Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens aufgetragen.
Text
Begründung
Gemäß einer zwischen den Eltern getroffenen und vom Pflegschaftsgericht genehmigten Vereinbarung stehen die elterlichen Rechte und Pflichten bei den ehelichen Kindern Roland, geboren 1975, und Manuel, geboren 1979, seit der Ehescheidung der Mutter zu (Beschluß 1. Februar 1983). Seit Frühjahr 1988 befindet sich jedoch Manuel tatsächlich im Haushalt des Vaters.
Der Vater stellte den Antrag, ihm die elterlichen Rechte und Pflichten bei Manuel zu übertragen. Die Mutter sprach sich zwar nicht dagegen aus, daß der Bub, solange er dies wünsche, beim Vater bleiben könne, beantragte aber die Abweisung des Antrages des Vaters, diesem die elterlichen Rechte und Pflichten zu übertragen. Das Erstgericht gab dem Antrag des Vaters statt. Das Gericht zweiter Instanz bestätigte den Beschluß des Erstgerichtes. Die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen beziehen sich im wesentlichen darauf, daß sich das Kind beim Vater wohl fühle, daß es sich weigere, Kontakte zur Mutter zu haben, und daß sich der Vater und seine jetzige Ehefrau gut um das Kind kümmern. Es sei daher psychologisch nicht zu verantworten, die momentanen guten Entwicklungschancen zu gefährden. Es widerspreche dem Wohl des Kindes, es zur Mutter zu geben. Eine Aufteilung der Elternrechte zwischen Vater und Mutter komme nicht in Betracht.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Mutter ist berechtigt.
Der Entscheidung der Vorinstanzen haften Feststellungsmängel vom Grad einer offenbaren Gesetzwidrigkeit iSd § 16 AußStrG an. In der Entscheidung der Vorinstanzen wird vernachlässigt, daß es nicht um eine Entscheidung nach § 177 ABGB, also um die erste Regelung der Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten an einen Elternteil geht, sondern darum, ob iSd § 176 ABGB die Voraussetzungen für die Entziehung oder Einschränkung der der Mutter allein übertragenen Rechte und Pflichten vorliegen. Die Mutter müßte also durch ihr bisheriges Erziehungsverhalten das Wohl des Kindes gefährden (EFSlg. 51.279) oder durch rechtsmißbräuliches Beharren auf den ihr gem. § 177 ABGB zuerkannten Rechten und Pflichten das Kind einem eindeutigen und schweren Schaden auszusetzen (EFSlg. 33.605 ua). Die Beurteilung der Voraussetzungen des § 176 ABGB setzt daher in jedem Fall eine Prüfung der Erziehungsverhältnisse bei dem Elternteil voraus, dem die elterlichen Rechte entzogen werden sollen (ÖA 1985, 77). Im vorliegenden Fall wurden die Erziehungsverhältnisse bei der Mutter keiner Prüfung unterzogen und es wurde auch nicht untersucht, warum es psychologisch unverantwortlich wäre, das Kind wieder in die Obsorge der Mutter zu geben. Die bei der Vernehmung von Manuel hervorgekommenen Argumente, er sei einmal mit dem Teppichklopfer geschlagen worden und möge es nicht, wenn die Mutter ihn küsse und Koseworte wie "Mäusle" zu ihm sage, müßten auf ihren tiefenpsychologischen Hintergrund geprüft werden. Für sich allein machen sie nicht verständlich, weshalb der Bub nicht wie sein Bruder bei der Mutter bleiben kann. Der Mutter vorzuwerfen, sie sei Argumenten nicht besonders zugänglich, ist schwer nachvollziehbar, weil die Mutter sich wiederholt kooperativ zeigte und auch nicht sofort dagegen war, daß Manuel vorübergehend beim Vater bleibe. Es wird allerdings zu beachten sein, ob durch den nun schon langen tatsächlichen Aufenthalt beim Vater, den die Mutter durch ihr Verhalten toleriert hat, in objektiver Weise eine Situation entstanden ist, in der es nunmehr zu einer ernsten Gefährdung der weiteren seelischen Entwicklung von Manuel kommen könnte, wenn er zurück zur Mutter müßte. Aber auf der Hand liegt eine solche Gefährdung auch nicht. Es muß also konkret ermittelt werden, ob zusätzlich zu den gewöhnlichen Umstellungsproblemen besondere psychische Momente eine Rolle spielen. In der vorliegenden Sache kann daher wohl ohne Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens eine Reihe von unverzichtbaren Tatumständen nicht festgestellt werden. Nicht erörtert wurde auch, warum es im konkreten Fall dem Wohl des Kindes widersprechen würde, wenn die elterlichen Rechte und Pflichten zwar wie bisher der Mutter zustünden, aber im Sinne ihrer verschiedentlich abgegebenen Stellungnahmen das Kind bis auf weiteres im Haushalt des Vaters verbliebe. Hier müßte vor allem untersucht werden, ob damit zu rechnen ist, daß eine derzeit vielleicht einen weiteren Verbleib beim Vater erfordernde psychische Situation voraussichtlich für länger andauern wird.
Ohne die Feststellung der aufgezeigten Umstände ist eine Entscheidung in der von den Vorinstanzen gewählten Weise voreilig und offenbar gesetzwidrig (siehe EFSlg. 44.650 und auch dazu ÖA 1985, 77).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)