OGH 8Ob64/86

OGH8Ob64/8617.12.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Vogel, Dr.Kropfitsch und Dr.Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hermine K***, Pensionistin, Hagengasse 2/3/16, 1150 Wien, vertreten durch Dr. Othmar Slunsky, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Gerhard K***, Radiomechanikergeselle, Degengasse 54/3/26, 1160 Wien, vertreten durch Dr.Peter Schmautzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 760.993 S s. A. und Feststellung (60.000 S), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 22.Mai 1986, GZ 15 R 91/86-33, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Teil- und Teilzwischenurteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 10.November 1985, GZ 18 Cg 727/84-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen, die insoweit, als das Klagebegehren dem Grunde nach mit ein Drittel als zu Recht bestehend erkannt und festgestellt wurde, daß die Beklagten für alle Folgen aus dem Unfall vom 16.August 1985 in Wien zu ein Drittel zu haften haben sowie der Beklagte schuldig ist, dem Kläger den Betrag von 4.117 S samt 4 % Zinsen seit 7.Dezember 1983 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen, als nicht in Beschwerde gezogen unberührt bleiben, werden im übrigen aufgehoben; die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 16. August 1975 ereignete sich in Wien auf der Kreuzung Gablenzgasse-Fröbelgasse-Markgraf Rüdigerstraße ein Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin als Fußgängerin und der Beklagte als Lenker und Halter des PKW Peugeot 504, W 471.386, beteiligt waren. Der Beklagte wurde wegen dieses Unfalles des Vergehens nach § 88 Abs 1 und 4, erster Fall, StGB vom Strafbezirksgericht Wien mit dem vom Landesgericht für Strafsachen Wien mit der Entscheidung vom 17.April 1984, AZ 13 C Bl 356/84, bestätigten Urteil vom 11.Jänner 1984 zu GZ 13 U 1558/83-5, verurteilt, wobei ihm vorgeworfen wurde, daß er Hermine K*** unter Außerachtlassung der im Straßenverkehr gebotenen Vorsicht niederstieß.

Die Klägerin stellte aus diesem Unfall Schadenersatzansprüche in der Gesamthöhe von 700.993 S, darunter ein Schmerzengeld von rechnungsmäßig (d.h. ohne Berücksichtigung einer Teilzahlung von 60.000 S) 400.000 S. Sie brachte vor, daß der Beklagte sie beim Überqueren der Fahrbahn der Gablenzgasse unter Einhaltung einer relativ überhöhten Geschwindigkeit aus Unaufmerksamkeit nierdergestoßen habe. Sie sei zum Unfallszeitpunkt 78 Jahre alt gewesen und habe die Fahrbahn dementsprechend langsam überquert. Als sie diese betrat, habe sich der PKW des Beklagten noch außerhalb jedes Gefahrenbereiches befunden; als er sich einige Sekunden später der Überquerungslinie näherte, sei sie vernünftigerweise stehen geblieben, weil sie keine Gewißheit gehabt habe, bei ihrer langsamen Gehgeschwindigkeit noch rechtzeitig aus dem Bereich des PKW zu gelangen. Der Beklagte habe sich jedoch verlassen, daß sie weiter die Fahrbahn überqueren würde und habe hinter ihr vorbeifahren wollen. Bei diesem Unfall sei sie schwer verletzt worden und habe eine schwere Gehirnerschütterung und mehrfache Brüche erlitten, welche Dauerfolgen nach sich gezogen hätten.

Der Beklagte räumte einen Verschuldensanteil von einem Drittel ein. Die Klägerin treffe jedoch ein Mitverschulden von zwei Drittel, weil sie die Straße nicht entsprechend der Vorschrift des § 76 Abs 5 StVO in angemessener Eile überquert und sich vorher nicht entsprechend vergewissert (AS 11) habe. Darüber hinaus wendete der Beklagte zwei Drittel des Schadens an seinem PKW in der Höhe von 4.000 S, somit 3.333 S, aufrechnungsweise gegen den Klageanspruch ein.

Mit Teilurteil und Zwischenteilurteil erklärte das Erstgericht das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht und die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend, verurteilte den Beklagten zur Bezahlung eines Betrages von 232.350 S und gab darüber hinaus dem Feststellungsbegehren statt. Es traf nachstehende Feststellungen:

