OGH 1Ob552/85

OGH1Ob552/8517.4.1985

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schragel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert, Dr. Gamerith, Dr. Hofmann und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Johannes Michael W***, geboren 12. Jänner 1981, derzeit bei seinem Vater Robert A, Musiklehrer, Pernerstorfergasse 73/1/12, 1100 Wien, infolge Revisionsrekurses des Robert A, vertreten durch Dr. Franz Grois, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 16. Dezember 1984, GZ. 44 R 3596/84-36, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Favoriten vom 12. September 1984, GZ. 6 P 503/83-27, abgeändert wurde, folgenden Beschluß gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluß des Rekursgerichtes wird aufgehoben; diesem wird die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Mutter aufgetragen.

Text

Begründung

Sowohl der Vater als auch die Mutter des am 12. Jänner 1981 geborenen Johannes Michael A beantragen gemäß § 177 Abs 2 ABGB, ihnen wegen nicht bloß vorübergehender Trennung jeweils alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB; im folgenden kurz:

'Elternrechte') allein zu übertragen.

Die Eltern des Minderjährigen lernten sich 1979 als Musikstudenten kennen, heirateten im Sommer 1980, weil die Mutter schwanger geworden war, und wohnten dann gemeinsam in Wien 10., Pernerstorferstraße 73/1/12. Im Juni 1983 verließ die Mutter die eheliche Gemeinschaft und kehrte in ihre Heimat nach Vorarlberg zurück. Sie wohnt nunmehr in Lustenau und ist an der dortigen Musikschule seit Herbst 1983 mit einer halben Lehrverpflichtung beschäftigt. Der Vater weigerte sich anläßlich der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft durch die Mutter, ihr den Minderjährigen nach Lustenau mitzugeben.

Am 27. Dezember 1983 vereinbarten die Eltern vor dem Pflegschaftsgericht, daß das Kind vorläufig im Haushalt des Vaters bleiben sollte. Diese Vereinbarung war nur für die Verfahrensdauer gedacht, da gleichzeitig ein neuer Termin zur Erörterung der Frage der Zuteilung der Elternrechte bestimmt wurde (14. Februar 1984) und bei diesem beide Elternteile ihre Anträge aufrecht erhielten. Während einer Ausübung des Besuchsrechtes zum mj. Johannes im August 1984 behielt die Mutter das Kind bei sich in Vorarlberg. Das Erstgericht übertrug die Elternrechte dem Vater, setzte diesen Beschluß gemäß § 12 Abs 1 AußStrG sogleich in Vollzug und wies den Antrag der Mutter, ihr die Elternrechte zu übertragen, ab. Es stellte im wesentlichen fest: Die Verhältnisse beim Vater seien für eine gedeihliche Entwicklung des Kindes günstig. Er besitze eine geräumige Wohnung, sei Musiklehrer mit voller Lehrverpflichtung, 'jedoch nur an drei Nachmittagen an der Musikschule Wiener Neustadt tätig'. Während seiner Abwesenheit werde der Minderjährige von der väterlichen Großmutter betreut. Die Mutter sei an der Rheintalischen Musikschule mit halber Lehrverpflichtung beschäftigt. Während ihrer Abwesenheit könne der Minderjährige von einer ordentlichen Pflegefamilie betreut werden. Der mj. Johannes sei ein körperlich und geistig seinem Alter entsprechend entwickeltes Kind. Beide Elternteile stünden ihm als gleichwertige Bezugspersonen sehr nahe. Er sei an beide Elternteile gefühlsmäßig stark gebunden. Eine Bevorzugung eines Elternteiles sei nicht erkennbar, sehr wohl aber eine merkliche Präferenz für den gewohnten väterlichen Bereich. Der Minderjährige fühle sich beim Vater geborgen. Er sei bisher ausgezeichnet gefördert worden. Der Vater sei psychisch geordnet, reifer und verantwortungsbewußter als die Mutter, die noch immer Merkmale innerer Unausgeglichenheit und unbewältigter Spannungen in Richtung eines neurotischen Zustandsbildes zeige. Die Betreuung durch die Mutter würde für das Kind eine einschneidende Änderung im Betreuungsstil bedeuten. Das Verhalten der Mutter lasse eine Entwicklung in Richtung symbiotischer Kind-Mutter-Beziehungen nicht ausschließen. Eine Umstellung für den Minderjährigen bedeute es auch, wenn er nach der Absicht der Mutter während ihrer Berufstätigkeit einer 'Tagesmutter' anvertraut werde. Die Zuweisung der Pflege an die Mutter stelle ein merkliches Risiko für die künftige günstige Entwicklung des Kindes dar. Es entspreche daher dem Wohl des Kindes besser, die Elternrechte dem Vater zuzuweisen. Das eingeholte kinderpsychologische Gutachten lasse eine deutliche Präferenz für den väterlichen Bereich erkennen.

