OGH 2Ob51/86

OGH2Ob51/8614.10.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1) VVS, V*** FÜR V*** UND H*** IN S***, Hütteldorfer Straße 79, 1150 Wien, 2) Margot E***, Friseurin, Am Brunnboden 765, 8101 Gratkorn, beide vertreten durch Dr. Otto Ackerl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei V*** DER

Ö*** B***, Versicherungs-Aktiengesellschaft,

Prater Straße 1-7, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Otto Hellwich, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 597.374,21 und Feststellung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 11. Juni 1986, GZ. 18 R 105/86-53, womit infolge Berufung aller Parteien das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 13. Jänner 1986, GZ. 40 c Cg 425/82-47, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei hat den klagenden Parteien die mit S 18.133,39 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 1.920,-- Barauslagen und S 1.473,94 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 30.7.1981 fuhr die am 24.9.1962 geborene Zweitklägerin in einem von Sieglinde H*** gelenkten, bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW mit. Sie benützte den vorderen Beifahrersitz - entsprechend seiner Einrichtung - als Liegeplatz und schlief während der Fahrt liegend auf diesem Liegesitz. Sieglinde H*** verschuldete einen Verkehrsunfall (sie kam von der Straße ab und stieß gegen einen Baum), bei dem die Zweitklägerin schwere Verletzungen erlitt.

Die Erstklägerin begehrt aufgrund einer Zession einen Schadenersatzbetrag von S 597.374,21 s.A. (darin S 350.000,-- Schmerzengeld), die Zweitklägerin stellte ein Feststellungsbegehren. Die Beklagte wendete ein, die Zweitklägerin treffe ein Mitverschulden von "zumindest 90 %", weil sie dadurch, daß sie während der Fahrt auf dem Liegesitz gelegen sei, das Kraftfahrzeug nicht in einer zum Verkehr zugelassenen Weise gebraucht habe und nicht angegurtet gewesen sei.

Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren mit S 304.870,-- samt Zinsen sowie dem Feststellungsbegehren mit der Einschränkung der Haftung für künftiges Schmerzengeld auf zwei Drittel statt und wies das Mehrbegehren ab. Es vertrat die Ansicht, daß ein Schmerzengeld von rechnungsmäßig S 255.000,-- angemessen sei. Da die Zweitklägerin nicht angegurtet gewesen sei, sei ihr beim Schmerzengeld ein Mitverschulden von einem Drittel zuzurechnen.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, daß ein Betrag von insgesamt S 377.370,-- samt Zinsen zugesprochen und dem Feststellungsbegehren mit der Einschränkung stattgegeben wurde, daß die Beklagte für künftiges Schmerzengeld zu drei Vierteln hafte. Das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es bezüglich des Feststellungsbegehrens der Zweitklägerin entschieden habe, hinsichtlich des bestätigenden Teiles S 60.000,--, hinsichtlich des abändernden Teiles S 15.000,--, zusammen jedoch nicht S 300.000,-- übersteige und die Revision zulässig sei. Das Gericht zweiter Instanz vertrat die Ansicht, es gebe keine gesetzliche Vorschrift, wonach der Beifahrersitz während der Fahrt nicht umgeklappt und von einer liegenden und schlafenden Person benützt werden dürfe. Die Sicherheit eines Fahrgastes, der liegend auf dem Beifahrersitz schlafe, sei nicht stärker beeinträchtigt, als wenn dieser sitzend auf dem Beifahrersitz mit aufgerichteter Lehne schlafe. Der Zweitklägerin sei daher nur eine Verletzung der Gurtenanlegungspflicht vorzuwerfen, weshalb beim Schmerzengeld ein Mitverschulden von 25 vom Hundert anzunehmen sei. Ein Schmerzengeld von rechnungsmäßig S 310.000,-- sei angemessen.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Beklagten. Sie macht die Revisionsgründe nach § 503 Abs.1 Z 2, 3 und 4 ZPO geltend und beantragt Abänderung dahin, daß das Klagebegehren abgewiesen, hilfsweise, daß von einem 90 %igen Mitverschulden der Zweitklägerin ausgegangen werde; allenfalls wolle das angefochtene Urteil aufgehoben werden.