Der Beklagte fuhr gegen 8,25 Uhr mit seinem PKW die Gablenzgasse stadteinwärts. Er hielt eine Geschwindigkeit von ca. 40 bis 50 km/h ein. Die Gablenzgasse wird stadteinwärts als Einbahnstraße geführt. Sie weist zwei Fahrstreifen und zwei Parkstreifen auf. Die Klägerin war zum Unfallszeitpunkt 78 Jahre alt und konnte sich wegen zweier Hüftgelenksoperationen nur schlecht und langsam bewegen. Ihre Gehgeschwindigkeit betrug ca. 3 km/h oder 0,83 m/sec. Sie beabsichtigte die Gablenzgasse von der Markgraf-Rüdigergasse kommend zu Fuß von rechts nach links, aus der Fahrtrichtung des Beklagten gesehen, zu überqueren. Als die Klägerin auf die Fahrbahn trat, und ca. 1,5 m von der Gehsteigkante entfernt war, wurde sie vom Beklagten wahrgenommen. Er beabsichtigte, rechts hinter der Klägerin vorbeizufahren. Als die Klägerin etwa 3,5 m auf der Fahrbahn zurückgelegt hatte, nahm sie den PKW des Beklagten wahr und blieb stehen. Aufgrund ihres Alters und der beiden Hüftgelenksoperationen war es ihr nur möglich, die Fahrbahn mit einer Geschwindigkeit von kaum mehr als 3 km/h oder 0,83 m/sec. zu überqueren. Die Kollisionsposition befand sich ca. 3,5 m vom rechten Fahrbahnrand entfernt, wobei nach Abzug von 1 m Gehstrecke für den Auffälligkeitswert des Betretens der Fahrbahn und der Möglichkeit, die Gefahr zu erkennen, schließlich noch 2,5 m von der Fußgängerin im möglichen Gefahrenerkennungsbereich des Beklagten zurückgelegt wurden. Bei der Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h sind dies 3,0 Sekunden, die im Gefahrenerkennungsbereich des Beklagten vergingen. Berücksichtigt man eine Bremsausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h, so betrug die Abwehrzeit 1,2 Sekunden und bei 50 km/h 2,0 Sekunden. Die Reaktionsverspätung des Klägers betrug je nach Bremsausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h bzw. 50 km/h zwischen 1 und 1,8 Sekunden. Dem Beklagten wäre es möglich gewesen, durch eine geringfügig frühere Reaktion nämlich durch einen früheren Bremseinsatz, der ihm schon aufgrund der Überquerungslinie der Fußgängerin zumutbar gewesen wäre, den Unfall zu verhindern. Auch durch ein geringfügiges Auslenken nach links hätte bei einer Seitenversetzung von 50 cm der Unfall bereits vermieden werden können.

Die Klägerin erlitt bei dem Unfall schwere Verletzungen, und zwar eine Gehirnerschütterung, eine Rißquetschwunde an der Stirne, tiefe Hautabschürfungen im Bereich der linken Augenbraue, Bruch der

3. und 4. Rippe links und der 2.-4. Rippe rechts, Bluterguß im Brustkorb, Bruch des Oberarmes links unter dem Oberarmkopf, Sprengung der Schien- und Wadenbeinverbindungen links und offenen Bruch des inneren Knöchels und Bruch des Wadenbeines, Verrenkung des Sprungbeines nach außen und hinten, Bruch des inneren und äußeren Knöchels rechts mit Teilverrenkung und des Sprungbeines nach innen und mehrfache Schnittwunden am rechten Oberschenkel. Aufgrund dieser Verletzungen mußte sie vier Tage lang besonders qualvolle Schmerzen, 16 Tage starke Schmerzen, 32 Tage mittelstarke und 5 Monate geringgradige Schmerzen, komprimiert jeweils auf 24 Stunden erdulden. Diese Schmerzperioden gelten bis zum 8.November 1984, wobei für die Klägerin pro Lebensjahr noch je 3 Monate leichte Schmerzen zu erdulden sein werden. Bei der Klägerin sind Dauerfolgen aus dem Unfall zu erwarten.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, daß der Beklagte nicht damit rechnen durfte, die Klägerin würde die Fahrbahn in einem Zug überqueren, weil der Vertrauensgrundsatz nach § 3 StVO keine Anwendung finde, wenn es sich um offensichtlich gebrechliche Personen handelt. Er habe daher um mindestens eine halbe Sekunde zu spät reagiert oder hätte durch eine Ausweichbewegung von 50 cm nach links den Unfall verhindern können. Die Klägerin habe die Fahrbahn nicht unangemessen langsam überquert. Ihr Stehenbleiben auf der Fahrbahn sei durch die Verkehrslage bedingt gewesen. Bis zur Tagsatzung vom 18.September 1985 gebührten der Klägerin 290.000 S an Schmerzengeld, was unter Berücksichtigung der Akontozahlung von 60.000 S 230.000 S ergebe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge, sondern bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung. Es vertrat die Auffassung, daß der Klägerin nicht vorgeworfen werden könne, auf der Fahrbahn stehen geblieben zu sein, diese daher kein Mitverschulden treffe. Das Erstgericht habe das Schmerzengeld trotz globaler Geltendmachung nur bis zum 18.September 1985 zuerkannt, wozu es berechtigt gewesen sei, weil bei dem hohen Alter der Klägerin eine Prognose über die Dauer ihrer weiteren Schmerzen mit einem zu hohen Unsicherheitsfaktor verbunden wäre.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision des Beklagten aus dem Anfechtungsgrund des § 503 Abs 1 Z 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß das Klagebegehren nur auf der Basis einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der Klägerin zu Recht bestehe, die Gegenforderung mit 3.333 S berechtigt sei, der Beklagte lediglich zur Bezahlung von 4.117 S s.A. verurteilt und festgestellt werde, daß er für die Unfallsfolgen nur zu 1/3 haftbar sei; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Der Beklagte rügt zutreffend, daß entsprechende Feststellungen darüber fehlen, wie weit der PKW des Beklagten entfernt war, als die Klägerin begann, die Gablenzgasse zu überqueren. Der Beklagte hat ua ausdrücklich vorgebracht (AS 11), daß die Klägerin ein Mitverschulden von 2/3 am Unfall auch deshalb treffe, weil sie sich nicht entsprechend vergewisserte, ob sie die Fahrbahn rechtzeitig überqueren werde können. Bei der Beurteilung ihres Mitverschuldens kommt es daher nicht bloß auf die bisher von den Vorinstanzen behandelte Frage an, ob sie in angemessener Eile über die Gablenzgasse ging und ob sie nach Erkennung der Gefahrenlage auf der Fahrbahn stehen bleiben durfte, sondern zu einem wesentlichen Teil auch darauf, ob sie überhaupt berechtigt war, die Fahrbahn noch vor dem herannahenden PKW des Beklagten zu betreten. Nach ständiger Rechtsprechung müssen Fußgänger vor dem Überqueren der Fahrbahn die Verkehrslage sehr sorgfältig prüfen (ZVR 1979/126 uza); sie dürfen gemäß dem letzten Satz des § 76 Abs 5 StVO den Fahrzeugverkehr nicht behindern. Demgemäß haben sie die Annäherungsgeschwindigkeit von Fahrzeugen in Relation zu ihrer eigenen Gehrichtung und Gehgeschwindigkeit zu setzen und von der Überquerung der Fahrbahn Abstand zu nehmen, wenn dies nicht mehr gefahrlos möglich ist. Die Vorinstanzen haben den dargestellten Gesichtspunkten bisher nicht das ihnen zukommende Augenmerk zugewendet und ungeklärt gelassen, ob die Klägerin unter Zugrundelegung der dargelegten Komponenten die Gablenzgasse noch vor dem sich nähernden Fahrzeug des Beklagten überqueren durfte oder zufolge dessen Annäherung schon verpflichtet war, die Vorbeifahrt des PKWs abzuwarten und erst dann auf die andere Straßenseite hinüber zu gehen. Die Frage des Mitverschuldens der Klägerin ist daher noch nicht erschöpfend behandelt, was im Umfang der Anfechtung durch den Beklagten und dessen Einwendung, wonach die Klägerin ein Mitverschulden am Unfall von 2/3 trifft, die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Rückverweisung der Rechtssache an das Gericht erster Instanz zur Verfahrensergänzung in der dargelegten Richtung sowie zur neuerlichen Entscheidung erfordert.

