OGH 11Os36/89

OGH11Os36/8930.5.1989

Der Oberste Gerichtshof hat am 30.Mai 1989 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter, Dr. Walenta, Dr. Felzmann und Dr. Rzeszut als weitere Richter, in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Ofner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Erich L*** wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs. 1, zweiter Fall, StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 3.Oktober 1988, GZ 9 d Vr 7.035/87-108, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Hauptmann, des Angeklagten und des Verteidigers Dr. Eckharter zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, das im übrigen unberührt bleibt, in seinem schuldigsprechenden Teil und im Strafausspruch sowie im Ausspruch über die Vorhaftanrechnung aufgehoben und die Strafsache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an den Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zurückverwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am 23.Dezember 1949 geborene beschäftigungslose Erich L*** im Sinn einer alternativen Anklageausdehnung in der Hauptverhandlung (AS 49/II) des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs. 1, zweiter Fall, StGB schuldig erkannt. Ihm wurde angelastet, es am 25.Juni 1987 in Wien bei einem Unglücksfall unterlassen zu haben, die zur Rettung der Helga K*** aus der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung offensichtlich erforderliche Hilfe zu leisten, indem er insbesondere die Herbeiholung fachkundigen Beistands (des Rettungsdienstes) für die Bewußtlose unterließ, woraus der Tod der Helga K*** erfolgte. Vom Vorwurf (der Anklageschrift ON 67), am 25.Juni 1987 in Wien Helga K*** durch kräftiges Zubodenschleudern und anschließendes Versetzen mehrerer Schläge in das Gesicht ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma mit Blutung unter der harten Hirnhaut zugefügt und sie hiedurch am Körper verletzt zu haben, wobei die Tat den Tod der Helga K*** zur Folge hatte, wurde er gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen; dieser Freispruch blieb unangefochten. Gegen den Schuldspruch wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung erhob der Angeklagte eine (ausdrücklich) auf die Gründe der Z 4, 5, 5 a und 9 lit a des § 281 Abs. 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde.

Rechtliche Beurteilung

Zutreffend rügt der Beschwerdeführer aus dem letztgenannten Nichtigkeitsgrund das Fehlen hinreichender Urteilsfeststellungen zur subjektiven Tatseite des ihm angelasteten Vergehens, das die Kenntnis des Unglücksfalles (oder der Gemeingefahr), der hieraus folgenden Gefahr des Todes (oder beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung), der Notwendigkeit der Hilfeleistung zur Abwendung dieser Gefahr sowie der tatsächlichen Möglichkeit zur Hilfe und den Vorsatz, diesen Beistand zu unterlassen, voraussetzt (siehe - jeweils zu § 95 StGB - Leukauf-Steininger, Komm2, RN 15; Kienapfel, BT I2, RN 42; Foregger-Serini, MKK4, Erl I Ende). Ohne den nach dem § 95 StGB tatbildlichen (wenigstens bedingten) Vorsatz handelt daher insbesondere, wer aus den Umständen irrtümlich schließt, daß Hilfeleistung zur Vermeidung einer der bezeichneten Gefahren nicht erforderlich ist (SSt 52/37; Kienapfel aaO sowie insbes in ZVR 1977/294).

Eine Klarstellung, ob der Angeklagte sich in einem derartigen - den tatbildlichen Vorsatz ausschließenden - Irrtum befand, unterblieb in der Urteilsbegründung: Selbst bei Berücksichtigung jener Ausführungen, wonach es offensichtlich gewesen sei, daß Helga K*** nicht nur aufgrund ihrer Trunkenheit das Bewußtsein nicht mehr erlangte, sondern daß "gröbere Ursachen mit im Spiel sein mußten" (US 7 zweiter Absatz), und wonach eine derart lang anhaltende Bewußtlosigkeit, verbunden mit Erbrechen, "alarmierend" gewesen sein müßte (US 8 oben), stellt der wiederholte Hinweis auf die Kenntnis des Angeklagten von (diesem) "besorgniserregenden" Zustand (US 8 oben und Ende des zweiten Absatzes) eine für die verläßliche Beurteilung des Tätervorsatzes nicht hinreichende Begründung dar. Offen bleibt nämlich, ob sich die Besorgnis des Angeklagten über den Zustand der Helga K*** auf die von ihm erkannte Gefahr wenigstens einer beträchtlichen Gesundheitsschädigung gründete, und ob er auch Maßnahmen zur Gefahrenabwendung als erforderlich (und ihm möglich) erkannte. Jener Teil der Urteilsbegründung, demzufolge "offensichtlich" der Angeklagte "möglicherweise" im Hinblick auf drei einschlägige Vorstrafen mit den Verletzungen der Helga K*** in Verbindung gebracht zu werden befürchtete, so daß er den Eintritt des Todes der Verletzten "lieber in Kauf nahm", als ihr Hilfe angedeihen zu lassen (US 13), bringt lediglich eine Vermutung des Erstgerichtes über das innere Vorhaben des Angeklagten und dessen Motivation zum Ausdruck (vgl überdies zur mangelnden Erfüllung der Voraussetzungen bedingten Vorsatzes durch bloßes "Inkaufnehmen" des Erfolges insbes EGr 20 zu § 5 StGB in Mayerhofer-Rieder3). Einer eindeutigen Feststellung, ob der Angeklagte auch die der Helga K*** aus einem Unglücksfall konkret drohende Gefahr des Todes, einer beträchtlichen Körperverletzung oder einer Gesundheitsschädigung gleicher Intensität sowie ihre auf Grund dieser Gefahr gegebene Hilfsbedürftigkeit in seinen Vorsatz aufgenommen hatte oder sich insoweit in einem Irrtum befand, hätte es umsomehr bedurft, als das ihm angelastete Verhalten der Frau gegenüber im Zusammenhang mit der Teilnahme beider an einem Trinkgelage steht, in dessen Verlauf sich insbesondere Helga K***

