Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung der ersten Instanz wiederhergestellt wird. Der Kläger hat die Berufungskosten selbst zu tragen. Die Revisionsbeantwortung wird zurückgewiesen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 28. November 1986 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 19. August 1986 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Dagegen erhob der Kläger rechtzeitig Klage. Darin behauptete er ua, daß er Schmerzen bekomme, wenn er längere Zeit auf den Beinen sei. Auch beim Sachverständigen für innere Medizin klagte er über Schmerzen am rechten Bein; er könne plötzlich nicht mehr gehen und brauche dann eine Injektion (ON 6 AS 15). Vor dem Sachverständigen für Neurologie sprach er ebenfalls von Beinschmerzen (ON 7 AS 21). Dem Sachverständigen für Orthopädie gab er diesbezüglich an, seit Jahren wechselnde Schmerzen im rechten Bein und in der linken Schulter zu haben. Die Beinschmerzen seien ständig vorhanden und würden beim Gehen stärker. Wenn er starke Schmerzen habe, sei er wie gelähmt und könne sich nicht mehr bewegen (ON 10 AS 43). Er begehrte die abgewiesene Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1. September 1986. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht wies die Klage ab.
Es stellte im wesentlichen fest, daß der (am 28. April 1943 geborene) Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hilfsarbeiter, Tankwart, Monteurhelfer und Lagerarbeiter beschäftigt war und an folgenden Krankheiten leidet: Periarthritis des linken Schultergelenkes mit erheblichen Bewegungseinschränkungen desselben, Arthritis der Kreuz-Darm(bein)gelenke, wobei eine beginnende Bechterewsche Erkrankung möglich wäre, ausgeprägte chronische Leberschädigung, wahrscheinlich schon Zirrhose; deutlich herabgesetzte Belastbarkeit des linken Armes, mäßig herabgesetzte Belastbarkeit der Wirbelsäule, leichte Ermüdbarkeit. Wegen seines jedenfalls seit August 1986 bestehenden Gesundheitszustandes kann der Kläger nurmehr leichte Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen leisten. Er kann ununterbrochen höchstens 15 Minuten im Gehen oder Stehen arbeiten und muß dann mindestens eine halbe Stunde im Sitzen arbeiten können. Er muß jedoch die Möglichkeit haben, während der Arbeit die Haltung häufig zu wechseln. Ausgeschlossen sind Heben und Tragen von über 5 kg schweren Lasten, häufiges Bücken, Arbeiten in vorwiegend vorgeneigter gebückter Stellung und Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten und in nicht geschlossenen Räumen. Die Beratung von Kunden ist nicht möglich, wohl aber die Erteilung einfacher Auskünfte. Die zumutbaren Arbeiten können während einer täglichen Arbeitszeit von acht Stunden mit den üblichen Unterbrechungen geleistet werden. "Dem Kläger ist ein Anmarschweg zur Arbeitsstätte in der Form möglich, daß er eine Wegstrecke von 500 m zum öffentlichen Verkehrsmittel und nach Benützung des öffentlichen Verkehrsmittels eine Wegstrecke von weiteren 500 m zur Arbeitsstelle zurücklegen kann." Diese Leistungsfähigkeit wird in den Tätigkeiten eines Portiers, Flaschenabfüllers und Abfüllarbeiters nicht überfordert.
Deshalb erachtete das Erstgericht den Kläger als nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger bzw mangelhafter Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers Folge, erklärte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1. September 1986 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen und ihm bis zur Erlassung des die Höhe festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 5.000,-- zu erbringen. Die zweite Instanz erachtete zwar die Beweis- und Tatsachenrüge als nicht berechtigt, wohl aber im Ergebnis die Rechtsrüge. Nach herrschender Rechtsprechung schließe eine Anmarschbeschränkung unter 1 km vom Arbeitsmarkt aus. Dies sei beim Kläger der Fall, weil er bereits nach einer Wegstrecke von 500 m eine Pause in der Form machen müsse, daß er sich in ein öffentliches Verkehrsmittel begebe. Daß er insgesamt 1 km gehen könne, sei daher unerheblich. Da in weiten Teilen des Bundesgebietes längere Strecken als 500 m zu einem öffentlichen Verkehrsmittel zurückgelegt werden müßten, sei der Kläger vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die nicht binnen vier Wochen ab der Zustellung der Revisionsschrift (6. Juli 1988), sondern erst am 12. September 1988 erstattete Revisionsbeantwortung war als verspätet zurückzuweisen (§ 507 Abs 2 ZPO). Die Bestimmungen über die Gerichtsferien sind in Sozialrechtssachen nicht anzuwenden (§ 39 Abs 4 ASGG).
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Der Kläger würde auch dann als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG gelten, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande wäre, einen Arbeitsplatz unter zumutbaren Bedingungen zu erreichen, weil er dann vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre. Dabei kommt es allerdings nicht allein auf die Verhältnisse im Wohnort an, weil ein Versicherter - falls nicht medizinische Gründe entgegenstehen - auch einen Wohnortswechsel anstreben und in Kauf nehmen muß (SSV-NF 1/20). Vom Versicherten ist auch zu verlangen, daß er ein öffentliches Verkehrsmittel benützt, wenn ihm dies auf Grund seines körperlichen und geistigen Zustandes zugemutet werden kann.
Aus den Feststellungen ergibt sich, daß der Kläger auf dem Weg zum und von der Arbeitsstelle ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vor und nach der Benützung eines solchen Verkehrsmittels Gehstrecken von jeweils 500 m zurücklegen kann. Nach einer in den letzten Jahren vom Österreichischen Institut für Raumplanung durchgeführten Untersuchung über die Erreichbarkeitsverhältnisse in Österreich, deren Ergebnisse in einer Schrift mit dem Titel "Erreichbarkeitsverhältnisse im Individual- und im öffentlichen Verkehr in Österreich" zusammengefaßt sind, wohnen 73 % der Berufstätigen innerhalb einer Entfernung von 500 m zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels. In Städten über 100.000 Einwohnern, in denen etwa 30 % aller Erwerbstätigen leben, müssen sogar etwa 91 % aller Berufstätigen zwischen der Wohnung und der nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels höchstens 500 m zurücklegen. In Salzburg, dem Wohnort des Klägers, beträgt dieser Prozentsatz 89,6, in Graz 89,9, in Linz und Innsbruck 91,2 und in Wien sogar 94,9. In den angeführten österreichischen Großstädten müssen etwa 95 % der Berufstätigen von der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels bis zum Arbeitsplatz im Durchschnitt nicht mehr als 500 m zurücklegen. In Linz beträgt dieser Prozentsatz 89,7, in Salzburg 93,6, in Graz 95,4, in Innsbruck 96,7 und in Wien sogar 98,2. Unter Berücksichtigung dieser aktuellen Verhältnisse auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt ist ein Versicherter davon wegen einer Gehbehinderung dann nicht ausgeschlossen, wenn er ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher und nachher unter zumutbaren Bedingungen eine Wegstrecke von jeweils mindestens 500 m bewältigen kann. In einem solchen Fall werden an den Versicherten keine höheren Anforderungen gestellt als an den überwiegenden Teil aller anderen Berufstätigen Österreichs.
Der Revision war daher Folge zu geben und das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung des klageabweisenden erstgerichtlichen Urteils abzuändern.
Die Entscheidung über die Kosten der Berufung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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