Der Beklagte wendet sich in seiner Revision auch gegen die Höhe des zuerkannten Schmerzengeldes und gegen dessen Teilbemessung. In diesem Belang wies das Berufungsgericht darauf hin, daß das Erstgericht das Schmerzengeld mit Recht nur bis zum Schluß der mündlichen Streitverhandlung vom 18.September 1985 festsetzte, weil eine verläßliche Prognose über die Dauer der weiteren Schmerzen der Klägerin nicht möglich ist. Der Oberste Gerichtshof geht hiezu jedoch von der Erwägung aus, daß das Schmerzengeld grundsätzlich eine einmalige Abfindung für alles Ungemach sein soll, das der Verletzte voraussichtlich zu erdulden hat. Es soll den gesamten Komplex der Schmerzempfindungen, auch soweit er für die Zukunft überblickt werden kann, umfassen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß das Schmerzengeld vorerst für einen bestimmten Zeitraum zuerkannt wird. Dies ist aber nur für den Fall zulässig, daß die Auswirkungen der Verletzungen hinsichtlich der Schmerzen für die Zukunft nicht oder nicht im vollen Umfang abgeschätzt werden können (vgl. ZVR 1974/116; 2 Ob 52/77). Dies ist im vorliegenden Verfahren, in welchem lediglich ungewiß ist, wie lange die Klägerin tatsächlich leben wird - was in nahezu allen anderen vergleichbaren Fällen letztlich ebenfalls nicht exakt prognostizierbar bleibt - nicht der Fall. Der Oberste Gerichtshof erachtet daher die Voraussetzungen für eine globale Bemessung des Schmerzengeldes auch im vorliegenden Fall für gegeben. Unter Bedachtnahme auf die Dauer und Intensität der Schmerzen nach ihrem Gesamtbild, auf die Schwere der Verletzungen und auf das Maß der physischen und psychischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes (vgl. SZ 23/71 uva) erscheint die globale Bemessung des der Klägerin gebührenden Schmerzengeldes mit insgesamt 290.000 S als angemessen.

Die dargelegten Grundsätze haben - da die Fällung eines Teilurteiles nicht möglich ist, weil die Entscheidung über die geltend gemachte Gegenforderung noch offen ist und davon abhängt, ob und in welchem Ausmaß die Klägerin ein Mitverschulden am Unfall trifft - zur Folge, daß die Entscheidungen der Vorinstanzen, soweit sie nicht infolge unterlassener Bekämpfung unberührt zu bleiben hatten, aufzuheben waren und die Rechtssache zur weiteren Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen werden mußte.

Der Kostenausspruch beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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