Die klagenden Parteien beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

1) Zum Mitverschulden der Klägerin:

Mit den Anfechtungsgründen nach § 503 Abs.1 Z 2 und 3 ZPO rügt die Beklagte die Ansicht des Berufungsgerichtes, die Sicherheit eines Fahrgastes, der liegend auf dem Beifahrersitz schlafe, sei nicht stärker beeinträchtigt, als wenn dieser sitzend auf dem Beifahrersitz mit aufgerichteter Lehne schlafe. Diese Annahme stehe mit den Tatsachen und dem Prozeßergebnis im Widerspruch und könne "nur durch einen Sachverständigen oder nach allgemeiner Praxis, die jeder Autofahrer selbst habe", geklärt werden. Es widerspreche den primitivsten Erfahrungen des täglichen Lebens, anzunehmen, daß ein Beifahrer, der auf dem Beifahrersitz sitzt und schläft, genauso beeinträchtigt sei, wie einer, der, ohne angegurtet zu sein, auf dem Beifahrersitz liegt.

Die Beklagte unterliegt hier offenbar einem Mißverständnis. Das Berufungsgericht war nämlich nicht der Meinung, ein auf dem Beifahrersitz schlafender Beifahrer sei nicht mehr gefährdet, als derjenige, der auf dem Beifahrersitz sitzend angegurtet schlafe, sondern, daß ein liegender Beifahrer nicht mehr gefährdet sei als einer, der sitzend, aber nicht angegurtet, schläft. Diese Annahme entspricht durchaus der Lebenserfahrung, sodaß es der Befragung eines Sachverständigen hierüber nicht bedurfte.

Mit der Rechtsrüge wendet sich die Beklagte gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, er gebe keine gesetzliche Vorschrift, die das Benützen eines Liegesitzes während der Fahrt verbiete. Sie vertritt die Ansicht, daß nicht alles, was nicht ausdrücklich verboten sei, erlaubt sei, und führt dazu Beispiele an, so etwa das Aussteigen aus einem Kraftfahrzeug während der Fahrt. Ihre Ausführungen, daß im Straßenverkehr Handlungsweisen, die gefährlich sind, nicht vorgenommen werden dürfen, auch wenn kein ausdrückliches Verbot besteht, sind jedoch nicht zielführend, weil - abgesehen vom Nichtverwenden des Sicherheitsgurtes - das Liegen eines Beifahrers auf einem Liegesitz während der Fahrt keine zusätzlichen Gefahren mit sich bringt. Außer einem Mitverschulden beim Schmerzengeld wegen Verletzung der Gurtenanlegungspflicht könnte der Zweitklägerin daher nur ein Mitverschulden angelastet werden, wenn das Benützen des Liegesitzes durch einen Beifahrer während der Fahrt gesetzlich verboten wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann ein derartiges Verbot auch nicht daraus abgeleitet werden, daß gemäß § 41 Abs.2 lit.i KFG im Zulassungsschein die größte Zahl der Personen anzugeben ist, die mit dem Fahrzeug und die auf jeder einzelnen Bank befördert werden darf. Diese Vorschrift setzt die höchstzulässige Zahl der zu befördernden Personen fest, ein Verbot der Benützung eines Liegesitzes während der Fahrt kann daraus aber nicht abgeleitet werden. Dem Argument der Revision schließlich, die Verwendung des Liegesitzes während der Fahrt schließe die Wirksamkeit der Haftpflichtversicherung zugunsten der Zweitklägerin aus, fehlt jegliche gesetzliche Grundlage.

