Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 26. Februar 1986 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 19. Dezember 1985 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension (ab 1. Jänner 1986) ab.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Es stellte fest, daß der am 28. August 1935 geborene Kläger noch in der Lage ist, alle leichten und fallweise auch mittelschweren Arbeiten nicht ausschließlich im Gehen und Stehen ohne Arbeitspausen, die über das physiologische Ausmaß hinausgehen, zu verrichten. Das vorübergehende Arbeiten im Gehen und Stehen sollte 30 Minuten in ununterbrochener Folge nicht überschreiten. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten, die mit häufigem Bücken oder dem Heben schwerer Gegenstände von über 15 Kilogramm verbunden sind, können dem Kläger nicht mehr zugemutet werden. Arbeiten, die in der kalten Jahreszeit nur unter der Gefahr einer Unterkühlung oder Durchnässung zu leisten sind, sollten vermieden werden. Öffentliche Verkehrsmittel können benützt werden. Bei Durchführung energischer Abmagerungsmaßnahmen könnte sich der Zustand des Klägers wesentlich bessern. Der Kläger war ab 5. Mai 1959 in der V*** A*** AG
beschäftigt. Vom 1. April 1967 bis 30. November 1984 führte er als Springer-Ablöser die Tätigkeiten eines ersten Walzers, eines zweiten Walzers, eines Rollgangfahrers und eines Schraubers aus. Die Anlernzeit dauerte von 1967 bis 1972, da ein Springer-Ablöser an mehreren Steuerständen angelernt werden muß. Der Kläger wurde zwar als Hilfsarbeiter geführt, nach der analytischen Arbeitsplatzbeschreibung ist seine Tätigkeit aber der eines Facharbeiters der Gruppen 1, 2 und 3 gleichzusetzen, auch die Entlohnung entsprach der eines Facharbeiters. Die Stammarbeiter arbeiten während einer 8-stündigen Schicht nur 6 1/2 Stunden, eineinhalb Stunden lang haben sie Pause. Während dieser Zeit springt ein Springer-Ablöser, wie es der Kläger war, ein. Dies bedeutet, daß der Kläger während einer 8-stündigen Schicht 4 verschiedene Arbeitsplätze einzunehmen hatte. Es gibt in Österreich keinen Lehrberuf, der mit der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit vergleichbar wäre. Die Fähigkeiten und Kenntnisse, die der Kläger benötigte, entsprechen keinem der geregelten Lehrberufe, sie stellen auch nicht Teiltätigkeiten eines Lehrberufes dar. Die Arbeit des Klägers war nicht einfacher Art sondern erforderte qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten. Sie entsprach zwar keinem Lehrberuf, nach ihrem Umfang und Niveau und nach der damit verbundenen Verantwortung war sie jedoch qualifiziert, es mußten dazu Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, für die eine Einschulung oder Anlernung notwendig war, die etwa dem Umfang einer Lehre entsprachen.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht die Tätigkeit des Klägers nicht als angelernten Beruf im Sinne des § 255 Abs. 2 ASVG, weil dessen Beschäftigung mangels eines artähnlichen Lehrberufes mit einem solchen nicht vergleichbar sei. Der Kläger habe zwar eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt, genieße aber keinen Berufsschutz, weil dieser nur eingreife, wenn ein Vergleich mit einem Lehrberuf möglich sei.
Da der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch auf die Tätigkeiten eines Bürohaus- oder Tagportiers, eines Etikettierers oder auf einfache Montiertätigkeiten u.dgl. verweisbar sei, sei er nicht invalide im Sinne des § 255 Abs. 3 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es sprach aus, daß das Verfahren erst nach Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses fortzusetzen sei. Das Berufungsgericht billigte die Rechtsansicht des Berufungswerbers, daß eine angelernte Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs. 2 ASVG auch dann vorliege, wenn sie zwar keinem gesetzlich geregelten Lehrberuf entspreche, wegen der erforderlichen Ausbildung und der notwendigen Spezialkenntnisse sowie der großen Verantwortung Kenntnissen in einem Lehrberuf jedoch gleichzuhalten sei. Der vom Gesetzgeber im § 255 Abs. 2 ASVG vorgegebene Maßstab sei nicht so eng auszulegen, daß sich ein erlernter (gemeint wohl angelernter) Beruf inhaltlich mit einem bestimmten Lehrberuf decken müsse, es genüge vielmehr, wenn Art und Ausmaß der erworbenen Fähigkeiten gleich hoch einzuschätzen seien wie die Ausbildung in einer Lehre. Diese Voraussetzungen aber seien beim Kläger gegeben. Dieser dürfe daher nicht generell auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden, sondern nur auf Tätigkeiten, welche ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die bisherige Tätigkeit erforderten. Dazu aber bedürfe es noch ergänzender Begutachtung durch den berufskundlichen Sachverständigen.
