OGH 2Ob1/86

OGH2Ob1/8622.4.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Melber, Dr. Huber und Dr. Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Klaudia W***, Hausfrau, 1210 Wien, Koloniestraße 34/4, und 2.) mj. Erwin W***, ebendort, vertreten durch Klaudia W***, beide vertreten durch Dr. Herbert Richter und Dr. Franz Marschall, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) Josef P***, kaufmännischer Angestellter, 1220 Wien, Eipeldauerstraße 55/21/7, und 2.) E*** A*** V***-AG, 1011 Wien, Brandstätte 7-9, beide vertreten durch Dr. Manfred Roland, Rechtsanwalt in Wien, wegen bezüglich der Erstklägerin S 376.723,97, Rente und Feststellung (S 10.000,--) und wegen bezüglich des Zweitklägers S 8.000,--, Rente und Feststellung (S 10.000,--), infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 25. September 1985, GZ 17 R 200/85-19, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 6. Mai 1985, GZ 53 Cg 751/84-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Erstklägerin ist schuldig, den Beklagten 80 %, und der Zweitkläger ist schuldig, den Beklagten 15 % der mit S 15.606,69 (darin S 1.920,- Barauslagen und S 1.244,24 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen per Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 19. Mai 1984 ereignete sich gegen 16,25 Uhr in Wien 22. an der Kreuzung Siebeckgasse - Dr. Adolf Schärf-Platz im Bereich der U-Bahnstation Zentrum Kagran ein Verkehrsunfall, an dem der Erstbeklagte als Lenker des von ihm gehaltenen, bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKWs Audi 80 LS, W 339.572, und der Ehegatte der Erstklägerin und Vater des Zweitklägers Erwin W*** als Fußgeher beteiligt waren.

Die Erstklägerin begehrte die Zahlung von S 376.723,97 sowie eine monatliche Rente ab 1.1.1985 in der Höhe von S 7.300,--, der Zweitkläger die Zahlung von S 8.000,-- sowie einer monatlichen Rente ab 1.1.1985 in der Höhe von S 1.000,--. Beide Kläger stellten auch Feststellungsbegehren. Sie behaupteten das Alleinverschulden des Erstbeklagten, der den die Fahrbahn überquerenden Erwin W*** niedergestoßen und tödlich verletzt habe.

Die Beklagten wendeten ein gleichteiliges Mitverschulden des Getöteten ein, der, ohne auf den herannahenden, vom Erstbeklagten gelenkten PKW zu achten, die Fahrbahn außerhalb eines Schutzweges überquert habe, erhoben Einwendungen gegen die Höhe der geltend gemachten Forderungen und führten zum Feststellungsbegehren aus, daß sich dieses nur auf künftige, nicht jedoch auf bereits entstandene Schäden beziehen könne.

Das Erstgericht sprach mit Teil- und Zwischenurteil aus, daß das Leistungsbegehren der Kläger dem Grunde nach mit 50 % zu Recht bestehe. Dem Feststellungsbegehren gab das Erstgericht mit den Einschränkungen statt, daß die Haftung zu 50 % bestehe und sich außerdem lediglich auf die künftig entstehenden Schäden beziehe. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen. Das Erstgericht ging im wesentlichen von nachstehendem Sachverhalt aus:

