OGH 2Ob27/86

OGH2Ob27/868.7.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schobel, Dr.Melber, Dr.Huber und Dr.Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Edmund H***, Transportunternehmer, Hauptstraße 53, 7321 Lackendorf, vertreten durch Dr.Harald Beck, Rechtsanwalt in Eisenstadt, wider die beklagten Parteien 1. Robert T***, Fahrschullehrer, Bahnstraße 22/2/14, 7000 Eisenstadt, 2. Ing. Horst S***, Fahrschulinhaber, Permayerstraße 1, 7000 Eisenstadt, 3. V*** DER

Ö*** B***, Landesdirektion Burgenland,

Mylldorfgasse 1, 7000 Eisenstadt, alle vertreten durch Dr.Helmut Schmidt, Dr. Ingo Schreiber, Rechtsanwälte in Wiener Neustadt, wegen 145.169,67 S und Feststellung (Revisionsinteresse 107.750,17 S), infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 24.März 1986, GZ 15 R 19/86-37, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 23.Oktober 1985, GZ 2 Cg 118/84-30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagten haben zur ungeteilten Hand dem Kläger die mit 6.506,53 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 591,50 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11. Mai 1982 ereignete sich in Eisenstadt auf der Mattersburger-Straße ein Verkehrsunfall. Diese Bundesstraße ist insgesamt 17,8 m breit und weist in jeder Fahrtrichtung zwei gekennzeichnete Fahrstreifen auf. Die Richtungsfahrbahnen sind durch Fahrbahnteiler (Leitplanken) voneinander getrennt, im Unfallsbereich durch eine 2,9 m breite durch Sperrlinien begrenzte Fläche. Der Erstbeklagte lenkte einen vom Zweitbeklagten gehaltenen, bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten PKW in Richtung Mattersburg. Trotz der Sperrlinien und entgegen einem Gebotszeichen "vorgeschriebene Fahrtrichtung" bog er nach links und wollte die für den Gegenverkehr bestimmte Richtungsfahrbahn überqueren. Dabei kam es zur Kollision mit dem auf dem rechten Fahrstreifen dieser Richtungsfahrbahn herannahenden, vom Kläger gelenkten und gehaltenen PKW. Obwohl die höchstzulässige Geschwindigkeit für den Unfallsbereich 70 km/h betrug, hielt der Kläger eine Geschwindigkeit von 90 km/h ein.

Das Erstgericht gab dem auf Alleinverschulden des Erstbeklagten gestützten Leistungsbegehren (abgesehen von einem Teil einer Verdienstentgangsforderung) sowie dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Es verneinte ein (meßbares) Mitverschulden des Klägers und führte aus, die Unfallsfolgen wären praktisch identisch gewesen, wenn der Kläger mit 70 km/h gefahren wäre.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, mit der der Zuspruch eines Teilbetrages von 82.750,17 S und der Ausspruch über das Feststellungsbegehren insoweit, als dieses die Haftung für künftige Schäden nicht auf 3/4 beschränkte, bekämpft worden war, nicht Folge. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes 300.000 S nicht übersteige und die Revision zulässig sei. Das Gericht zweiter Instanz führte aus, zur Frage, ob die Unfallsfolgen bei einer Geschwindigkeit des Klägers von 70 km/h praktisch identisch gewesen seien, könne mangels entsprechend differenzierter Beweisergebnisse nicht Stellung genommen werden, doch wäre eine entsprechende Feststellung nicht relevant. Der Kläger habe zwar durch Einhalten einer Geschwindigkeit von 90 km/h anstelle der zulässigen 70 km/h schuldhaft gegen eine Schutznorm gemäß § 1311 ABGB verstoßen und die Geschwindigkeitsüberschreitung habe ein Ausmaß gehabt, das von der Rechtsprechung im Regelfall nicht toleriert werde. Die Umstände des vorliegenden Falles seien jedoch außergewöhnliche, weil der Erstbeklagte nicht nur gegen alle Vorsichtsmaßnahmen im Sinne der §§ 12 und 13 StVO verstoßen, sondern auch sein Fahrmanöver an einer Stelle vorgenommen habe, die "nach ihren Regelungen sein Fahrverhalten rechtlich überhaupt unmöglich" gemacht habe. Überdies habe der Erstbeklagte auch gegen die Vorrangregelung des § 19 Abs 5 StVO verstoßen. Angesichts dieses krassen Fehlverhaltens erscheine es gerechtfertigt, der Geschwindigkeitsüberschreitung des Klägers nicht jenes Gewicht beizumessen, das als Mitverschulden gewertet werden und zu einer Haftungsteilung führen müsse. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision lägen vor, weil es fraglich sei, ob die Entscheidung des Berufungsgerichtes nicht doch von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zumindeit für den Regelfall abweiche. Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten, in der Abänderung dahin beantragt wird, daß ein Teilbetrag von 82.750,17 S abgewiesen und das Feststellungsbegehren auf die Haftung für 3/4 der künftigen Schäden begrenzt werde. Hilfsweise stellen die Beklagten einen Aufhebungsantrag. Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil Geschwindigkeitsüberschreitungen in dem hier festgestellten Ausmaß nach ständiger Rechtsprechung im allgemeinen nicht vernachlässigt werden können. Der Frage, ob es in Ausnahmsfällen zulässig ist, den Unfallsgegner, dem ein besonders gravierendes Fehlverhalten anzulasten ist, zu vollem Schadenersatz zu verpflichten, kommt für die Rechtssicherheit erhebliche Bedeutung zu. Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.