Gegen diesen Beschluß richtet sich der "Revisionsrekurs" (richtig Rekurs) der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, ihn aufzuheben und das Ersturteil wiederherzustellen.
Dem Rekurs kommt keine Berechtigung zu.
Die beklagte Partei meint, der Text des § 255 Abs. 2 ASVG stelle ausdrücklich auf eine Gegenüberstellung erlernt-angelernt ab, einen "angelernten" Beruf könne es daher nur dann geben, wenn dieser auch "erlernt" werden könne, die angelernten Kenntnisse sich also im wesentlichen mit jenen eines gesetzlich geregelten Lehrberufes decken.
Rechtliche Beurteilung
Nach § 255 Abs. 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf im Sinne des Abs. 1 vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Schon aus der Formulierung "gleichzuhalten sind" ergibt sich klar, daß die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse nicht jene eines bestimmten gesetzlich geregelten Lehrberufes sein, sondern den in einem Lehrberuf erworbenen besonderen Kenntnissen und Fähigkeit an Qualität und Umfang nur entsprechen müssen, auch wenn es keinen gleichartigen gesetzlich geregelten Lehrberuf gibt. Daß auch der Gesetzgeber dieser Auffassung war, ergibt sich eindeutig aus den Erläuterungen zum Initiativantrag zur 9. Novelle zum ASVG (517 BlgNR IX, GP 86) mit welcher die Bestimmung des § 255 Abs. 2 eingeführt wurde. Darin heißt es u.a.: "Die große Schwierigkeit bei der Neuformulierung des Begriffes "Invalidität" hat sich aus der Frage ergeben, für welche Kategorien der angelernten Arbeiter gleichfalls der "Berufsunfähigkeits"-Begriff maßgebend sein soll. Es lag daher nahe, den Begriff "angelernter" Beruf im Gesetz selbst zu definieren. Nur dann, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die die qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten durch praktische Arbeit erworben werden müssen und diese Kenntnisse und Fähigkeiten jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind, soll ein angelernter Beruf als gegeben angenommen werden. Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird keine Schwierigkeiten bereiten, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, die ein Versicherter in einem üblicherweise erlernten Beruf ausübt, ohne daß er tatsächlich den Beruf erlernt hat. In solchen Fällen soll es für die Anspruchsberechtigung auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gleichgültig sein, ob die Kenntnisse oder Fähigkeiten durch die Absolvierung eines Lehrverhältnisses oder durch praktische Arbeit erworben wurden. Handelt es sich um Fähigkeiten, für die eine Ausbildung in Form eines Lehrverhältnisses überhaupt nicht vorgesehen ist, wird die Feststellung notwendig sein, daß eine solche Tätigkeit nach den für sie in Betracht kommenden Voraussetzungen im allgemeinen eine ähnliche Summe besonderer Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordert, wie die Tätigkeiten in einem erlernten Beruf. Es wird sich nicht um den Vergleich mit einem konkreten erlernten Beruf handeln dürfen". Daraus ergibt sich klar, daß gerade für jene angelernten Berufe, für die kein entsprechender Lehrberuf vorgesehen ist, Berufsschutz gewährt werden soll, wenn damit gleichartige und gleichwertige qualifizierte Kenntnisse verbunden sind. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere die Spezialisierung in Großunternehmen haben es notwendig gemacht, für ganz bestimmte qualifizierte Aufgaben die Arbeiter, sei es in eigenen Werkstätten und Ausbildungskursen, sei es am konkreten Arbeitsplatz, selbst auszubilden (anzulernen), weil die durch die herkömmlichen Lehrberufe vermittelte Ausbildung für die besonderen Aufgaben einerseits nicht genügt, andererseits in der Praxis entbehrlich ist. Dies schon deshalb, weil sich schon die rein manuelle Tätigkeit der Arbeiter in hochtechnisierten Betrieben immer mehr auf die Bedienung und Wartung neuer technischer Geräte verlagert hat. Richtig ist das Berufungsgericht daher zu der rechtlichen Beurteilung gelangt, daß die Frage, ob der Kläger invalide ist, nach § 255 Abs. 2 ASVG und nicht nach dessen Abs. 3 zu beurteilen ist, sodaß der Revision keine Folge zu geben war. Im bisherigen Verfahren fehlen allerdings Feststellungen über die körperlichen und geistigen Belastungen, die mit der Tätigkeit des Klägers verbunden sind, sodaß noch nicht beurteilt werden kann, ob er in der Lage ist, diese Arbeit weiter zu verrichten. Erst wenn dies nicht der Fall sein sollte, wäre zu prüfen, ob der Kläger artverwandte Tätigkeiten ausüben könnte.
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