Die Beschreibung des Persönlichkeitsbildes der Mutter durch den Sachverständigen werde auch dadurch bestätigt, daß sie sich an die mit dem Vater getroffenen Vereinbarungen nicht gehalten und das Kind aus seiner gewohnten Umgebung herausgenommen habe.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter Folge, wies ihr die Elternrechte zu und und den Antrag des Vaters auf Zuteilung der Elternrechte ab und traf folgende, teils ergänzende, teils abweichende Feststellungen: Die Mutter habe sich von ihrer Absicht, die Schwangerschaft nicht zu unterbrechen, auch von ihrer nunmehrigen Schwiegermutter, die ihr dazu finanzielle Hilfe angeboten habe, nicht abbringen lassen. Die Mutter habe nach der Geburt des Minderjährigen das Kind selbst versorgt und diesem ihre besondere Fürsorge dadurch zugewendet, daß sie es über ein Jahr lang gestillt habe. Die Mutter lebe in Lustenau in bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen. Der Umfang ihrer Lehrverpflichtung an der Rheintalischen Musikschule und die Inanspruchnahme von Gleitzeit mache es ihr möglich, das Kind selbst zu pflegen. Während ihrer berufsbedingten Abwesenheit könne das Kind bei der in der Nähe wohnenden kinderliebenden Familie B neben eigenen Kindern im Haushalt versorgt werden. Die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn befürworte die übernahme des Kindes durch die Mutter. Das Bezirksjugendamt für den 10. Bezirk in Wien erachte die Verhältnisse bei beiden Elternteilen für so gut, daß es 'fast unmöglich' sei, 'sich für einen Elternteil auszusprechen'. Ein neurotisches Zustandbild sei bei der Mutter nach dem Privatgutachten des Primarius Dr. Peter C, dem sich in diesem Punkte auch der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. Erwin D angeschlossen habe, nicht gegeben. Der Persönlichkeitsreifungsprozeß der Mutter sei weitgehend abgeschlossen. Sie sei nach ihrer Gesamtpersönlichkeit durchaus in der Lage, das Kind zu erziehen und für es zu sorgen. Gegen die Fähigkeit des Vaters zur Kindererziehung bestünden zwar keine Bedenken, doch stehe er in starker Abhängigkeit von seiner Mutter und habe sich von seiner Familie noch nicht losgelöst. Die Mutter habe das Kind auch im Frühling und Sommer 1984 besucht.

Im August 1984 habe sie es deshalb nicht mehr herausgegeben, weil sie Angst gehabt habe, es zu verlieren. Seit 6. August 1984 befinde sich der Minderjährige bei der Mutter (die dieser Feststellung widersprechenden Vorgänge über den sofortigen Vollzug des erstgerichtlichen Beschlusses waren bei der Entscheidung durch die zweite Instanz nicht aktenkundig; erst aus dem Antrag der Mutter vom 14. Dezember 1984, das Besuchsrecht zu regeln, und aus weiteren Aktenstücken, die vom Erstgericht dem Rekursgericht nicht vorgelegt wurden, ergibt sich, daß sich das Kind nunmehr - nach dem Revisionsrekurs seit 25. September 1984 - wieder beim Vater befindet).

