OGH 2Ob34/86

OGH2Ob34/8616.9.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Melber, Dr.Huber und Dr.Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P*** DER

A***, 1090 Wien, Roßauerlände 3, vertreten durch Dr.Adolf Fiebich, Dr.Vera Kremslehner, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Ing.Wilfried W***, Angestellter, 1232 Wien, Kirchenplatz 1/4/6, vertreten durch Dr.Otto Philp, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 323.308,-- s.A. und Feststellung (Streitwert: S 100.000,--), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 21. März 1986, GZ 15 R 288/85-37, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 2. September 1985, GZ 40 b Cg 403/81-33, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil aufgehoben; zugleich wird auch das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Am 2.9.1974 ereignete sich gegen 10 Uhr 15 auf dem Betriebsgelände der Firma Lukas K***, Fleisch- und Wurst-Produktionsgesellschaft im 3.Wiener Gemeindebezirk, Baumgasse 131, ein Arbeitsunfall, bei welchem der bei der Klägerin pensionsversicherte Hilfsarbeiter Dragomir D***, geboren am 1.5.1936, schwer verletzt wurde. Der Beklagte wurde wegen dieses Vorfalles mit Urteil des Strafbezirksgerichtes Wien vom 27.6.1978, GZ 17 U 720/77, rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt, weil er als verantwortlicher Betriebsingenieur dadurch, daß er drei jugoslawischen Hilfsarbeitern ohne Beiziehung eines technischen Facharbeiters den unsachgemäßen Auftrag erteilte, zwei abmontierte, an die Mauer gelehnte Eisentore, ohne sie zu zerschneiden, auf einen bereitgestellten Stapler zu heben, wodurch ein Eisentor zu Boden fiel und Dragomir D*** unter sich begrub, diesen fahrlässig am Körper beschädigt zu haben, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung, nämlich eine Querschnittlähmung, des D*** zur Folge hatte.

Die Klägerin begehrte die Zahlung von S 323.308,-- s.A. sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle jene Leistungen, welche sie aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 2.9.1974 an Dragomir D*** zu erbringen hat, und brachte vor, sie habe dem Verletzten die ihm zustehende Invaliditätspension zuerkannt und bis 30.6.1981 Pensionsleistungen von S 300.740,10 und Krankenversicherungsbeiträge von S 22.567,90, sohin insgesamt S 323.308,-- erbracht. Sie werde auch in Hinkunft Leistungen zu erbringen haben. Der Unfall sei auf die grob fahrlässig erteilte Weisung des Beklagten, das Tor unzerlegt abzutransportieren, zurückzuführen.

Der Beklagte stellte zuletzt zwar das Leistungsbegehren der Höhe nach außer Streit, bestritt aber im übrigen das Klagebegehren und wendete insbesondere ein, der Abtransport der Tore sei dringlich gewesen, sodaß er sich in einer gewissen Streßsituation befunden habe; ein grob fahrlässiges Verhalten liege nicht vor. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es außer den oben wiedergegebenen noch folgende weitere wesentliche Feststellungen traf:

Der Beklagte war technischer Leiter der Firma Lukas K***, Fleisch- und Wurst-Produktionsgesellschaft, und als solcher für die gesamte technische Organisation - Neuanschaffung und Kontrolle für technische Einrichtungen - wie auch die Arbeitseinteilung zuständig, überdies als Sicherheitsingenieur auch für Sicherheitseinrichtungen und die sicherheitsmäßige Ausstattung des Fuhrparks verantwortlich. Der Unfall ereignete sich am 2.9.1974, einem Montag. Arbeiter einer am Bau der "Süd-Ost-Tangente" mitwirkenden Baufirma hatten Teile der Umgrenzungsmauer des Betriebsgeländes der Firma K*** niedergerissen und das dort befindliche Einfahrtstor, ein ca.5,80 m breites, 2,80 m hohes Schiebetor, in das ein Durchgangstor in einer Breite von 2 m eingebaut war - demontiert und an die Ostseite des Schlachthauses angelehnt. Hiebei standen beide Tore so an die Wand gelehnt, daß das kleinere der Wand näher war und das von der Wand weiter entfernte größere Tor zur Wand einen Winkel von ca.75 Grad einnahm. Das Gewicht eines Tores lag um die 800 kg. Die Lage und Stellung der Tore stellte von vornherein ein Gefahrenmoment dar, da insbesondere bei Abladung der Schlachttiere mit der hiedurch bedingten Gefahr eines Ausbruchsversuchs von Tieren bei einem Anstoß ein Umkippen der Tore drohte. Bei der sog.Frühbesprechung gegen 5 Uhr wurde daher dem Beklagten der Auftrag erteilt, für die Entfernung der Tore bis zum Eintreffen des Schlachttiertransportes gegen 11 Uhr Sorge zu tragen. Der Beklagte beauftragte den Schlosser A***, die Tore auf den Schrottplatz abzutransportieren; dieser meinte nach Besichtigung, hiezu müßten die Tore zerschnitten werden. Der Beklagte erklärte, daß er die Methode des Abtransportes A*** überlasse. A***, der sich als einziger mit den nicht deutsch sprechenden jugoslawischen Gastarbeitern auf serbokroatisch verständigen konnte, erteilte daraufhin dem später verletzten Dragomir

