OGH 7Ob580/86

OGH7Ob580/8619.6.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Flick als Vorsitzenden und durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Petrasch und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Wurz, Dr.Warta und Dr.Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hans-Jürgen S***, Unternehmer, Hamburg, Duvenstedter Triftweg 12, BRD, vertreten durch Dr.Karl-Heinz Klee, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei mj.Wilfried L***, geb. am 21.6.1969, Schüler, Ebreichsdorf, Fischergasse 16, vertreten durch seine Eltern Johann und Edith L***, ebendort, diese vertreten durch Dr.Heinz Bauer und Dr.Harald E.Hummel, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen S 303.746,66 s.A. und Feststellung (Streitwert S 40.000,--) Revisionsinteresse S 57.540,33, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 28. Jänner 1986, GZ.1 R 311/85-30, womit infolge Berufung beider Parteien das Teilurteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 18. Juli 1985, GZ.10 Cg 269/84-21, teils abgeändert, teils aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Antrag der klagenden Partei auf Zuspruch von Kosten des Revisionsverfahrens wird abgewiesen.

Text

Begründung

Am 31.3.1983 ereignete sich ein Schiunfall, an dem der Kläger und der am 21.6.1969 geborene Beklagte beteiligt waren und bei dem der Kläger schwer verletzt wurde.

Ein gegen den Beklagten eingeleitetes Strafverfahren wurde wegen Strafunmündigkeit eingestellt.

Der Kläger, der ein eigenes Verschulden von einem Drittel zugesteht, begehrt die Zahlung von Schmerzengeld, Verdienst- und Gewinnentgang, den Ersatz von Sachschäden und die Feststellung, daß ihm der Beklagte für alle Schäden aus dem Unfall vom 31.3.1983 zu haften habe. Einem knapp 14-jährigen fehle es nicht an der erforderlichen Schuldeinsicht, so daß sein Verschulden nicht geringer zu werten sei als das eines Erwachsenen. Der Beklagte sei über seinen Vater haftpflichtversichert. Es sei daher Vermögen im Sinne des § 1310 ABGB vorhanden.

Der Beklagte beantragt die Abweisung der Klage und wendet ein, das Alleinverschulden an dem Unfall treffe den Kläger. Das Erstgericht erkannte den Beklagte mit Teilurteil schuldig, dem Kläger S 86.310,50 s.A. zu bezahlen; ein Leistungsmehrbegehren von S 28.770,16 s.A. wies es ab. Es stellte gegenüber dem Beklagten fest, daß er dem Kläger für alle in Zukunft eintretenden Schäden aus dem Unfall vom 31.3.1983 zur Hälfte zu haften habe. Das Erstgericht traf folgende, für das Revisionsverfahren wesentliche Feststellungen:

Die von den Streitteilen benützte Schiabfahrtsstrecke ist vollkommen übersichtlich. Sie weist zunächst ein Gefälle von 30 bis 35 % auf, verflacht sich etwa 50 m vor der Unfallstelle auf 15 bis 20 % und wird in der Folge wieder steiler.

Der Kläger, ein eher langsamer Schifahrer, war mit einer Gruppe von Bekannten unterwegs, die etwas schneller fuhr als er. Die Bekannten des Klägers überquerten die etwa 30 m breite Piste und warteten an deren linken Rand (von unten gesehen). Der Kläger war am rechten Pistenrand (von unten gesehen) stehengeblieben und blickte die Piste hinauf. In einer Entfernung von 120 bis 150 m sah er den Beklagten, der die Piste hinunterfuhr. Andere Schifahrer waren zu diesem Zeitpunkt nicht unterwegs. Der Kläger begann in einem in der Mitte zwischen 90 Grad und 45 Grad liegenden, nicht exakt bestimmbaren Einfahrtswinkel, bezogen auf die Pistenachse, die Piste zu queren, wobei er nach dem Anfahren eine Geschwindigkeit von 15 bis 20 km/h einhielt. Er blickte während der Querung nicht mehr nach oben. Dies wäre ihm aber mit einer leichten Kopfbewegung möglich gewesen. Zu Beginn der Fahrstrecke betrug das Gefälle zum Unfallsort zwischen 15 und 20 %, nach einigen Metern jedoch nur mehr 10 %. Zum Zeitpunkt des Einfahrens des Klägers in die Piste war der Beklagte noch 60 bis 70 m (5,4 bis 6,3 sek.) von ihm entfernt. Er fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca.40 km/h (11,1 m/sek.). Der Kläger wäre für den Beklagten 1 Sekunde nach dem Einfahren in die Piste auffällig geworden. Er legte bis zum Unfall eine Strecke von 25 m zurück und benötigte dafür 5 bis 6 sek. Die Kollisionsstelle befindet sich im letzten Drittel der Pistenbreite, etwa 5 bis 7 m vom linken Pistenrand entfernt. Ca.20 m vor der Kollision bemerkte der Beklagte den Kläger und versuchte noch mit einem Linksschwung zu reagieren, was ihm jedoch nicht mehr gelang, so daß es zum Zusammenstoß kam. Unter Berücksichtigung des Auffälligkeitswertes von 1 Sekunde und einer Reaktionszeit von 0,6 bis 0,8 sek. bei Schifahrern wären dem Beklagten 3,5 bis 4,5 sek. zur Verfügung gestanden, in denen er den Kläger hätte bemerken können. Der Beklagte ist im Rahmen der Haushaltsversicherung seines gesetzlichen Vertreters haftpflichtversichert. Die Haftpflichtversicherung war zum Unfallszeitpunkt aufrecht und mit S 300.000,-- begrenzt.

