Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß der erstgerichtliche Beschluß über den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist als nichtig aufgehoben wird.
Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag in vorschriftsgemäßer Besetzung aufgetragen. Die Kosten des Revisionsrekurses sind weitere Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens.
Text
Begründung
Das die Klage abweisende erstgerichtliche Urteil vom 23.9.1987 samt Rechtsmittelbelehrung kam dem damals noch nicht vertretenen Kläger, einem jugoslawischen Staatsangehörigen, am Donnerstag, dem 12.11.1987, in seinem jugoslawischen Wohnort 76237 Donja Slatina zu. Die vierwöchige Berufungsfrist endete daher am Donnerstag, dem 10.12.1987. Am Freitag, dem 11.12.1987, gab der Kläger in 76230 Bosanski Samac einen mit diesem Tag datierten, in serbokroatischer Sprache verfaßten Schriftsatz an das Erstgericht zur Post. Darin erklärte er, gegen das genannte Urteil fristgerecht Berufung wegen unrichtig und unvollständig festgestellter Tatsachen, unrichtig angewendeten materiellen Rechtes und wesentlicher Verletzung des Verfahrens Berufung zu erheben, begründete dies und beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben, das Verfahren neuerlich durchzuführen und ihm das Recht auf Invaliditätspension zuzuerkennen. Dieser Schriftsatz wurde ihm zur Unterfertigung durch einen befugten Vertreter zurückgestellt und innerhalb der Verbesserungsfrist durch einen am 8.6.1988 zur Post gegebenen Schriftsatz des für das Berufungsverfahren bestellten Rechtsanwaltes zur Verfahrenshilfe verbessert. Mit einem weiteren Schriftsatz vom 20.7.1988 legte dieser Rechtsanwalt mehrere Urkunden vor und erwähnte, daß diese ihm vom in Jugoslawien lebenden Kläger, der der deutschen Sprache nicht mächtig sei, übergeben worden seien. Das Berufungsgericht wies die verbesserte Berufung und den Schrifstsatz vom 20.7.1988 mit Beschluß vom 22.8.1988, 32 Rs 155/88-37, als verspätet zurück. Dieser Beschluß wurde dem Rechtsanwalt zur Verfahrenshilfe am 29.9.1988 zugestellt.
In einem am 10.10.1988 zur Post gegebenen Schriftsatz beantragte der dem Kläger beigegebene Rechtsanwalt "in pflichtgemäßer Wahrung der Interessen der klagenden Partei" die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und erhob Rekurs gegen den berufungsgerichtlichen Zurückweisungsbeschluß. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde darauf gestützt, daß dem Kläger, der nur seine Muttersprache in Wort und Schrift beherrsche und der deutschen Gerichtssprache nicht mächtig sei, offenbar ein unverschuldeter Irrtum über die Berufungsfrist unterlaufen sei, weil er deren Dauer nicht mit vier Wochen sondern mit einem Monat angenommen haben dürfte. Als Bescheinigungsmittel bot der Kläger ua seine Vernehmung an.
Das Erstgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag ohne mündliche Verhandlung mit der kurzen Begründung ab, daß der Kläger der deutschen Sprache nicht mächtig sei, stelle keinen Wiedereinsetzungsgrund dar. Dieser Beschluß wurde nur von einem Richter, nicht aber von einem aus einem Richter und zwei fachkundigen Laienrichtern zusammengesetzten Senat gefaßt. Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägers nicht Folge. Unzureichende Vorsorge gegen allfällige Sprachbarrieren bei einem im Ausland fremsprachig zu führenden Prozeß sei kein Wiedereinsetzungsgrund.
Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Klägers mit den Anträgen, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und die Wiedereinsetzung zu bewilligen oder der zweiten oder ersten Instanz eine neuerliche Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag aufzutragen.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Rekursbeschränkung des § 528 Abs 1 Z 1 ZPO nach § 47 Abs 1 ASGG nicht gilt und weil § 528 Abs 2 ZPO nach § 47 Abs 2 ASGG in Verfahren über wiederkehrende Leistungen in Sozialrechtssachen nicht anzuwenden ist. Der Revisionsrekurs ist auch berechtigt.
