OGH 10ObS358/88

OGH10ObS358/8810.1.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinrich Basalka (Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Julius M***, ohne Beschäftigung, 1230 Wien, Dirmhirngasse 16-19/12/6, vertreten durch Dr. Ernestine Behal, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A*** (Landesstelle Wien),

1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Juli 1988, GZ 33 Rs 138/88-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 25. Februar 1988, GZ 17 Cgs 1087/87-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an

das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 26. Juni 1987 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 7. April 1987 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Dagegen brachte der Kläger innerhalb von drei Monaten ab Zustellung des Bescheides beim Erstgericht einen Schriftsatz ein, in dem er sich auf den seinen Antrag abweisenden Bescheid bezog und um eine zweite ärztliche Untersuchung bat, weil "der untersuchende Arzt seine Operationen als zu minder erklärt" habe. Innerhalb der erwähnten Frist und einer ihm zur Unterfertigung des Schriftsatzes und zum Anschluß des angefochtenen Bescheides erteilten Verbesserungsfrist wiederholte der Kläger in einem nunmehr unterfertigten Schriftsatz seine Bitte um Untersuchung im sozialgerichtlichen Verfahren und zählte mehrere körperliche Leiden auf.

Das Erstgericht stellte die beiden Schriftsätze der beklagten Partei mit dem Auftrag zur Klagebeantwortung zu.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des (vom Kläger erstmals im Berufungsantrag formulierten) Klagebegehrens und wendete ein, daß der nach seinen Angaben als Schlosserlehrling, Schlosser, Kellner und selbständiger Gastwirt, während der letzten 15 Jahre vor dem Antrag als Kellner im Gasthaus seiner Ehegattin tätig gewesene Kläger noch alle leichten und mittelschweren Arbeiten verrichten könne, bei denen er mit dem rechten Arm nicht mehr als zehn kg heben müsse. Er könne daher noch als Kellner, Verpacker, Kontrollhelfer, Einleger, Abfüller udgl arbeiten und damit wenigstens die Hälfte des in Betracht kommenden Entgeltes erwerben.

Beim Sachverständigen für Chirurgie gab der Kläger an, bis 1964 seinen erlernten Schlosserberuf ausgeübt und dann bis 1969 und von 1973 bis 1986 als Kellner gearbeitet zu haben. Von 1969 bis 1973 sei er selbständiger Gastwirt gewesen. Beim Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie erwähnte er, seit 1956 Schlosser und Kellner, von 1969 bis 1973 Gasthauspächter und anschließend wieder Kellner gewesen zu sein.

In der Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 1988 trug der in erster Instanz nicht vertretene Kläger die "Klage wie ON 1" vor und gab "informativ befragt" an, "als Kellner gearbeitet zu haben, und zwar ab 1964 im Gasthaus W*** in Vösendorf, sodann ab 1965 in Wien 23 im Gasthaus B***; dort sei er Speisenträger gewesen. Bei B*** habe er bis 1969 gearbeitet. Von 1969 bis 1973 sei er selbständiger Gastwirt gewesen und von 1973 bis 1986 habe er bei Edith M***, seiner Ehegattin, wiederum als Kellner gearbeitet. Bei allen genannten Arbeitgebern habe er Speisen ausgetragen und kassiert; sonst habe er nichts gemacht."

Das Erstgericht wies die "Klage gegen den Bescheid vom 26. Juni 1987 mit dem Begehren, die Beklagte sei schuldig, der klagenden Partei eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. Mai 1987 zu gewähren", ab.

Es stellte fest, daß der am 30. Dezember 1942 geborene Kläger bis 1964 als gelernter Schlosser und darnach bis April 1986 als Kellner gearbeitet hat. Dabei hat er Speisen und Getränke serviert. Sonst konnte er sich jedoch keine qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen, welche jenen einer Kellnerlehre gleichzusetzen wären. Der Kläger kann "in zusammenfassender Betrachtung sämtliche Leiden" leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen in normaler Arbeitszeit mit den üblichen Arbeitspausen ausüben und den Arbeitsplatz erreichen. Auszuschließen sind ausgesprochene Hebe- und Tragearbeiten, insbesondere solche in der Gemeinschaft, feinmechanische Arbeiten, Akkord- und Bandarbeiten, Arbeiten an rasch laufend und solchen Maschinen, die das Arbeitstempo diktieren, Arbeiten in Nässe, Kälte und feuchtnassem Milieu ohne Kälteschutz, Arbeiten unter ständigem besonderem Zeitdruck, im Fabriksmilieu und mit besonderer Kraftanstrengung des linken Armes. Seit wann der festgestellte Gesundheitszustand besteht und ob und unter welchen Umständen er besserungsfähig ist, wurde vom Erstgericht nicht festgestellt. Als gleichwertige und zumutbare Verweisungstätigkeiten kommen die Tätigkeiten eines Fabrikswächters, Portiers und Aufsehers in Frage.

Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten erachtete das Erstgericht den Kläger nicht als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG. Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger und unvollständiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen, auf Abänderung iS der Zuerkennung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Mai 1987 oder Aufhebung gerichteten Berufung des Klägers nicht Folge. Die gerügten Verfahrensmängel lägen nicht vor, die Beweise seien zutreffend gewürdigt, die Tatsachen richtig und ausreichend festgestellt, Berufsschutz als Kellner zutreffend verneint worden, weil das bloße Servieren nur eine nicht weit überwiegende Teiltätigkeit des Kellnerberufes darstelle. Wegen der zumutbaren Verweisungstätigkeiten sei der Kläger nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinne abzuändern oder die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuen Entscheidung an die zweite oder erste Instanz zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung. Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.

Zwar können auch in einer Sozialrechtssache vom Berufungsgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (stRspr des erkennenden Senates seit SSV-NF 1/32), so daß die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Abs 1 Z 2 ZPO) nicht vorliegt (§ 510 Abs 3 leg cit). Der Revisionswerber macht jedoch mit Recht geltend, daß für die Beurteilung seiner Invalidität wesentliche Tatsachen schon in erster Instanz nicht festgestellt wurden, daß also im Rahmen der Rechtsrüge zu behandelnde Feststellungsmängel vorlägen.

Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf im Sinne des Abs 1 dieser Gesetzesstelle vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Berufe gleichzuhalten sind.

In den Erläut zum Initiativantrag der 9. ASVGNov, mit der die zitierte Bestimmung eingeführt wurde, wurde ua ausgeführt (517 BlgNR 9. GP 87):

"Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird keine Schwierigkeiten bereiten, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, die ein Versicherter in einem üblicherweise erlernten Beruf ausübt, ohne daß er tatsächlich den Beruf erlernt hat. In solchen Fällen soll es für die Anspruchsberechtigung auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gleichgültig sein, ob die Kenntnisse oder Fähigkeiten durch die Absolvierung eines Lehrverhältnisses oder durch praktische Arbeit erworben wurde. Handelt es sich um Fähigkeiten, für die eine Ausbildung in Form eines Lehrverhältnisses überhaupt nicht vorgesehen ist, wird die Feststellung notwendig sein, daß eine solche Tätigkeit nach den für sie in Betracht kommenden Voraussetzungen im allgemeinen eine ähnliche Summe besonderer Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordert wie die Tätigkeit in einem erlernten Beruf. Es wird sich" - in diesem Fall! - "nicht um den Vergleich mit einem konkreten erlernten Beruf handeln dürfen."

Auch dann, wenn die Kenntnisse oder Fähigkeiten - wie im vorliegenden Fall - an einem bestimmten Lehrberuf zu messen sind, ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse oder Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild dieses Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß der Versicherte über die Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 1/48; 14. Juni 1988 10 Ob S 137/88; 6. September 1988 10 Ob S 41/88; 20. September 1988 10 Ob S 245/88; 8. November 1988 10 Ob S 294/88; 6. Dezember 1988 10 Ob S 316/88).

Ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist eine Rechtsfrage, zu deren Beantwortung - im vorliegenden Fall - detaillierte Feststellungen darüber erforderlich sind, welche Anforderungen an ausgelernte Facharbeiter der Berufsgruppe Kellner üblicherweise gestellt werden und welche qualifizierten Kenntnisse oder Fähigkeiten dieser Berufsgruppe der Kläger wann erworben hat (insb SSV-NF 1/48).

Die bisherigen Feststellungen reichen zu einer verläßlichen Beurteilung des Berufsschutzes des Klägers nicht aus. Da der Kläger im erstgerichtlichen Verfahren nicht von einer qualifizierten Person vertreten wurde, waren ihm gegenüber nach § 87 Abs 3 ASGG die Vorschriften über zugestandene Tatsachen (§§ 266, 267 ZPO) nicht anzuwenden. Gerade wegen der erwähnten Erklärungen des Klägers in der Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 1988 und weil er auch als selbständiger Gastwirt tätig war, sind genauere Feststellungen einerseits über die von ausgelernten Kellnern üblicherweise verlangten und anderseits über die beim Kläger vorhandenen diesbezüglichen Kenntnisse oder Fähigkeiten sowie über die Zeit, seit der er darüber verfügt und sie auch ausgeübt hat, erforderlich.

Sollte sich herausstellen, daß der Kläger überwiegend als angelernter Kellner tätig war, dann wäre noch zu prüfen, ob es nicht eine ausreichende Zahl von Kellnerarbeitsplätzen gibt, für die seine Arbeitsfähigkeit noch ausreicht. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie in der Tatsatzung vom 25. Februar 1988 erklärte, der Kläger könne noch Speisen austragen und kassieren.

Im Hinblick auf § 254 Abs 1 Z 1 bzw 2 ASVG sind auch Feststellungen erforderlich, seit wann der Gesundheitszustand des Klägers besteht und ob und unter welchen Bedingungen eine Besserung angenommen werden kann. Dazu wird darauf hingewiesen, daß beide Sachverständige erklärt haben, der Gesundheitszustand bestehe seit der Antragstellung, daß aber der Sachverständige für Chirurgie erwähnte, eine Besserung sei durchaus zu erwarten, während der Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie zur Besserungsfähigkeit nicht Stellung nahm.

Nach dem gemäß § 513 ZPO auch im Revisionsverfahren anzuwendenden § 496 Abs 1 Z 3 leg cit waren die Urteile der Vorinstanzen wegen Feststellungsmängeln aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückzuverweisen.

Der Vorbehalt hinsichtlich der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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