Der Verkehrsunfall ereignete sich im Ortsgebiet, es war hell und sonnig, die Fahrbahn trocken, die Kreuzung übersichtlich. Die Siebeckstraße, durch die der Erstbeklagte fuhr, war Einbahn in Richtung zum Dr. Adolf Schärf-PlatZ Sie verfügte vor der U-Bahnunterführung über drei Fahrstreifen, die durch Leitlinien getrennt waren. Der rechte Fahrstreifen war durch Bodenmarkierungen zum Rechtsabbiegen bestimmt, der mittlere und linke Fahrstreifen zum Geradeausfahren. Links der Fahrbahn befindet sich ein Fahrbahnteiler, der einen selbständigen Gleiskörper der Straßenbahn von der Fahrbahn abgrenzt. Dieser Gleiskörper wurde auch von Gelenksbussen der Wiener Verkehrsbetriebe befahren. Unmittelbar nach den die Siebeckstraße überquerenden Straßenbahnschienen befindet sich, direkt am Beginn der U-Bahnunterführung, ein markierter Schutzweg. Der Erstbeklagte benützte bei Annäherung an die Unfallsstelle zunächst den mittleren Fahrstreifen der Siebeckstraße. Er scherte dann auf den linken Fahrstreifen aus, um einen Überholvorgang durchzuführen. Danach versuchte der Erstbeklagte wieder, den mittleren Fahrstreifen zu gewinnen, als von rechts nach links auf dem äußeren, die Siebeckstraße überquerenden Schienenstrang, ein Gelenkbus der Wiener Verkehrsbetriebe in den Kreuzungsbereich einfuhr. Dieser Bus nahm dem Erstbeklagten die Sicht auf den dahinterliegenden Teil der Fahrbahn. Der Erstbeklagte verminderte seine Fahrgeschwindigkeit nicht, da er damit rechnete, der Bus werde noch vor seinem Herannahen den Kreuzungsbereich verlassen haben. Als die Sicht des Erstbeklagten nach Vorbeifahren des Autobusses wieder frei war, erblickte er Erwin W*** und leitete aus einer Fahrgeschwindigkeit von rund 60 km/h eine Notbremsung ein, die kurz vor dem ersten Gleis des zweiten Schienenstranges wirksam wurde. Erwin W*** hatte mit normaler, jedenfalls nicht schneller Gehweise begonnen, die Fahrbahn der Siebeckstraße im Bereich der U-Bahnunterführung, in Fahrtrichtung des Erstbeklagten gesehen, ca. 5 m nach dem Schutzweg von links nach rechts zu überqueren. Er schenkte hiebei dem von rechts kommenden Verkehr keine Beachtung. Als Erwin W*** das Bremsgeräusch hörte, sprang er erschreckt einen Schritt zurück, wodurch es zur Kollision mit dem Fahrzeug kam. Bis zum Kollisionspunkt hatte der Fußgeher einen Weg von rund 5,5 m zurückgelegt. Die Kollision erfolgte etwa 4,5 m vor der Endstellung des PKWs. Die Kollisionsgeschwindigkeit betrug 29,6 km/h. Das Fahrzeug des Erstbeklagten zeichnete eine Bremsspur von 18,6 m ab. Hätte der Erstbeklagte unter gleichen Verhältnissen eine Geschwindigkeit von 50 km/h eingehalten, wäre sein Fahrzeug noch vor der Überquerungslinie des Fußgehers zum Stillstand gekommen. Der Fußgeher hätte das Fahrzeug des Erstbeklagten 1,9 Sekunden vor der Kollision beobachten können, wenn er auf den Verkehr ausreichend geachtet hätte. Eine Reaktionsverspätung des Erstbeklagten wurde nicht nachgewiesen.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, daß beide Unfallsbeteiligte ein gleichteiliges Verschulden treffe. Der Kläger habe gegen § 76 StVO, insbesondere dessen Absatz 6, verstoßen, der Erstbeklagte habe eine relativ und absolut überhöhte Geschwindigkeit eingehalten. Das Feststellungsbegehren könne sich grundsätzlich nur auf künftige Schäden beziehen, während bereits entstandene Schäden mit Leistungsklage geltend zu machen seien. Besondere Gründe, welche die Erhebung einer Leistungsklage hinderten, seien nicht vorgebracht worden.

Die Berufung der Kläger blieb erfolglos. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und billigte auch die rechtliche Beurteilung der ersten InstanZ Es sprach aus, daß der Wert des von der Bestätigung betroffenen Teiles des Streitgegenstandes hinsichtlich des Zweitklägers S 60.000,-- übersteigt und eine Revision des Zweitklägers zulässig ist. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes wenden sich die Revisionen der Erstklägerin und des Zweitklägers aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne des Ausspruches des Zurechtbestehens des Leistungsbegehrens der Kläger dem Grunde nach sowie des Feststellungsbegehrens zu 75 % allenfalls zu 66,66 %. Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, den Revisionen nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionen sind nicht berechtigt.