Dem Rekursgericht erschien das ausführliche Privatgutachten des Primarius Dr. Peter C schlüssig und überzeugend. Der Vorwurf des gerichtlich bestellten Sachverständigen, die Mutter habe das Kind übermäßig lang gestillt, sei nicht gerechtfertigt. Dem Sachverständigen könne auch nicht darin gefolgt werden, daß das Kind eine merkliche Bevorzugung des väterlichen Bereiches erkennen lasse. Auch der Schluß des Sachverständigen, daß der Vater seelisch stabiler und verantwortungsbewußter als die Mutter sei, könne nicht übernommen werden. Beide Elternteile seien vielmehr gleichermaßen geeignet, den Minderjährigen zu pflegen und zu erziehen. Kleinkinder seien im allgemeinen im besonderen Maß der mütterlichen Liebe und Pflege bedürftig und deshalb, wenn nicht Umstände besonderer Art dagegen sprächen, vorzüglich der Mutter zur Pflege und Erziehung zuzuweisen. Das Kind sei daher der Mutter zuzuweisen, die es bis zur Trennung der Eltern zufriedenstellend gepflegt habe und in deren Pflege und Erziehung es sich auch seit August 1984 wieder befinde. Für die Zuweisung an die Mutter spräche auch ihre geringere Lehrverpflichtung; sie könne das Kind in weitaus größerem Umfang als der Vater persönlich betreuen.

Kleinere Kinder hätten im allgemeinen die stärkere Bindung zur Mutter. Für die Zuteilung der Elternrechte sei nicht wesentlich, auf welche Weise das Kind auf seinen derzeitigen Pflegeplatz gelangt sei.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen den Beschluß des Rekursgerichtes erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist berechtigt.

Zu Unrecht wendet sich allerdings der Revisionrekurswerber gegen die (Mit)Berücksichtigung des von der Mutter vorgelegten Privatgutachtens eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie. Wohl finden die zivilprozessualen Vorschriften über den Sachverständigenbeweis auch im Außerstreitverfahren Anwendung. Privatgutachten sind demnach auch hier nicht geeignet, für sich allein die Entscheidung zu stützen, unterliegen aber andererseits keinem Verwertungsverbot (EvBl 1975/80). Der Oberste Gerichtshof ist auch im Verfahren außer Streitsachen - und zwar auch bei der Behandlung ordentlicher Revisionsrekurse - nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz (EFSlg. 44.803, 42.253, 42.254, 39.717, 39.718 uva). Der erkennende Senat hat daher die Erwägungen, aus denen die zweite Instanz das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Erwin D in zahlreichen Punkten für nicht überzeugend hielt und aus denen es dem Privatgutachter folgen zu können glaubte, nicht zu überprüfen und sich auch mit den vom Revisionsrekurswerber gegen die Beweiswürdigung der zweiten Instanz vorgebrachten Argumenten nicht auseinanderzusetzen. Mit Recht macht aber der Revisionsrekurswerber geltend, daß nur das Gutachten des Gerichtssachverständigen auf einer persönlichen Kontaktnahme mit allen unmittelbar Beteiligten, den Eltern und der väterlichen Großmutter, beruht, während das von der Mutter vorgelegte, nur auf einer Untersuchung ihrer Person beruhende Privatgutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie bloß ihren Geisteszustand und ihre Erziehungstauglichkeit zum Gegenstand hat. Damit konnte aber das Rekursgericht zu keiner vollständigen, eine Gesamtabwägung aller für die Unterbringung des Kindes bei dem einen oder anderen Elternteil ermöglichenden Tatsachengrundlage gelangen, weil es die auf einem Vergleich der beiderseitigen Verhältnisse gestützten Gutachtensergebnisse des gerichtlichen Sachverständitgen weitgehend nicht übernahm, das Privatgutachten sich aber auf die Beurteilung der Erziehungstauglichkeit der Mutter beschränkte. Das Rekursgericht konnte mit dieser Vorgangsweise ausreichende Feststellungen über die Gleichwertigkeit der Erziehungsverhältnisse bei beiden Elternteilen nicht treffen und Grundlagen für eine Beurteilung, welche Maßnahme dem Wohl des Kindes am besten entspreche, nicht gewinnen. Hatte es Bedenken gegen das Gutachten des Gerichtssachverständigen, hatte es in geeigneter Weise - vor allem wohl durch eigene Beweisaufnahme (§ 38 Abs 3 GOG) oder Einholung eines weiteren Gutachtens über die relative Erziehungseignung beider Elternteile - die für die Entscheidung erforderlichen Grundlagen zu schaffen. Zu berücksichtigen ist auch, daß das Rekursgericht aus den bereits oben aufgezeigten Gründen keine Kenntnis davon hatte, daß das Kind schon ab 25. September 1984 wieder in Pflege und Erziehung des Vaters war. Bei der Abwägung, welchem Elternteil bei der Zuweisung der Elternrechte im Interesse des Wohles des Kindes der Vorzug zu geben sein wird, ist aber auch zu berücksichtigen, daß die Beibehaltung der im wesentlichen seit Herbst 1983

