Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen, das auf die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gleich Verfahrenskosten erster Instanz Bedacht zu nehmen haben wird.
Text
Begründung
Die Klägerin begehrt, die beklagte Partei zur Leistung einer Invaliditätspension ab 1. März 1986 zu verpflichten. Zufolge verschiedener schwerer Leidenszustände sei sie nicht imstande, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Sie habe den Beruf einer Näherin erlernt und diesen auch ausgeübt. Zufolge ihrer gesundheitsbedingten Behinderungen sei sie nicht in der Lage, die erforderliche Leistung zu erbringen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Die Klägerin sei weiterhin in der Lage, als Weißnäherin tätig zu sein. Das Erstgericht gab dem Begehren der Klägerin statt, wobei es seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehenden Sachverhalt zugrundelegte:
Bei der Klägerin liegt eine Eisenmangelanämie geringen Grades bei etwas reduziertem körperlichen Kräftezustand vor. Weiters findet sich eine angeborene beiderseitige Hüftdysplasie und beiderseitige angeborene Fußdeformität bei Zustand nach Verlängerungsoperation beider Achillessehnen mit entsprechender Gangbehinderung seit Kindheit. Darüberhinaus besteht ein neurasthenisches Zustandsbild sowie ein Zustand nach Morbus Littl mit hirnorganischen Zeichen. Weiters besteht ein geringes Einwärtsschielen des linken Auges (Mikrostratismus), geringe Schielschwachsichtigkeit des linken Auges sowie anlagebedingte Übersichtigkeit beider Augen. Die Klägerin kann leichte Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, nicht mehr als ein Viertel der Gesamtarbeitszeit im Gehen und/oder Stehen, dies nicht in geschlossener Folge leisten. Arbeiten an erhöhten exponierten Stellen, worunter bereits auch das Besteigen von Schemeln oder ähnlichem zu verstehen ist, scheiden aus. Arbeiten unter besonderem Zeitdruck sind nicht möglich. Die Klägerin ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. die Fingerfertigkeit ist erhalten, das Zurücklegen der Anmarschwege ist gewährleistet. Die Klägerin kann nur solche Tätigkeiten verrichten, die kein räumliches Sehen erfordern. Das Zurücklegen der Anmarschwege ist gewährleistet. Der Zustand besteht seit Antragstellung. Die am 9. Oktober 1965 geborene Klägerin hat die Lehrabschlußprüfung im Lehrberuf Wäschewarenerzeuger am 27. Juni 1983 mit Auszeichnung bestanden. Im Anschluß daran war sie bei der Firma Eduard L***,
Wäschefabrik, in der Zeit vom 8. August 1983 bis 12. Juli 1985 als Näherin beschäftigt. In diesem Betrieb werden Blusen und Hemden in Konfektion hergestellt. Die Klägerin leistete die qualifizierte Arbeit einer Näherin. Sie erbrachte jedoch bei qualitativ guter Arbeitsleistung lediglich eine Mengenleistung im Ausmaß von 15 bis 20 % der normalen Leistung. Die Klägerin arbeitete dabei auf einem geschützten Arbeitsplatz, vom Arbeitsamt wurde eine Lohnunterstützung gewährt. Die Klägerin konnte eine 50 %-ige Mengenleistung nicht erreichen. Trotz Förderung durch das Arbeitsamt wurde infolge der zu geringen Mengenleistung eine Beendigung des Dienstverhältnisses durch den Dienstgeber herbeigeführt. Der Beruf einer Näherin erfordert fallweise mittelschwere Arbeit, die das medizinische Leistungskalkül überschreiten. Die Klägerin könnte zwar die von ihr bis zum Jahr 1985 ausgeübte konkrete Tätigkeit nach einer gewissen Übungsphase wieder verrichten, könnte aber den Beruf einer Näherin am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erlangen, da sie nicht einmal in der Lage ist, auch nur annähernd 50 % der geforderten Mengenleistung zu erbringen; sie könnte auch die aus dem Berufsbild sich ergebenden fallweisen mittelschweren Arbeiten nicht leisten.
Hieraus zog das Erstgericht den Schluß, daß die Voraussetzungen des § 255 ASVG erfüllt seien und damit dem erhobenen Begehren Berechtigung zukomme.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte dieses Urteil in klageabweisendem Sinn ab. Voraussetzung des Anspruches nach § 255 ASVG sei, daß eine früher bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachteilige Entwicklungen beeinträchtigt worden sei. Nur dann könne von einem "Herabsinken" der Arbeitsfähigkeit gesprochen werden. Dies sei aber bei der Klägerin nicht der Fall, weil nach den Feststellungen ihre mehrfachen gesundheitlichen Beeinträchtigungen seit Geburt bzw. seit früher Kindheit bestehen. Da eine Veränderung seit dem Zeitpunkt der Aufnahme ihrer Arbeitstätigkeit nicht eingetreten sei, seien die Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht erfüllt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne einer Wiederherstellung der Entscheidung der ersten Instanz abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinn des Eventualantrages berechtigt. Den rechtlichen Ausführungen des Berufungsgerichtes ist grundsätzlich beizutreten. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 1987, 10 Ob S 62/87, ausgeführt hat, ergibt sich aus den im § 255 ASVG formulierten Invaliditätsbegriffen: "wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes......herabgesunken ist" (Absatz 1 und 5) bzw. "wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine (diese) Tätigkeit wenigstens ein (bestimmtes Mindest-)Entgelt zu erwerben" (Absatz 3 und 4), daß die Voraussetzungen dieser Gesetzesstellen, bei denen es um einen Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit geht, nur dann vorliegen, wenn sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher und geistiger Zustand, kann bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat zur Voraussetzung, daß eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit, die zumindest die Hälfte der eines körperlich und geistig gesunden Versicherten erreicht haben müßte, durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde (so auch 10 Ob S 44/87).
Zu Recht wendete die Revision allerdings ein, daß die vorliegenden Feststellungen keine ausreichende Grundlage für die abschließende Entscheidung bilden. Aus dem den Entscheidungen der Vorinstanzen zugrundeliegenden Sachverhalt ergibt sich, daß bestimmte Leidenszustände der Klägerin angeboren sind bzw. seit Kindheit bestehen. Hinsichtlich der übrigen Leidenszustände läßt der bisher festgestellte Sachverhalt nicht erkennen, seit wann sie vorliegen. Es fehlen Feststellungen, seit wann der Gesamtleidenszustand der Klägerin besteht, ob sich in diesem Zustand seit Beginn ihrer Arbeitstätigkeit eine Veränderung ergeben hat, allenfalls welcher Art diese Veränderung war, ob die Klägerin je arbeitsfähig war und unter welchen genauen Bedingungen sie die Lehrzeit zurücklegte. Festgestellt wurde wohl, daß die Klägerin im Rahmen ihrer Beschäftigung bei der Firma Eduard L*** auf einem geschützten Arbeitsplatz tätig war und dort beschäftigt war, obwohl sie die erforderliche Mengenleistung nicht erbringen konnte. Unter welchen Voraussetzungen sie ihre Lehrzeit absolvierte und ob sie damals in der Lage war, die erforderliche Mengenleistung zu erbringen, steht nicht fest. In diesen Punkten erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.
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