D*** - welcher als Schlosser angelernt war - den Auftrag, die vor den Toren liegenden U-Schienen zu zerlegen, welchem Auftrag D*** durch Entfernung der Schrauben nachkam. Bei einer vor 9 Uhr beendeten Besprechung mit seinem Vorgesetzten Dir.S*** rügte dieser den Beklagten, daß die Arbeit an den Toren nicht vorangehe. Der Beklagte, der im Hof des Betriebsgeländes D*** mit einem Kübel Schrauben gehend antraf, herrschte diesen an, er solle nicht spazierengehen und sich um seine Arbeit - gemeint war der Abtransport des Tores - kümmern, und holte selbst einen weiteren jugoslawischen Arbeiter, Slavomir M***, aus dem Kesselhaus, der dort mit der Zerlegung eines Kessels beschäftigt war. Diesen Arbeitern erteilte der Beklagte den Auftrag zum Abtransport der Tore; noch ein weiterer jugoslawischer Arbeiter, Zarkon M***, sollte dabei mithelfen. Die Arbeiter, denen diese Arbeit zu schwer erschien, protestierten, wurden jedoch vom Beklagten zur Durchführung der Arbeit angehalten. Die Arbeiter nahmen den Auftrag von dem Beklagten, den sie "als ständig alkoholisiert und ihnen gegenüber anmaßend einschätzten", der nicht ihre Sprache sprach und mit dem es daher Verständigungsschwierigkeiten gab, nur widerwillig entgegen. Als die Arbeiter versuchten, das mit der Breitseite (560 cm) am Boden befindliche Tor herabzulassen, wobei M*** und M*** das Tor an den Enden hielten, während D*** sich in der Mitte befand, kippte das dahinterliegende Tor um und wirkte mit seinem Gewicht auf das von den Arbeitern bereits händisch von der Wand entfernte Tor ein, sodaß die Arbeiter nicht mehr in der Lage waren, dem Gewicht des Tores standzuhalten, und das Tor zu Boden fiel. Da D*** wegen eines hinter ihm stehenden Hubstaplers nicht nach hinten ausweichen konnte, gelangte er unter das Tor und erlitt schwere Verletzungen. Während des Unfalls selbst befand sich der Beklagte im Sichtbereich, hatte jedoch unmittelbar vorher die Arbeiten nicht beaufsichtigt.

Zur Rechtsfrage führte das Erstgericht aus, daß es nach § 268 ZPO an den Inhalt des über die Zurechnung der vom Beklagten begangenen strafbaren Handlung ergangenen Strafurteiles gebunden sei; so habe sich hinsichtlich der Qualifikation des Verschuldens des Beklagten bereits im Strafverfahren ergeben, daß er wegen der Dringlichkeit der Entfernung der Tore vor Eintreffen des Schlachttiertransportes, weil der Schlosser A*** dem ihm erteilten Auftrag nicht nachgekommen war und wegen der Rüge seines Vorgesetzten einer gewissen Streßsituation ausgesetzt gewesen sei. Daß der Beklagte unter diesen Umständen und wegen der Unwilligkeit der jugoslawischen Arbeiter die Vorgangsweise bei Entfernung der Tore nicht durchdacht hatte, könne ihm nicht als grobes Verschulden angelastet werden.

