OGH 10ObS31/89

OGH10ObS31/8921.2.1989

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Kellner als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter MR.Dr. Johann Herbst (Arbeitgeber) und Harald Reisenberger (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Otto O***, Basilikastraße 14, 4470 Enns, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Oktober 1988, GZ 12 Rs 142/88-38, womit das Urteil des Kreisgerichtes Steyr als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18. Juli 1988, GZ 12 Cgs 89/87-35, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichtes wird aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. Mai 1986 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen."

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 12. September 1986 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 28. April 1986 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Es stellte im wesentlichen fest, daß der am 19. März 1935 geborene Kläger noch in der Lage ist, alle leichten Arbeiten zu verrichten, die wechselnd im Sitzen, Stehen und Gehen durchgeführt werden können. Über das physiologische Ausmaß hinausgehende Pausen sind nicht erforderlich. Auszuschließen sind Arbeiten, die mit häufigem Bücken bis zum Boden und Heben und Tragen von Gegenständen über 10 kg verbunden sind, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und solche, die mit häufiger Durchnässung und Erkältung einhergehen, Arbeiten an schnellaufenden Maschinen und schließlich solche, die ein räumliches Sehen erfordern. Der Kläger hat in den Jahren 1951 bis 1954 die Spenglerlehre absolviert und mit Gesellenprüfung abgeschlossen. Von 1954 bis 1966 arbeitete er als Spenglergeselle, von 1966 bis 1967 als Monteur und in der Folge bis 1974 wiederum als Spengler. Am 24. November 1973 erlitt der Kläger einen Unfall, bei welchem ihm zwei Sehnen am rechten Oberarm durchschnitten wurden. Der Kläger ist Rechtshänder. Seit 1974 arbeitet der Kläger bei der S*** D*** P*** AG. Er war von 1974 bis 1980 in der Zahnkranzproduktion eingesetzt und ist seit 1980 bei der Montage von Traktoren beschäftigt. Bei diesen beiden letzten Tätigkeiten konnte der Kläger die Kenntnisse, die er als Spengler erlernt hat, nur kaum verwerten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, der Kläger genieße keinen Berufsschutz, weil die im maßgeblichen Zeitraum vor dem Stichtag ausgeübte Tätigkeit jene eines Monteurs gewesen sei, die nur einen kleinen, zu vernachlässigenden Teil des Metallberufes darstelle und die erworbenen Kenntnisse als Spengler dabei kaum verwertbar seien. Da der Kläger noch auf die Tätigkeiten eines Bürohausportiers, Billeteurs, Eintrittskartenkontrollors oder Produktkontrollors verwiesen werden könne, sei er nicht invalide im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers Folge, hob das Urteil des Erstgerichtes auf, trug diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, daß das Verfahren in erster Instanz erst nach Rechtskraft seines Beschlusses fortzusetzen sei.

Der Kläger habe bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht, er könne seit seinem Unfall im November 1973 den erlernten Spenglerberuf nicht mehr ausüben. Er habe den Beruf aufgeben müssen, weil er mit dem Spenglerwerkzeug nicht mehr habe arbeiten können. Der Berufswechsel sei daher nicht freiwillig erfolgt. Nach § 223 Abs 2 ASVG, auf welchen § 255 Abs 2 ausdrücklich hinweise, gelte der Versicherungsfall bei dauernder Invalidität grundsätzlich mit deren Eintritt als eingetreten, im Falle vorübergehender Invalidität mit Ablauf der 26. Woche ihres Bestandes. Unterstelle man die Prozeßbehauptung des Klägers, er habe den erlernten Beruf nach dem Unfall vom November 1973 aufgeben müssen, als richtig, so sei mit diesem Zeitpunkt dauernde Invalidität eingetreten. Zum damaligen Zeitpunkt aber habe der Kläger in den letzten 15 Jahren davor überwiegend als Spengler gearbeitet, sodaß die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Invaliditätspension gegeben gewesen wären. Wenn der Kläger die Antragstellung bis 28. April 1986 hinausgeschoben habe, so könne dies an dem bereits eingetretenen Versicherungsfall nichts mehr ändern. Der Gesetzgeber wolle durch die Stichtagregelung eine Schädigung des Versicherten hintanhalten, insbesondere aber dem Versicherten die Möglichkeit eröffnen, auch nach Eintritt des Versicherungsfalles noch Versicherungszeiten zu erwerben. Es müsse daher noch abgeklärt werden, ob der Kläger durch seinen Unfall im Jahr 1973 tatsächlich gezwungen gewesen sei, den Spenglerberuf aufzugeben, ob er nicht in einem artverwandten Beruf hätte eingesetzt werden können, ob allenfalls die Voraussetzungen für eine vorübergehende Invaliditätspension vorgelegen seien und die Arbeitsfähigkeit im Spenglerberuf oder einem artverwandten Beruf allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt wieder eingetreten sei. Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, ihn aufzuheben und das Ersturteil zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt.

