OGH 3Ob599/86

OGH3Ob599/863.9.1986

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Kinzel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hule, Dr. Warta, Dr. Klinger und Mag. Engelmaier als Richter in der Pflegschaftssache der mj. Nicole G***, geboren am 17. April 1984, infolge Revisionsrekurses des ehelichen Vaters Wolfgang G***, Arbeiter, Wien 22., Rennbahnweg 27/2/6/34, vertreten durch Dr. Walter Mardetschläger, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 18. Dezember 1985, GZ 44 R 3582/85-34, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 10. Oktober 1985, GZ 1 P 369/84-22, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Eltern des Kindes - ihre Ehe ist nach dem dzt. Akteninhalt noch aufrecht, doch ist ein Scheidungsverfahren zum AZ. 11 Cg 306/84 des Landesgerichtes für ZRS Wien anhängig - leben seit November 1984 getrennt.

Die Mutter stellte den Antrag, ihr hinsichtlich der minderjährigen Nicole die Pflege und Erziehung, die gesetzliche Vertretung und die Vermögensverwaltung zu überlassen. Der Vater sprach sich gegen diesen Antrag aus; er beantragte, die elterlichen Rechte hinsichtlich der minderjährigen Nicole auf ihn zu übertragen.

Mit Beschluß vom 10. Oktober 1985, ON 22, gab das Erstgericht dem Antrag der Mutter statt. Es verpflichtete den Vater, das Kind sofort der Mutter zu übergeben, und ermächtigte zum Bezug der Familienbeihilfe für das Kind bis einschließlich Oktober 1985 den Vater, ab dem 1. November 1985 die Mutter. Das Erstgericht stellte folgenden Sachverhalt fest:

Im Jahr 1984 kam es zwischen den Eltern des Kindes zu Differenzen. Die Mutter, die mit der Gestaltung der Ehe durch den Vater unzufrieden war, nahm ehewidrige Beziehungen zu Richard L*** auf. Als der Vater hierauf gewalttätig reagierte, zog die Mutter mit dem Kind Anfang November 1984 aus der Ehewohnung aus und kehrte nicht mehr dorthin zurück. Am 26. November 1984 brachte der Vater das Kind nach Ausübung eines ihm von der Mutter eingeräumten Besuchsrechtes nicht mehr zurück. Das Kind lebt seither bei dem väterlichen Großvater und dessen Frau, der Stiefmutter des Vaters, die das Kind betreut und deshalb auch ihren Beruf aufgegeben hat. Der Vater arbeitet im Schichtdienst. Er kommt zwar täglich zu dem Kind, kann es aber wegen seines Berufes nicht gänzlich zu sich nehmen.

Die Mutter ist durchaus geeignet und in der Lage, ihr Kind selbst zu erziehen und zu betreuen. Die mütterliche Großmutter ist bereit, die Mutter finanziell zu unterstützen. Das Kind hat eine sichtlich gute Beziehung zu seiner Mutter und weist großes Zutrauen zu ihr auf.

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen seien Kleinkinder in der Regel in die Pflege und Erziehung der Mutter einzuweisen. Es sprächen keinerlei Gründe gegen eine Erziehung und Betreuung des Kindes durch die Mutter.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes. Die Zuteilung der Pflege und Erziehung eines Kindes an einen Elternteil habe sich in erster Linie am Wohl des Kindes zu orientieren. Die Pflege und Erziehung eines Kleinkindes durch die Mutter sei grundsätzlich vorzuziehen. Neben dem materiellen Interesse an einer möglichst guten Verpflegung und Unterbringung sei von entscheidender Bedeutung, wo eine möglichst gute Erziehung und Beaufsichtigung sowie möglichst günstige Voraussetzungen für die seelische und geistige Entwicklung gewährleistet erschienen. Ehewidrige Beziehungen der Mutter seien für die Entscheidung nicht von Bedeutung, da aus ihnen nicht geschlossen werden könne, es mangle der Mutter an der Eignung oder am Willen, ihrer Verpflichtung zur Betreuung des Kindes nachzukommen. Die persönlichen Verhältnisse der Mutter seien völlig in Ordnung, es seien keine Gründe vorhanden, ihr das Kind zu entziehen. Derzeit sei das Kind faktisch nicht bei seinem Vater, sondern bei seinem väterlichen Großvater und der Stiefgroßmutter untergebracht. Der leiblichen Mutter sei gegenüber einer pflegenden Drittperson der Vorzug zu geben.