Der Beklagte, ein eher guter Schifahrer, hielt sich mit seinen Eltern im Schigebiet auf, fuhr jedoch zum Unfallszeitpunkt allein. Es war ihm bewußt, daß es Pistenregeln gibt, nach denen ein Schifahrer auf weiter unten fahrende Schifahrer achten und der eine Schipiste querende Fahrer vorher nach oben schauen muß. In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, bei der Verschuldensteilung müsse darauf Bedacht genommen werden, daß der Beklagte zum Unfallszeitpunkt das 14.Lebensjahr noch nicht erreicht habe und daher deliktsunfähig gewesen sei. Die Anwendung der §§ 1308 und 1309 ABGB scheide im vorliegenden Fall aus. Gemäß § 1310 ABGB sei zu erwägen, ob dem Unmündigen nicht dennoch ein Verschulden zur Last falle. Ein Verschulden sei dann anzunehmen, wenn er in concreto sein Fehlverhalten einsehen und danach handeln habe können. Das Verschulden müsse jedoch gegenüber dem eines Deliktsfähigen milder beurteilt werden. Der Beklagte habe das nötige Maß der Einsicht gehabt; es treffe ihn daher ein Mitverschulden.

Eine Verschuldensaufteilung im Verhältnis 1 : 1 sei angemessen, da die Verstöße der Streitteile etwa gleich schwer zu werten seien. Soweit eine Haftpflichtversicherungsdeckung reiche, finde eine Billigkeitsabwägung im Sinne des § 1310 dritter Fall ABGB nicht statt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und verurteilte den Beklagten zur Zahlung von S 115.080,67 s.A. Die Entscheidung über das Feststellungsbegehren hob es auf und verwies die Rechtssache in diesem Umfang zur Verfahrensergänzung und neuen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Das Berufungsgericht sprach aus, daß die Revision gemäß § 502 Abs.4 Z 1 ZPO zulässig sei, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es durch Beschluß entschieden hat, S 15.000,--, nicht aber S 300.000,-- übersteigt und daß das Verfahren erster Instanz in Ansehung des Feststellungsbegehrens erst nach Eintritt der Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses fortzusetzen sei. Das Berufungsgericht vertritt die Ansicht, der Kläger habe unter den festgestellten Umständen noch in die Piste einfahren dürfen, um diese zu queren. Der Beklagte habe praktisch freie Bahn gehabt und habe sich ungehindert auf die Fahrweise des Klägers einstellen können. Sei es dennoch zum Zusammenstoß gekommen, müsse dies vor allem der Unaufmerksamkeit des Beklagten zugeschrieben werden. Eine Verschuldensaufteilung im Ausmaß von 1 : 2 zu Lasten des Beklagten - wie in der Klage vorgenommen - sei gerechtfertigt. Der Umstand, daß der Beklagte zur Zeit des Schadensereignisses erst knapp vor Vollendung des 14.Lebensjahres gestanden sei, falle nicht besonders mildernd ins Gewicht, weil er die Grundsätze der Ausübungsregeln des Schisports auf Schipisten gekannt und die Fähigkeit gehabt habe, sich danach zu richten. Auch eine mildere Beurteilung des Verschuldens des Beklagten finde in der vorgenommenen Verschuldensaufteilung noch Deckung. Der dritte Fall des § 1310 ABGB sei nicht nur dann heranzuziehen, wenn keiner der ersten beiden Fälle vorliege. Die Revision sei zuzulassen gewesen, weil der Lösung der vorliegenden Fragen für die Rechtsfortentwicklung auf dem Gebiet des Schirechts und des Haftungsrechtes Minderjähriger besondere Bedeutung zugemessen werden könne.