Nach § 10 Abs 1 ASGG wird die....Sozialgerichtsbarkeit, soweit etwa nichts anderes angeordnet ist (Kuderna, ASGG § 10 Erl 1, § 11 Erl 8, 9), in Senaten ausgeübt. Die Bestimmung des § 37 GOG bezieht sich nur auf die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der 1.Tagsatzung - die in Sozialrechtssachen gemäß § 85 Abs 1 ASGG nicht stattfindet - und nicht auch auf Wiedereinsetzungsanträge gegen die Versäumung von Rechtsmittelfristen. Die Senate der Landes(Kreis)gerichte und daher nach § 2 Abs 4 ASGG auch des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien haben sich nach § 11 Abs 1 leg cit aus einem Richter und zwei fachkundigen Laienrichtern zusammenzusetzen. Der erstgerichtlichen Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wären daher - weil diesbezüglich nichts anderes angeordnet ist - zwei fachkundige Laienrichter beizuziehen gewesen, von denen einer dem Kreis der Arbeitgeber, der andere dem der Arbeitnehmer anzugehören gehabt hätte. Diese unrichtige Besetzung des Erstgerichtes macht dessen Entscheidung iS des § 477 Abs 1 Z 2 ZPO nichtig. Diese Nichtigkeit wurde nicht nach dem gemäß § 37 Abs 1 ASGG sinngemäß anzuwendenden § 260 Abs 4 ZPO saniert (Kuderna, ASGG § 37 Erl 2, 4 u 5). Das Rekursgericht hätte daher den erstgerichtlichen Beschluß als nichtig aufheben und dem Erstgericht eine Entscheidung in der richtigen Besetzung auftragen sollen.
Der angefochtene Beschluß war daher wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.
Zur neuen Entscheidung wird bemerkt, daß das unvorhergesehene und glaubhaft zu machende Ereignis, durch das der Kläger angeblich an der rechtzeitigen Berufungseinbringung verhindert wurde, nach dem maßgeblichen Behauptungen im Wiedereinsetzungsantrag nicht bloß die mangelnden Deutschkenntnisse sondern die dadurch bewirkte irrtümliche Annahme, die Berufungsfrist dauere nicht vier Wochen sondern einen Monat, gewesen sein soll.
Daß dem Kläger ein Verschulden an der Versäumnis zur Last läge, würde nach dem durch Art IV Z 24 der Zivilverfahrens-Nov 1983 dem § 146 Abs 1 ZPO angefügten zweiten Satz die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht hindern, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelte.
Im JAB 1337 BlgNR 15.GP 10 wurde der erwähnte Satz im wesentlichen damit begründet, daß einer säumigen Partei die Wiedereinsetzung auch dann bewilligt werden solle, wenn sie die Säumnis verschuldet habe (weil sie das hindernde Ereignis entweder vorhersehen oder seine Auswirkungen hätte abwenden können), wenn dieses Verschulden nicht die Stufe des minderen Grades des Versehens übersteige. Dieser Verschuldensgrad sei § 2 DienstnehmerhaftpflichtG entnommen. Es handle sich also um einen der Rechtsanwendung bereits geläufigen Begriff...
Nach Fasching, ZPR Rz 580 liegt ein minderer Grad des Versehens nur dann vor, wenn es sich um leichte Fahrlässigkeit handelt (§ 1332 ABGB; ZAS 1974, 19 = Arb 9168). Der Wiedereinsetzungswerber dürfe also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit nicht die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen haben. Dabei sei an berufliche rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen als an rechtsunkundige oder bisher noch nie an gerichtlichen Verfahren beteiligte Personen. Sei die Versäumung voraussehbar gewesen und hätte sie durch ein der Partei zumutbares Verhalten abgewendet werden können, dann sei die Wiedereinsetzung zu verweigern.
Rechberger-Simotta, ZPR3 Rz 337 führen aus, seit der ZPNov 1983 hindere der Umstand, daß dem Wiedereinsetzungswerber ein Verschulden an der Versäumung zur Last gelegt werden könne, nicht (mehr) die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handle. Der (§ 1332 ABGB, § 2 Abs 1, § 3 Abs 2, § 4 Abs 2 und § 6 DHG und § 3 OrgHG entnommene) Begriff "minderer Grad des Versehens" stimme mit dem Begriff "leichte Fahrlässigkeit" des allgemeinen Schadenersatzrechtes überein (SZ 45/42). Ausgeschlossen sei die Wiedereinsetzung daher, wenn dem Wiedereinsetzungswerber Vorsatz oder auffallende Sorglosigkeit zur Last gelegt werden könne. Auffallende Sorglosigkeit ist extremes Abweichen von der gebotenen Sorgfalt; also wenn etwas unbeachtet blieb, was im gegebenen Fall jedem leicht einleuchten mußte; wenn einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt wurden (vgl zB Reischauer in Rummel, ABGB Rz 3 zu § 1324 mit Rechtsprechungszitaten); eine so schwere Sorgfaltswidrigkeit, daß sie einem ordentlichen Menschen in der gegebenen Situation keinesfalls unterlaufen würde (Koziol-Welser, Grundriß8 I 420 f m Judikaturzitaten; 4.3.1987 3 Ob 506/87; 14.9.1988 9 Ob A 223/88).
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Revisionsrekurses beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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