Der Kläger hat eine Verletzung der Verfahrensvorschriften beim Zustandekommen der angeführten Feststellung nicht geltend gemacht, weshalb der Oberste Gerichtshof davon auszugehen hat. Der Kläger weist in seiner Revision aber zutreffend darauf hin, daß diese Feststellung jedenfalls dann unzureichend ist, wenn sich die Frage seiner Invalidität nach § 255 Abs 1 ASVG richtet. In diesem Fall wäre nämlich noch zu klären, ob es sich bei der erwähnten Tätigkeit um eine Teiltätigkeit jener Berufsgruppe handelt, zu der der Beruf gehört, in dem der Kläger angelernt wurde, und welche der Kenntnisse und Fähigkeiten, die der Kläger in seiner während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit anwendete, in dieser Teiltätigkeit zum Tragen kommen. Die Verweisung des Versicherten auf Teiltätigkeiten eines Lehrberufes ist zwar an sich zulässig (SSV-NF 2/46; 10 Ob S 208/88). Der Versicherte darf jedoch nicht auf Teiltätigkeiten seines Berufes verwiesen werden, durch die er den ihm nach § 255 Abs 1 ASVG zukommenden Berufsschutz verlieren würde. Die Tätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen wird, muß daher eine Tätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf im Sinn des § 255 Abs 1 und 2 ASVG sein (10 Ob S 35/89). Zur Ergänzung des Verfahrens in der aufgezeigten Richtung mußte die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen werden. Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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