Der Beklagte bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes insoweit, als dieses eine Verschuldensteilung von 1 : 2 zu Lasten des Beklagten vorgenommen habe, aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß ein über S 57,540,33 hinausgehendes Klagebegehren unter Festsetzung einer Verschuldensteilung von 1 : 2 zu Lasten des Klägers abgewiesen werde. Der Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes blieb unangefochten.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 502 Abs.4 Z 1 ZPO ist die Revision, wenn sie nicht schon nach § 502 Abs.2 und 3 ZPO unzulässig ist, überdies nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist. Gemäß § 508 a Abs.1 ZPO ist das Revisionsgericht bei der Prüfung der Zulässigkeit der Revision an einen Ausspruch des Berufungsgerichtes nicht gebunden. Der Beklagte legt in der Revisionsschrift in ausführlicher Weise dar, weshalb das Berufungsgericht seiner Ansicht nach die Frage der Verschuldensaufteilung - unter Mitberücksichtigung des Umstandes, daß er zur Unfallszeit erst knapp vor der Vollendung des 14. Lebensjahres gestanden sei - unrichtig gelöst habe. Von einer erheblichen Rechtsfrage des materiellen Rechts kann nicht gesprochen werden, wenn für die Verschuldensaufteilung die besonderen Umstände des Einzelfalles als einer von vielen möglichen Fallgestaltungen den Ausschlag geben. Zwar wird zur Wahrung der Rechtseinheit auch eine Verschuldensteilung revisibel sein, die von einer in ständiger Rechtsprechung anerkannten Ermessensübung extrem abweicht. Die bloßen Umstände des Einzelfalls dagegen sind nicht maßgebend. Die Kasuistik des Einzelfalls schließt in der Regel eine beispielgebende Entscheidung aus (Petrasch, Das neue Revisions-[Rekurs]Recht, ÖJZ 1983,177; RZ 1985/3).

Die in der Revision vornehmlich behandelte Frage, ob der Kläger unter den festgestellten Umständen noch in die Schipiste einfahren durfte, um diese zu überqueren, betrifft nur den konkreten Einzelfall. Das Berufungsgericht hat keineswegs die von den verschiedenen Institutionen und Autoren ausgearbeiteten Verhaltensvorschriften für Schifahrer, wie die Bestimmungen des vom österreichischen Kuratorium für Sicherung vor Berggefahren erarbeiteten Pistenordnungsentwurfs (POE-Regeln) oder die FIS-Regeln, denen als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Schisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, daß sich jeder so verhalten muß, daß er keinen anderen gefährdet, erhebliche Bedeutung zukommen (JBl.1983,258), mißachtet, wonach unter anderem (FIS-Regel Nr.5) jeder Schifahrer, der in eine Abfahrtsstrecke einfahren oder ein Schigelände queren will, sich nach unten und oben vergewissern muß, daß er dies ohne Gefahr für sich und andere tun kann.

Hat das Berufungsgericht die bezeichnete Frage im gegebenen Fall aus den besonderen Gründen des Einzelfalls bejaht und deshalb dem Beklagten das "weitaus überwiegende" Verschulden an dem Unfall angelastet, kann darin mit Rücksicht auf die von der zweiten Instanz hiezu gegebene Begründung, es sei auf der Piste außer den Streitteilen kein Schifahrer unterwegs gewesen, so daß sich der Beklagte ungehindert auf die Fahrweise des Klägers habe einstellen können, zumal der Beklagte noch 60 bis 70 m vom Kläger entfernt gewesen sei, als dieser in die Piste eingefahren sei, keine extreme Abweichung von einer anerkannten Ermessensübung gefunden werden. Die aufgeworfene Frage ist deshalb keine, der über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme.

Die Entscheidung hängt daher nicht von einer im Sinne des § 502 Abs.4 Z 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage ab.

Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Revision im Sinne der genannten Gesetzesstelle liegen somit nicht vor. Die Revision war deshalb trotz des Ausspruches des Berufungsgerichtes über ihre Zulässigkeit zurückzuweisen.

Da der Kläger auf die Unzulässigkeit der Revision in der Revisionsbeantwortung nicht hingewiesen hat, waren ihm keine Kosten zuzusprechen.

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