War der Versicherte überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig, so gilt er gemäß § 255 Abs 1 ASVG als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Als überwiegend im Sinne des Abs 1 gelten gemäß Abs 2 leg cit solche erlernte (angelernte) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) ausgeübt wurden.

Nach § 223 Abs 1 Z 2 ASVG gilt der Versicherungsfall bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit im Falle dauernder Invalidität, Berufsunfähigkeit oder Dienstunfähigkeit mit deren Eintritt, wenn aber dieser Zeitpunkt nicht feststellbar ist, mit der Antragstellung, bei vorübergehender Invalidität, Berufsunfähigkeit oder Dienstunfähigkeit mit dem Ablauf der 26. Woche ihres Bestandes als eingetreten. § 223 Abs 2 ASVG bestimmt, daß Stichtag für die Feststellung, ob und in welchem Zweig der Pensionsversicherung und in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, der Eintritt des Versicherungsfalles ist, wenn er auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Eintritt des Versicherungsfalles folgende Monatserste. Wird jedoch der Antrag auf eine Leistung nach Abs 1 Z 1 oder 2 erst nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt, so ist der Stichtag für diese Feststellung der Zeitpunkt der Antragstellung, wenn er auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Zeitpunkt der Antragstellung folgende Monatserste. Der Eintritt des Versicherungsfalles ist somit nur eine der Leistungsvoraussetzungen. Die Bestimmungen, die angeben, wann der Versicherungsfall als eingetreten gilt, haben eine zweifache Funktion: Sie legen den Zeitpunkt fest, in dem zu prüfen ist, ob alle Voraussetzungen des Versicherungsfalles vorliegen, zum anderen fixieren sie den frühestmöglichen Zeitpunkt der Entstehung des Anspruches. Der Stichtag kann zwar nur dann rechtliche Bedeutung erlangen, wenn die primären Leistungsvoraussetzungen, insbesondere der Eintritt des Versicherungsfalles, gegeben sind, die Frage, ob eine Leistung der Pensionsversicherung gebührt, ist aber nach den Verhältnissen an dem durch den Versicherungsfall ausgelösten Stichtag zu prüfen. Erst der Stichtag stellt die konkrete Verknüpfung der sekundären Leistungsvoraussetzungen - wie etwa die Erfüllung der Wartezeit - mit einer bestimmten Leistung dar. Es genügt nicht, daß die Voraussetzungen für eine Versicherungsleistung zu einem beliebigen Zeitpunkt vorliegen, sie müssen vielmehr nach dem Wortlaut des Gesetzes an einem ganz bestimmten Tag gegeben sein (vgl. auch Schrammel in Tomandl, System 142 f).

Daß die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes nicht zutreffen kann, ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des Gesetzes über den Begriff der Invalidität. Eine Prüfung des Vorliegens aller Voraussetzungen für einen Anspruch auf Gewährung einer Invaliditätspension zu einem früheren Zeitpunkt als dem Stichtag ist gar nicht möglich, weil ohne Antragstellung und damit ohne einen bestimmen Stichtag gar nicht geklärt werden könnte, ob der erlernte Beruf im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG "in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt" wurde. Entschließt sich daher ein Versicherter trotz Eintritt der Invalidität weiterhin berufstätig zu bleiben, insbesondere um weitere Versicherungszeiten zu erwerben und damit die Versicherungsleistung entweder überhaupt erst zu ermöglichen oder diese der Höhe nach zu verbessern, so ist die Prüfung, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit vorliegen, ausschließlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der (späteren) Antragstellung abzustellen. Geht man von diesen aus, dann kommt dem Kläger kein Berufsschutz zu und er ist auch, da er noch auf eine Reihe von Tätigkeiten verwiesen werden kann, nicht invalide im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG.

Da somit die Entscheidungsgrundlagen ausreichen, konnte der Oberste Gerichtshof gemäß § 519 Abs 2 ZPO unmittelbar in der Sache selbst entscheiden.

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