Der Vater bekämpft den Beschluß des Rekursgerichtes mit außerordentlichem Revisionserekurs und beantragt, diesen dahin abzuändern, daß das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen und zu erziehen, sein Vermögen zu verwalten und es zu vertreten, auf ihn übertragen und daß er ermächtigt werde, die Familienbeihilfe weiter zu beziehen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der angefochtene Beschluß sei offenbar gesetzwidrig. Bei der Entscheidung hätte berücksichtigt werden müssen, daß sich das Kind (das sich seit März 1986 wieder bei der Mutter befindet; siehe hiezu ON 39, 41 und 44) in seinen ersten beiden Lebensjahren, in denen die entscheidenen psychologischen Prägungen stattfänden, zum überwiegenden Teil - 16 Monate - in Pflege und Erziehung des Vaters befunden habe, sodaß von einer intakten Kind-Mutter-Beziehung nicht mehr gesprochen werden könne. Es entspreche nicht dem Wohl des Kindes, es aus seiner derzeitigen Erziehungssituation herauszureißen. Nach § 16 AußStrG ist der Rekurs gegen eine bestätigende Entscheidung der zweiten Instanz unter anderem nur im Fall einer offenbaren Gesetzwidrigkeit zulässig. Offenbare Gesetzwidrigkeit liegt vor, wenn ein Fall im Gesetz ausdrücklich und so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit in Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wird. Sie kann schon begrifflich nicht gegeben sein, wenn es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, außer die Entscheidung verstößt gegen die Grundprinzipien des Rechtes oder sie ist ganz willkürlich und mißbräuchlich (Efslg 47.208). Der Hinweis, daß nicht alle Umstände des Falls bedacht worden seien, vermag die in § 16 AußStrG angeführte Rechtsmittelvoraussetzung der offenbaren Gesetzwidrigkeit nicht herzustellen (Efslg 44.643, 47.211). Es begründet offenbare Gesetzwidrigkeit, wenn das Wohl des Kindes ganz außer Acht gelassen wurde (Efslg 44.648).

Rechtliche Beurteilung

Für die Zuteilung der elterlichen Rechte und Pflichten ist in erster Linie das Wohl des Kindes maßgebend (Efslg 45.859). Die Vorinstanzen haben sich bei ihren Entscheidungen von diesem Grundsatz leiten lassen und bei den Erwägungen, was dem Wohl des Kindes entspreche, nicht dagegen verstoßen. Es entspricht der herrschenden Ansicht, daß zwar ein Vorrecht der Mutter auf Zuteilung der elterlichen Rechte nicht besteht (Efslg 45.867), daß aber doch der Betreuung von Kleinkindern durch die Mutter Vorzug zu geben ist (Efslg 45.868) und daß der Betreuung eines Kindes durch einen Elternteil der Betreuung durch einen Stellvertreter des anderen Elternteils vorzuziehen ist (Efslg 45.864).

Einen Verstoß gegen Grundprinzipien des Rechts bildet es aber auch nicht, daß die Vorinstanzen die elterlichen Rechte und Pflichten der Mutter zugeteilt haben, wiewohl das im Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung der zweiten Instanz kaum zwei Jahre alte Kind 16 Monate lang sich in Pflege und Erziehung des Vaters (des väterlichen Großvaters und der väterlichen Stiefgroßmutter) befunden hat. Zwar kann der Grundsatz, daß Kontinuität der Pflege und Erziehung eine der Grundbedingungen für eine erfolgreiche und damit dem Wohl des Kindes dienende Erziehung ist, auch für erstmalige Sorgerechtsentscheidungen nicht generell abgelehnt werden (Efslg 43.387). Im vorliegenden Fall aber besteht nach den Verfahrensergebnissen ungeachtet des angeführten Umstandes eine "sichtlich" gute Beziehung und großes Zutrauen des Kindes zu seiner Mutter, die das Kind auf Grund einer vorläufigen Besuchsrechtsregelung drei Nachmittage in jeder Woche besuchen konnte (AS 24 f.; vgl. auch AS 31 u. 37). Das Kindeswohl wurde deshalb auch insoweit nicht außer Acht gelassen.

Eine offenbare Gesetzwidrigkeit des angefochtenen Beschlusses ist nicht gegeben.

Der Revisionsrekurs war deshalb zurückzuweisen.

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