Die Kläger führen in ihren Rechtsmitteln aus, der Unfallbereich sei als Haltestellenbereich zu beurteilen. Der Erstbeklagte wäre daher deshalb und wegen der unklaren Verkehrslage jedenfalls zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen. Der Erstbeklagte habe jedoch dessen ungeachtet seine Fahrgeschwindigkeit überhaupt nicht vermindert. Erwin W*** könne auf Grund der Feststellungen nicht eindeutig vorgeworfen werden, daß er sich vor Betreten der Fahrbahn nicht vergewissert habe, andere Straßenbenützer nicht zu gefährden. Eine Gefährdung der von ihm wahrnehmbaren drei Fahrzeuge sei nicht vorgelegen. Er habe darauf vertrauen dürfen, daß die herannahenden Fahrzeuge ihn wahrnehmen und rechtzeitig anhalten würden. W*** habe die Fahrbahn für den Erstbeklagten nicht überraschend und nicht unmittelbar vor dessen Fahrzeug betreten. Es treffe daher den Erstbeklagten ein wesentlich höheres Verschulden.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Soweit die Kläger behaupten, der Unfall habe sich im Haltestellenbereich eines Massenbeförderungsmittels ereignet, sind sie darauf zu verweisen, daß darunter gemäß § 24 Abs 1 lit e StVO der Bereich innerhalb von 15 m vor und nach den Haltestellentafeln zu verstehen ist. Für das Vorliegen dieser Voraussetzung findet sich aber in den Feststellungen keine Deckung. Mit den Ausführungen, es lasse sich nicht eindeutig sagen, daß sich W*** nicht vor dem Betreten der Fahrbahn vergewissert habe, andere Straßenbenützer nicht zu gefährden, weichen die Kläger von den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes, wonach Erwin W*** vor dem Betreten der Fahrbahn dem von rechts kommenden Verkehr keine Beachtung schenkte, ab. In diesem Umfang ist die Rechtsrüge daher nicht gesetzmäßig ausgeführt.

Die Kläger bringen weiter vor, W*** habe darauf vertrauen dürfen, daß herannahende Lenker ihn im Kreuzungsbereich wahrnehmen und nur eine derartige Fahrgeschwindigkeit einhalten würden, die ihnen das rechtzeitige Anhalten ihrer Fahrzeuge ermöglichen würde. Eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer sei durch das Betreten der Fahrbahn durch W*** nicht erfolgt. Auch bei Berücksichtigung der Nichtbenützung des Schutzweges durch W*** könne sein Verschulden gegenüber demjenigen des Erstbeklagten nicht als gleichwertig beurteilt werden.

Demgegenüber hat das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, daß Erwin W*** gemäß § 76 Abs 6 StVO verpflichtet gewesen wäre, den nicht mehr als 25 m entfernten Schutzweg für die Überquerung der Fahrbahn zu benützen. Wenn er entgegen dieser Bestimmung die Fahrbahn außerhalb des Schutzweges überquerte, so war er nach § 76 Abs 4 lit b StVO verpflichtet, die Fahrbahn erst dann zu betreten, wenn er sich vergewissert hatte, daß er hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährde. Nach ständiger Rechtsprechung hat ein Fußgänger nach der genannten Bestimmung vor dem Betreten der Fahrbahn sorgfältig zu prüfen, ob er die Straße noch vor dem Eintreffen von Fahrzeugen mit Sicherheit überqueren könne (vgl. ZVR 1984/43, ZVR 1985/20 ua.). Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wäre es Erwin W*** nach den Feststellungen möglich gewesen, das Herannahen von mindestens drei von rechts kommenden Fahrzeugen wahrzunehmen. Wie das Berufungsgericht richtig darlegte, hat er trotzdem die Fahrbahn betreten, wobei ihm der die Fahrbahn überquerende Gelenkbus für geraume Zeit die Sicht auf den herannahenden Verkehr genommen hat. Selbst nach Erlangen der Sicht auf den PKW des Erstbeklagten hat W*** 1,9 Sekunden verstreichen lassen, ohne sich auf den herannahenden Verkehr einzustellen. Bei ausreichender, ihm möglicher Reaktion wäre er aber noch in der Lage gewesen, die Fahrlinie des Erstbeklagten rechtzeitig vor dessen Eintreffen zu verlassen.

Werden diese Verstöße des Erwin W*** gegen die Bestimmungen des § 76 StVO den im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpften Verstößen des Erstbeklagten, nämlich unfallskausale Überschreitung der im Ortsgebiet zulässigen Geschwindigkeit um etwa 10 km/h und Beibehaltung dieser erhöhten Fahrgeschwindigkeit, obwohl ihm der die Straße überquerende Gelenkbus durch einige Zeit die Sicht auf die vor ihm liegende Fahrbahn verdeckte, sodaß er seine Fahrweise auf die eingeschränkten Sichtverhältnisse einzurichten gehabt hätte, gegenübergestellt, kann entgegen der Auffassung der Revision ein Überwiegen der dem Erstbeklagten anzulastenden Verletzungen der Verkehrsvorschriften gegenüber den dem Fußgänger Erwin W*** zur Last fallenden Verstößen nicht angenommen werden. In der gleichteiligen Verschuldensausmessung kann somit keine unrichtige rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes erblickt werden. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 46 und 50 ZPO.

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