Infolge Berufung der Klägerin änderte das Gericht zweiter Instanz das Urteil des Erstgerichtes im Sinne der gänzlichen Klagsstattgebung ab. Das Berufungsgericht führte aus, entgegen der Auffassung des Erstgerichtes sei der Zivilrichter nicht gemäß § 268 ZPO an den vom Strafrichter festgestellten Grad der Fahrlässigkeit gebunden. Somit sei es für die Beurteilung des vorliegenden Falles ohne Relevanz, daß das Strafgericht gmeint habe, den Erschwerungsgrund eines besonders hohen Grades der Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt nur eingeschränkt heranziehen zu können, weil der Beschuldigte (hier der Beklagte) sich in einer gewissen Streßsituation befunden habe. Dem Beklagten falle vielmehr grobe Fahrlässigkeit zur Last. Das Umlegen eines etwa 800 kg schweren Eisentores könne gefahrlos nur durch Abseilen oder Umwerfen mit einem Stapler bewerkstelligt werden. Daß das händische "Schmeißen" des Tores höchst gefährlich war, habe bereits der dem Beklagten unterstellte Schlossermeister A*** beurteilen können. Dennoch habe der Beklagte dem Verletzten und zwei weiteren Arbeitern, von denen D*** und M*** in Jugoslawien die Gesellenprüfung als Schlosser abgelegt hatten, sie der technischen Gruppe des Betriebes angehörten und daher aus technischem Wissen die Arbeit verweigern wollten, den Auftrag erteilte, das große Eisentor - händisch - auf den Boden herunterzulassen, um es danach zu zerschneiden. Dem Beklagten habe sich aber unter diesen Umständen und auf Grund seiner Ausbildung und seines Berufes als Betriebsingenieur d.h.technischer Leiter und Sicherheitsingenieur des Wiener Betriebes seiner Firma, der Schadenseintritt als geradezu wahrscheinlich darstellen müssen. Wegen des hohen Maßes der Gefährdung der körperlichen Integrität der ihm unterstellten Dienstnehmer vermöge unter den gegebenen Umständen daran der Zeitdruck, den das Strafgericht zugunsten des Beklagten angenommen habe, nichts zu ändern. Das Leistungsbegehren der Klägerin sei daher berechtigt, ebenso auch das Feststellungsbegehren, da der Klägerin ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung zukomme. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision des Beklagten aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Der Beklagte bekämpft in seinem Rechtsmittel ausschließlich die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß ihn an dem Unfall des Dragomir D*** ein grobes Verschulden treffe. Er habe sich zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalles in einer Streßsituation befunden, die auf die besonderen Umstände zum damaligen Zeitpunkt zurückzuführen gewesen sei. Der ursprünglich von ihm mit den Zerlegungsarbeiten der Tore beauftragte Schlosser A*** sei dem erteilten Auftrag nicht zeitgerecht nachgekommen, er sei daher infolge der Weisung seines Vorgesetzten und unter Zeitdruck darauf angewiesen gewesen, selber für die Durchführung zu sorgen. Selbst bei einer ungenauen oder unrichtigen Anweisung habe er erwarten können, daß die immerhin fachlich ausgebildeten Mitarbeiter eine Vorgangsweise wählen würden, die gewährleistete, daß es zu keinen Verletzungen der Mitarbeiter komme. Es sei zwar richtig, daß gemäß § 334 ASVG ein Mitverschulden des Versicherten der Pensionsversicherungsanstalt gegenüber nicht geltend gemacht werden könne, bei der Beurteilung der Frage, ob grobe Fahrlässigkeit vorliege, müsse aber das Verhalten des Verletzten mitberücksichtigt werden. Auch wenn der Beklagte die Anweisung gegeben habe, das Tor händisch umzuwerfen, habe er damit rechnen dürfen, daß die als Schlosser ausgebildeten bzw. angelernten Mitarbeiter die Arbeit so durchführen würden, daß keiner der Beteiligten sich im Kippbereich des Tores aufhalten, das Umwerfen des Tores vielmehr seitwärts, neben dem Tor stehend, bewerkstelligen würden.

Der Begriff der groben Fahrlässigkeit als Voraussetzung der Ersatzpflicht des Beklagten im Sinne des § 334 Abs 1 ASVG ist im Sinne der herrschenden Lehre und Rechtsprechung mit einer ungewöhnlichen und auffallenden Sorgfaltsvernachlässigung zu definieren, die den Eintritt eines Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich voraussehen läßt (ZVR 1970/121 uva.) und auch subjektiv besonders schwer vorzuwerfen ist (vgl. ZVR 1974/194 ua.). Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist die Schwere des Sorgfaltsverstoßes und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes, wobei diese Beurteilung stets nur nach den Umständen des Einzelfalles vorgenommen werden kann. Im wesentlichen wird dabei zu prüfen sein, ob der Betreffende ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (ZVR 1974/80 uva.).

Unter Anwendung dieser Grundsätze reichen aber die Feststellungen des Erstgerichtes zur abschließenden Beurteilung, ob dem Beklagten grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, nicht aus. Insbesondere wird es hiezu der Einholung eines umfassenden Sachverständigengutachtens über den Ablauf des Unfalls und des diesem vorangegangenen Arbeitsvorgangs, insbesondere darüber bedürfen, auf welche Weise der Abtransport der Tore technisch einwandfrei und ohne Gefährdung der mit dieser Aufgabe betrauten Dienstnehmer hätte durchgeführt werden sollen, welche Anweisungen der Beklagte diesen Dienstnehmern unter Berücksichtigung ihrer Fachkenntnisse richtigerweise hätte erteilen und ob und auf welche Weise er den Arbeitsvorgang zur Vermeidung einer Gefährdung der Dienstnehmer hätte beaufsichtigen und insbesondere das konkrete Verhalten des Verletzten in Rechnung stellen müssen. Erst nach Vorliegen ergänzender Feststellungen in der aufgezeigten Richtung, wobei die Bindungswirkung des rechtskräftig verurteilenden strafgerichtlichen Erkenntnisses zu beachten sein wird (§ 268 ZPO), wird abschließend beurteilt werden können, ob das Verhalten des Beklagten als grob fahrlässig zu bewerten ist.

Das angefochtene Urteil und das Urteil des Erstgerichtes waren daher aufzuheben und die Rechtssache zweckmäßigerweise an das Erstgericht zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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