OGH 10ObS158/89

OGH10ObS158/896.6.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Tschochner (Arbeitgeber) und Dr. Simperl (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ingeborg K***, Pensionistin, 9433 St. Andrä 185, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei

P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich

Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Jänner 1989, GZ 7 Rs 234/88-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 16.September 1988, GZ 31 Cgs 1220/87-22, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1.8.1987 den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Bei der (am 26.8.1942 geborenen) Klägerin besteht ein Zustand nach mehrfachen Bandscheibenoperationen im Lendenbereich, die zu einer vollständigen Versteifung der Lendenwirbelsäule geführt haben. Im Bereich der Brustwirbelsäule ist das Bewegungsausmaß deutlich eingeschränkt. Die Klägerin ist deshalb nicht imstande, sich die Beinkleidung ohne Hilfsmittel anzuziehen. Hilfsmittel zum Anziehen der Strümpfe kann sie jedoch nicht bedienen, weshalb sie hiefür ständig der Hilfe einer dritten Person bedarf. Die Schuhe kann sie aber mit einem langen Schuhlöffel anziehen. Es ist ihr möglich, sich alleine zu waschen, wobei sie zur Reinigung der Füße eine Stielbürste verwenden muß. Sie kann aber keine Lebensmittel nach Hause tragen, ihre Wohnung auch nicht nur notdürftig in Ordnung halten und "kaum" die kleine Wäsche waschen. Insbesondere kann sie keinen Staubsauger bedienen. Sie kann aber "allenfalls" kleine Mahlzeiten zubereiten, ohne fremde Hilfe essen und trinken und die Toilette aufsuchen. Das Eßgeschirr kann sie sitzend abwaschen. Die Klägerin wird in ihrem Haushalt von ihrer Tochter unterstützt, welche die Einkäufe besorgt, für sie kocht, die Wäsche wäscht, die Wohnung aufräumt und ihr bei der täglichen Körperpflege hilft. Die Tochter der Klägerin ist hiefür täglich drei bis vier Stunden tätig. Außerdem besorgt eine Hilfskraft (Zugehfrau) die groben Hausarbeiten, wie das Reinigen der Fenster, des Bodens und des Stiegenhauses.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Klägerin hilflos im Sinne des § 105 a ASVG sei, weil sie allein für die Hilfe, die von ihrer Tochter geleistet werde, mehr als 3.200 S aufwenden müßte, wenn sie durch Dritte geleistet würde. Dazu kämen noch die Kosten für die groben Hausarbeiten, welche die Klägerin auch tatsächlich bezahle. Die durch die Hilflosigkeit verursachten zusätzlichen Kosten seien daher mindestens so hoch wie der monatliche Hilflosenzuschuß. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und bestätigte das Urteil des Erstgerichtes "mit der Maßgabe", daß es der beklagten Partei bis zur Erlassung des die Höhe des Hilflosenzuschusses festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von 3.000 S im Monat auftrug. Der Mehraufwand, welcher der Klägerin durch die für sie notwendige Wartung und Hilfe entstehe, sei gemäß § 273 ZPO mit rund 3.400 S im Monat festzusetzen. Dabei werde davon ausgegangen, daß die Klägerin täglich (komprimiert) 1 1/2 Stunden einer Pflegeperson bedürfe und hiefür ein Bruttostundenlohn von 75 S angemessen sei. Dieser Aufwand liege über dem durchschnittlichen monatlichen Höchstbetrag des Hilflosenzuschusses, weshalb die Klägerin hilflos im Sinn des § 105 a ASVG sei. Der im § 89 Abs 2 ASGG vorgeschriebene Auftrag zu einer vorläufigen Zahlung, den schon das Erstgericht hätte erlassen müssen, sei von Amts wegen nachzuholen.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Zum Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens macht die beklagte Partei geltend, daß das Erstgericht einem von ihr gestellten Beweisantrag nicht entsprochen habe. Dies bildete schon den Gegenstand ihrer Berufung, wobei das Berufungsgericht darin eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz nicht erblickte. Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Berufungsgericht nicht für gegeben erachtet, können aber auch in Sozialrechtssachen mit Revision nicht mehr geltend gemacht werden (SSV-NF 1/32; JBl 1988, 197 uva).