eine beträchtliche Alkoholisierung zugezogen hatte. Die an ihr wahrgenommenen Symptome (Bewußtseinsverlust, Erbrechen, Nasenbluten) treten bei gestürzten schwer Betrunkenen nicht selten auf und sind daher nach Lage des Falles nicht ohne weiteres als Hinweis auf eine nicht bloß leichte, sondern als zumindest beträchtliche Körperverletzung einzustufende Gehirnerschütterung aufzufassen (in diesem Sinn jedoch US 11). Selbst wenn in diesen Symptomen (im Hinblick auf die Dauer der Bewußtlosigkeit) bei Betrachtung ex ante unter Anlegung des Erfahrungswissens (Kienapfel in BT I2, § 95, RN 26, und in ZVR 1977, 290) Anzeichen wenigstens einer (im obigen Sinn konkret gefährlichen und daher Hilfsmaßnahmen erfordernden) schweren Alkoholvergiftung zu erblicken sein sollten, wäre damit nur die objektiv gegebene (offensichtliche) Hilfsbedürftigkeit, also ein äußeres Tatbestandsmerkmal, bejaht. Die Klarstellung, ob dieses Merkmal auch vom Vorsatz des Täters umfaßt war, durfte hier umsoweniger auf den Gebrauch von Leerformeln (s.o.) beschränkt werden, als für die insoweit nicht geständige Verantwortung des Angeklagten eine Mehrzahl anderer Verfahrensergebnisse sprechen könnte: Neben seiner eigenen (lt US 5 unten auch vom Erstgericht angenommenen) Alkoholisierung und dem Umstand, daß die weiteren Teilnehmer am Zechgelage gleichfalls die Hilfsbedürftigkeit der Helga K*** - deren Trunkenheit von ihnen nicht als ungewöhnlich angesehen wurde (s. insbes Zg V*** AS 34/II Mitte) - nicht erkannt haben wollen, ist in diesem Zusammenhang auch seine durch chronischen Alkoholmißbrauch verminderte Kritikfähigkeit (Sachverständiger Prim.Dr. P***, AS 167/I) hervorzuheben. Zudem ist bei der Dauer der Bewußtlosigkeit zu berücksichtigen, daß der Angeklagte Wahrnehmungen hierüber nur zwischen dem Zusammenbruch der Helga K*** auf der Wiese und seiner eigenen - eine Spitalseinlieferung auslösenden - Erkrankung (Magendurchbruch) machen konnte, also während eines Zeitraumes, den das Erstgericht zwar als "einige Zeit" oder "länger" charakterisiert (US 11 unten und vso, 13, 14), jedoch nicht in einem bestimmten Zeitmaß anzugeben vermochte.

Bei dieser Aktenlage zeigt sich, daß in der Frage der inkriminierten Unterlassung der Hilfeleistung nach dem § 95 Abs. 1, zweiter Fall, StGB die Anordnung einer neuen Hauptverhandlung nicht zu vermeiden ist, also eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in der Sache selbst noch nicht eintreten kann.

Es war daher der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Folge zu geben und das angefochtene Urteil, das in seinem freisprechenden Teil aufrecht zu bleiben hatte, im bekämpften Schuldspruch sowie im Strafausspruch einschließlich der Vorhaftanrechnung aufzuheben und dem Einzelrichter des Erstgerichtes (§ 13 Abs. 2 StPO) im Umfang der Aufhebung die neuerliche Verhandlung und Entscheidung aufzutragen. Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

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