Die Revisionswerber vertreten die Ansicht, im Sinne der ständigen Rechtsprechung sei dem Kläger ein Mitverschulden von einem Viertel anzulasten, die Revisionswerber verweisen insbesondere auf die Entscheidungen ZVR 1978/233 und ZVR 1984/73.

Die Entscheidung des Berufungsgerichtes steht mit der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes jedoch in keinem Widerspruch. Wie bereits erwähnt, sind zwar einerseits Geschwindigkeitsüberschreitungen ab einem gewissen Ausmaß im allgemeinen nicht zu vernachlässigen (ZVR 1983/53; ZVR 1984/73 uva), doch hebt andererseits das weitaus überwiegende Verschulden des einen Verkehrsteilnehmers die Haftung des anderen gänzlich auf (ZVR 1972/93; ZVR 1980/299; 2 Ob 16, 17/84 uva). Bei Beurteilung der Frage, ob ein Verschulden vernachlässigt werden kann, ist daher das Verschulden der am Unfall Beteiligten gegenüberzustellen. Je schwerwiegender das Verschulden des einen ist, umso eher kann das des anderen vernachlässigt werden. Zu ZVR 1978/233 führte ein Fahrzeuglenker ein Linkseinbiegemanöver ohne vorherige Anzeige, ohne Einordnen und ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr durch; der Entscheidung ZVR 1984/73 lag eine Vorrangverletzung nach § 19 Abs 4 StVO zugrunde. In diesen von der Revision herangezogenen Fällen wurden somit an sich zulässige Fahrmanöver (Linkseinbiegen bzw. Befahren einer Kreuzung) ausgeführt, obschon die dem Schutz anderer Verkehrsteilnehmer dienenden Vorschriften gröblich mißachtet. Im vorliegenden Fall war, im Gegensatz zu den beiden angeführten Entscheidungen, das Fahrmanöver des Erstbeklagten aber überhaupt unzulässig. Dieser mißachtete eine Sperrlinie und außerdem ein Gebotszeichen, das ein Linkseinbiegen unzulässig machte. Trotzdem bog der Erstbeklagte nach links ein und nahm überdies auf den entgegenkommenden PKW keinerlei Rücksicht. Er setzte damit ein ungewöhnlich schwerwiegendes Fehlverhalten. Dem Kläger muß wohl der Vorwurf gemacht werden, daß er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h mit 90 km/h deutlich überschritt, doch mußte er mit der Möglichkeit, daß ein in der Gegenrichtung fahrendes Fahrzeug verbotswidrig nach links einbiegen werde, allerdings nicht rechnen. Trotz der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Kläger in einem Ausmaß, das im allgemeinen nicht vernachlässigt werden kann, überwiegt daher das außergewöhnlich schwerwiegende Verschulden des Erstbeklagten in diesem besonderen Fall derart, daß es berechtigt ist, das Verschulden des Klägers unberücksichtigt zu lassen und ihm vollen Schadenersatz zuzusprechen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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