Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Text
Begründung
Der Vater verließ die Mutter und die beiden ehelichen Kinder im April 1985. Ein Scheidungsverfahren ist anhängig. Nachdem der Vater vorerst nur beantragt hatte, ihm ein Besuchsrecht einzuräumen (ON 25), stellten in der Folge beide Elternteile den Antrag, jeweils ihnen das Sorgerecht für die Kinder zu übertragen (ON 30, 33). Der Vater brachte nach Ausübung eines Besuchsrechtes die beiden Kinder am 1.2.1986 nicht mehr zur Mutter zurück. Von da ab befanden sie sich beim Vater und dessen Lebensgefährtin. Während die Mutter beantragte, das Gericht möge beschließen, daß die Kinder sofort in ihre Pflege und Erziehung zurückgegeben werden, stellte der Vater am 11.2.1986 den Antrag, die Kinder bis zur endgültigen Entscheidung in seiner Pflege und Erziehung zu belassen (S.74, 80 d.A.). Nach Einholung eines Berichtes des Jugendamtes für den 20.Bezirk, aber ohne Anhörung der Mutter, übertrug das Erstgericht mit seinem Beschluß vom 14.2.1986 alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj. Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten, das sind gemäß § 144 ABGB Pflege und Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung, vorläufig dem Vater. Es stellte fest, die Kinder besuchten seit kurzem ein Kindertagesheim, in dem sie sich sehr wohl fühlten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hätten sie sich gut eingegliedert. Die Mutter sei Angehörige der Zeugen Jehovas. Sie habe die Kinder zu Versammlungen, Hausbesuchen und Predigten mitgenommen und sich geweigert, die Kinder in einen Kindergarten zu geben. Sie habe sich wenig um die Kinder gekümmert, sei oft aggressiv geworden und habe in diesem Zusammenhang die Wohnung verwüstet. Sie erscheine starr und unflexibel und wenig imstande, auf die persönlichen Bedürfnisse der Minderjährigen einzugehen oder diese zu erfüllen. Aus psychologischer Sicht stehe fest, daß es sicherlich nicht dem Wohl der Kinder entspräche, wenn sie als Außenseiter erzogen würden, wie es bei der Mutter zu befürchten wäre. Eine endgültige Entscheidung könne erst nach weiterer Entwicklung und weitergehenden Erhebungen getroffen werden. Derzeit sollten die Kinder zumindest vorläufig beim Vater bleiben, bis endgültig beurteilt werden könne, welchem Elternteil unter Wahrung des Kindeswohls die elterlichen Rechte zugewiesen werden, um einen häufigen Wechsel zu vermeiden, der sicher zum Nachteil der Kinder wäre.
In ihrem Rekurs bekämpfte die Mutter unter anderem die Feststellungen, sie werde oft aggressiv und verwüste in diesem Zusammenhang die Wohnung. Die Kinder seien von Anfang an nach dem Willen beider Eltern als Zeugen Jehovas erzogen worden, die Eltern hätten gemeinsam dieses Religionsbekenntnis für sie bestimmt. Sie seien von ihr nicht nur in bestmöglicher Weise betreut worden und durch die nunmehrige Regelung in unzumutbarer Weise seelischen Belastungen ausgesetzt. Zum Beweis dafür beantragte sie die Einvernahme einer Reihe von Zeugen und die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Die von der Mutter gerügten Feststellungen des Erstgerichtes, sie sei aggressiv und verwüste in diesem Zusammenhang die Wohnung, seien für die vorläufige Entscheidung entbehrlich und keineswegs entscheidungsrelevant. Die Vernehmung von Zeugen und die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens werde vom Erstgericht im Verfahren zur Erarbeitung einer endgültigen Entscheidung durchzuführen sein, ebenso die Erörterung der Betreuungsmöglichkeiten der beiden Kinder beim einen bzw. beim anderen Elternteil. Eine Erziehungsweise, die gleichgültig aus welchen Gründen dazu führe, daß die Kinder zumindest teilweise daran gehindert würden, sich in der Weise zu entwickeln, wie es ihrem Alter und der Umgebung, in der sie lebten, entspräche, könne im Ergebnis dem Kindeswohl schon abträglich sein. Nach den Erhebungsergebnissen bestehe die Gefahr, daß die Kinder zu Außenseitern durch die Mutter erzogen würden. Dem vorzubeugen sei Pflicht des Pflegschaftsgerichtes gewesen. Demgegenüber sei von untergeordneter Bedeutung, auf welche Weise die Kinder vom Haushalt der Mutter in den des Vaters gekommen seien.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist berechtigt. Ist mangels Einigung der nicht bloß vorübergehend getrennt lebenden Eltern gemäß § 177 Abs.2 ABGB über ihren Antrag eine Entscheidung zu treffen, welchem Elternteil die aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj. Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten allein zustehen sollen, kann das Gericht nur dann, wenn besondere Umstände im Interesse des Kindes eine sofortige Entscheidung erfordern, auch vorläufige Maßnahmen anordnen (EFSlg.40.884, 39.529, 33.648 ua). Ohne zwingende Notwendigkeit darf dabei aber der endgültigen Entscheidung nicht vorgegriffen werden (EFSlg.45.906, 33.648); da bei vorläufiger Zuweisung des Sorgerechtes keine für die Kontinuität der Pflege und Erziehung bei der endgültigen Entscheidung unberücksichtigt zu lassende bloß faktische Situation, sondern ein sehr wohl zu berücksichtigender gesetzmäßiger Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil gegeben wäre (EFSlg.40.909), läge bei sonst gleicher Erziehungssituation bei den Elternteilen aufgrund einer vorläufigen Zuteilung bereits ein solcher Vorgriff vor. Die Nichtbeachtung des Kindeswohls bewirkt bei Entscheidungen, die das Sorgerecht über Kinder betreffen, ungeachtet des bestehenden Ermessensspielraumes deren offenbare Gesetzwidrigkeit (ÖA 1985, 77; EFSlg.47.229 ua). Dem Kindeswohl entspricht es, daß das Gericht seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerungen durchführt und nach ausreichender Klärung aller maßgeblichen Umstände eine nicht nur vorläufige, sondern eine endgültige Entscheidung über die Zuweisung der elterlichen Rechte und Pflichten trifft (vgl EFSlg.45.904). Das Kindeswohl macht eine ihrem Wesen nach eine einstweilige Verfügung darstellende vorläufige Anordnung über den Aufenthalt von Kindern schon allein wegen ihrer Anfechtbarkeit und der damit unvermeidbaren Verzögerung der endgültigen Entscheidung in aller Regel nur dann notwendig und zulässig, wenn - abgesehen von der Gefahr der Verbringung ins Ausland, wenn dadurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen werden kann (EFSlg 45.901 ua) - die Belassung von Kindern in ihrer bisherigen Umgebung eine derartige offenkundige Gefährdung ihres Wohles mit sich brächte, daß eine Sofortmaßnahme durch eine Änderung des bestehenden Zustandes dringend geboten erscheint; soll nur ein tatsächlich bestehender Zustand gebilligt werden, müßten hingegen für eine vorläufige Maßnahme ganz besondere und zwingende Gründe vorliegen. Solche waren im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Die Entscheidung des Erstgerichtes wurde vielmehr unter ganz extrem unopportunen Umständen getroffen. Es darf schließlich nicht übersehen werden, daß der Vater die Familie im April 1985 verlassen hatte, so daß ab diesem Zeitpunkt die Obsorge für die beiden Kinder allein der Mutter überlassen war. Ohne daß der Mutter gewichtige Erziehungsfehler zur Last gefallen wären, nützte der Vater das ihm eingeräumte Besuchsrecht aus, um die Kinder vereinbarungswidrig bei sich zu behalten. Schon wenige Tage nach dieser Veränderung der Erziehungsverhältnisse meinte das Erstgericht mit Zustimmung durch das Rekursgericht, dieses Verhalten durch eine einstweilige Anordnung billigen zu müssen, obwohl nach so kurzer Zeit ein Überblick kaum zu gewinnen war und nur feststand, daß sich der Vater und seine ebenfalls berufstätige Lebensgefährtin insoweit um die Kinder kümmern wollten, als sie nicht in einem Tageskindergarten untergebracht waren. Allein die "Gefahr", daß die Mutter sich ähnlich verhalten könnte wie der Vater, kann angesichts der Tatsache, daß der Vater gerade erst selbst eine Änderung der Erziehungsverhältnisse herbeigeführt hatte, als besonderer Umstand, der eine vorläufige Maßnahme rechtfertigte, nicht anerkannt werden. Der Hauptgrund, warum die Vorinstanzen ihre Maßnahmen für berechtigt hielten, scheint darin zu liegen, daß die Mutter der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört und offenbar gewillt ist, die Kinder nach den Grundsätzen dieser Gemeinschaft zu erziehen und sie auch zu Veranstaltungen dieser Sekte mitzunehmen. Der erkennende Senat hat (1 Ob 586/86) diesem Umstand bei der endgültigen Entscheidung über die Zuweisung der elterlichen Rechte und Pflichten durchaus Bedeutung für den Fall zuerkannt, daß ein Elternteil nicht dieser Religionsgemeinschaft angehört und die freie Einigung der Eltern gemäß § 1 des Bundesgesetzes über die religiöse Kindererziehung 1985, BGBl 1985/155 (Wiederverlautbarung des Gesetzes vom 15.7.1921, dBGBl I 939), dahin ging, daß die Kinder nach den Regeln einer anderen Religionsgemeinschaft erzogen werden. Im vorliegenden Fall wurde aber nicht einmal geklärt, ob die Kinder, wie die Mutter jedenfalls in ihrem Rekurs an die zweite Instanz behauptete, nicht als Folge der Bestimmung durch ihre Eltern der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören, was die Argumente der Vorinstanzen weitgehend hinfällig machen müßte. Eine Erziehung gemäß diesem religiösen Bekenntnis könnte dann nicht dem Wohl der Kinder widersprechen, sondern eher ein gegenteiliges Verhalten, soweit es nicht die Gesundheit der Kinder gefährden könnte, wofür aber bisher keine Anhaltspunkte bestehen. Widersprach aber die getroffene einstweilige Anordnung dem Kindeswohl, ist sie, auch wenn der inzwischen eingetretene Zeitverlust nicht mehr wettgemacht werden kann, ersatzlos aufzuheben. Ob inzwischen eingetretene Umstände eine einstweilige Anordnung nunmehr allenfalls rechtfertigten, ist vom Obersten Gerichtshof nicht zu beurteilen.
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