In der Sache bekämpft die beklagte Partei die Ansicht der Vorinstanzen, daß die Kosten, die der Klägerin durch ihre Hilflosigkeit entstehen, mindestens so hoch wie der begehrte Hilflosenzuschuß seien (vgl. SSV-NF 1/46 uva). Diese Kosten wurden von den Vorinstanzen gemäß § 273 ZPO ermittelt, was zulässig ist (vgl. Fasching, Kommentar III 286). Auf Grund dieser Gesetzesstelle ist der Betrag nach freier Überzeugung festzusetzen. Dabei besteht für das Gericht ein Ermessenspielraum (Fasching, Zivilprozeßrecht, Rz 870 iVm 818). Die Entscheidung des Gerichtes kann im Rechtsmittelverfahren auf Grund einer dem Gesetz gemäß ausgeführten Rechtsrüge überprüft werden (SZ 54/173 ua). Ist die Revision, wie hier gemäß § 46 Abs 4 ASGG, ohne die Beschränkung des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO (oder des damit inhaltlich übreinstimmenden § 46 Abs 2 Z 1 ASGG) zulässig, so hat der Oberste Gerichtshof die Entscheidung des Berufungsgerichtes in jeder Richtung, also nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmißbrauchs (vgl. hiezu Fasching aaO Rz 818) zu prüfen (Fasching in JBl 1981,235). Es besteht dabei aber auch für den Obersten Gerichtshof der aus § 273 ZPO sich ergebende Ermessensbereich. Dies bedeutet, daß der Oberste Gerichtshof die Entscheidung des Berufungsgerichtes immer dann billigen kann, wenn nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit sprechen. Die beklagte Partei behauptet in der Revision, daß bei der Festsetzung der Kosten, die der Klägerin durch ihre Hilflosigkeit entstehen, nur von einem Zeitaufwand von einer Stunde täglich ausgegangen und daß das für die Hilfskraft zu zahlende Entgelt nur in der Höhe des kollektivvertraglichen Mindestlohnes für Hausgehilfinnen und daher höchstens mit 60 S je Stunde angenommen werden dürfe. Das Berufungsgericht begründete die Annahme eines höheren Entgelts damit, daß zum kollektivvertraglichen Mindestlohn eine Hausgehilfin nicht gefunden werden könne. Die beklagte Partei hat dagegen konkret nichts vorgebracht. Sie hält den Annahmen des Berufungsgerichtes nur andere Annahmen entgegen. Durch ihr Vorbringen wird nicht dargetan, daß sie mit größerer Wahrscheinlichkeit zutreffen als jene des Berufungsgerichtes. Der Oberste Gerichtshof muß hier bei der Prüfung dieser Frage überdies berücksichtigen, daß die Tochter der Klägerin nach den Feststellungen des Erstgerichtes, die nicht bekämpft wurden und an die er gebunden ist, im Tag zwischen drei bis vier Stunden aufwendet, um ihrer Mutter zu helfen. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann der vom Berufungsgericht angenommene Zeitaufwand von 1 1/2 Stunden täglich nicht als überhöht angesehen werden. Der Oberste Gerichtshof hat zwar in seinen bisherigen Entscheidungen auf den monatlichen Durchschnitt des Hilflosenzuschusses abgestellt und somit auch die gemäß § 105 Abs 1 ASVG (und den entsprechenden Bestimmungen der anderen Sozialversicherungsgesetze) gebührenden Sonderzahlungen berücksichtigt. Er hatte dabei jene Fälle im Auge, in denen Hilfskräfte in der Praxis üblicherweise keine Sonderzahlungen erhalten. Geht man aber, wie die beklagte Partei dies fordert, von dem nach den Mindestlohntarifen zustehenden Entgelt aus, so müßte darauf Bedacht genommen werden, daß die in Betracht kommenden Dienstnehmer Anspruch auf Sonderzahlungen haben und es könnte nur der Betrag des monatlichen Hilflosenzuschusses berücksichtigt werden (so schon zutreffend Kuderna in RdA 1988, 300). Dieser würde bei der Klägerin in der Zeit vom 1.8.1987 bis 30.6.1988 2.724 S und ab 1.7.1988 bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung 2.755 S ausmachen und wäre unter Zugrundelegung eines Zeitaufwandes von 1 1/2 Stunden nahezu auch dann erreicht, wenn man von einem Stundenlohn von 60 S ausginge.

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände vermag der Oberste Gerichtshof in der Annahme des Berufungsgerichtes, daß die Kosten, die der Klägerin im Monat durchschnittlich entstehen, mindestens so hoch wie der begehrte Hilflosenzuschuß sind, einen Rechtsirrtum nicht zu erblicken. Da die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Hilflosenzuschuß erfüllt sind - was im übrigen von der beklagten Partei gar nicht bestritten wird - ,haben die Vorinstanzen dem Klagebegehren zu Recht stattgegeben.

Die beklagte Partei hat in ihrer Revision nichts dagegen vorgebracht, daß das Berufungsgericht ihr gemäß § 89 Abs 2 ASGG die Leistung einer vorläufigen Zahlung auftrug. Der Oberste Gerichtshof geht daher davon aus, daß sie diesen Teil der Entscheidung des Berufungsgerichtes, mit dem im übrigen das Urteil des Erstgerichtes abgeändert wurde, nicht anfechten wollte und sieht sich daher nicht veranlaßt, dazu Stellung zu nehmen, ob der Auftrag des Berufungsgerichtes mit dem Gesetz im Einklang steht.

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