Zutreffend lastete daher das Berufungsgericht der Zweitklägerin wegen Verletzung der Gurtenanlegungspflicht nur ein Mitverschulden beim Schmerzengeld an. Die Höhe der Mitverschuldensquote wegen Verletzung der Anlegungspflicht von Sicherheitsgurten hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Gesetzesverfasser die Verletzung dieser Pflicht im Regelfall offensichtlich als leichten Verstoß mit geringem Schuldgehalt betrachten (JBl. 1979, 599; ZVR 1985, 139 u.a.). Es besteht kein Anlaß, den Verschuldensanteil des Verletzten höher anzunehmen, wenn er während der Fahrt gelegen ist, als wenn er unangegurtet gesessen ist. Die vom Berufungsgericht angenommene Mitverschuldensquote der Zweitklägerin von 25 % ist daher zu billigen, zumal die Kraftfahrzeuglenkerin, die den Unfall verschuldete, in Kenntnis des Umstandes, daß die Zweitklägerin auf dem Liegesitz schlief, die Fahrt fortsetzte. Der Umstand, daß laut ärztlichem Sachverständigengutachten bei Befolgung der Gurtenanlegungspflicht die Verletzungen "vermutlich um ein Drittel geringer" gewesen wären, vermag daran nichts zu ändern.

2) Zum Schmerzengeld:

Die Zweitklägerin erlitt bei dem Unfall Brüche des rechten Oberschenkels, des rechten Unterschenkels unterhalb des Kniegelenks, des rechten Innenknöchels, des zweiten bis vierten Mittelfußknochens rechts, des linken Unterschenkels, und des linken Innenknöchels, weiters mehrfache Rißquetschwunden im Gesicht, ein Schädel-Hirn-Trauma (Gehirnquetschung) sowie ein Haematotympanon. Die Verletzungen waren außergewöhnlich schwer, die Behandlung war aber frei von Komplikationen, die Metallteile am rechten Bein wurden bereits am 12.9.1983 entfernt. Arbeitsunfähigkeit bestand vom 30.7.1981 bis 21.3.1982 sowie vom 12.9.1983 bis 16.10.1983. Als Folgen verblieben eine geringe Rotationseinschränkung im rechten Hüftgelenk, eine geringe Bewegungseinschränkung und Flächenentartung im rechten Kniegelenk, eine Verkürzung des rechten Beines um einen Zentimeter, weiters mehrfache, durchwegs gerötete beziehungsweise bläulich verfärbte Narben im Gesicht mit geringer Entstellung sowie am rechten Ober- und Unterschenkel, überdies eine leichte Hörverminderung rechts. Die Zweitklägerin hatte 45 Tage starke, 60 Tage mittelstarke und 150 Tage leichte Schmerzen, es besteht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 %.

Die Meinung der Beklagten, das zugesprochene Schmerzengeld von rechnungsmäßig S 310.000,-- sei überhöht, kann nicht geteilt werden. Bei Bemessung des Schmerzengeldes sind die Art und Schwere der Körperverletzung, die Art, Intensität und Dauer der Schmerzen sowie die Dauer der Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Verletzten überhaupt und die damit verbundenen Unlustgefühle zu berücksichtigen (Jarosch-Müller-Piegler, Das Schmerzengeld 4 , 157). Auch seelische Schmerzen sind zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall ist daher insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, daß die Zweitklägerin mannigfaltige schwere Verletzungen erlitt, und zwar eine große Zahl von Knochenbrüchen sowie ein Schädel-Hirn-Trauma, daß sie 255 Tage Schmerzen hatte, davon 45 Tage starke und 60 Tage mittelstarke und daß überdies Dauerfolgen zurückblieben. Bei diesen fallen nicht nur die Bewegungseinschränkungen im rechten Bein ins Gewicht, sondern insbesondere auch die Narben im Gesicht, die bei einer jungen Frau ohne Zweifel seelische Schmerzen hervorrufen. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände kann in der Bemessung des Schmerzengeldes mit rechnungsmäßig S 310.000,-- kein Rechtsirrtum erblickt werden.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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