unverändert bestehenden Erziehungsverhältnisse für die weitere Entwicklung des Kindes Bedeutung haben kann. Es wurde zwar bereits mehrmals ausgesprochen, daß die im Regelfall für Jahre richtungsweisende Entscheidung über den Verbleib eines Kindes nach rechtskräftiger Ehescheidung (bzw. dauernder Trennung) der Eltern nicht von dem mehr oder weniger zufälligen Umstand abhängen soll, welcher Elternteil im Zeitpunkt der faktischen Trennung das Kind gerade bei sich hat; bei der erstmals zu treffenden Entscheidung über die Elternrechte soll ein Elternteil nicht allein deshalb ausscheiden, weil mit der Zuteilung an ihn ein Wechsel im Aufenthalt und in den Pflegeverhältnissen verbunden wäre (EFSlg. 38.417, 24.178 ua); andererseits wurde aber auch die Geltung des Grundsatzes, daß ein Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen nur dann vorzunehmen ist, wenn besondere Umstände dafür sprechen, für die erstmalige Sorgerechtsentscheidung nicht generell abgelehnt (EFSlg. 43.387).

Es kann nicht ganz ohne Bedeutung sein, daß die Eltern am 27. Dezember 1983

vereinbarten, daß das Kind vorläufig im Haushalt des Vaters bleiben soll, auch wenn sie das Verfahren über die endgültige Zuweisung und Aufrechterhaltung ihrer Anträge weiter betrieben, so daß die Vereinbarung nur ein Provisorium für die Dauer des Verfahrens darstellen sollte. Verfehlt ist die Ansicht des Revisionsrekurswerbers, eine Zuweisung des Kindes an die Mutter käme nur dann in Frage, wenn das Wohl des Kindes bei ihm gefährdet wäre, weil die Rechtsprechung dies nur für die Änderung einer einmal getroffenen Regelung über die Zuweisung der Elternrechte ausgesprochen hat, es sich hier aber um die erste Entscheidung über die Elternrechte handelt.

Zu klären wird auch noch zu sein, ob der Vater tatsächlich seiner vollen Lehrverpflichtung nur während drei Nachmittagen der Woche nachkommen kann, während die Mutter mit einer halben Lehrverpflichtung ca. 5 1/2 Stunden täglich (!) beansprucht ist, bei welchem Elternteil also die persönliche Pflege des Kindes in einem größeren Umfang gewährleistet wäre.

Soweit der Revisionsrekurswerber der Mutter - an sich berechtigt - vorwirft, daß sie sich an die mit ihm getroffenen Vereinbarungen über den vorläufigen Verbleib des Kindes nicht gehalten und dieses rechtswidrig an sich genommen habe, ist er darauf zu verweisen, daß die Entscheidung über die Elternrechte nicht als Strafmaßnahme für ein rechtswidriges Verhalten eines Elternteiles gesehen werden kann. Ein solches Verhalten könnte nur von Belang sein, wenn daraus im Einzelfall beim betreffenden Elternteil Schlüsse auf eine mangelnde Eignung zur Erziehung gezogen werden müßten. Sonst ist es für die Entscheidung über die Zuweisung der Elternrechte nicht ausschlaggebend, ob ein Elternteil das Kind eigenmächtig an sich genommen hat (EvBl 1974/38; EvBl 1972/244 ua). Auch darauf, ob die Mutter aus eherechtlich trifftigen Gründen den Haushalt des Vaters verlassen hat, kommt es nicht an (EFSlg. 24.146, 17.244 ua). Das Verfahren erscheint somit ergänzungsbedürftig. Obwohl im Verfahren außer Streitsachen der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht zwingend ist und das Rekursgericht an sich von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes auch ohne Beweiswiederholung abgehen kann (EFSlg. 34.835 mwN), erscheint es wegen der Tragweite der Entscheidung über die Zuweisung der Elternrechte zweckmäßig, wenn sich die zweite Instanz durch persönliche Vernehmung beider Elternteile ein möglichst verlässliches Bild über ihre Erziehungseignung verschafft. Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben.

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