OGH 7Ob60/79

OGH7Ob60/7920.12.1979

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Neperscheni als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Flick, Dr. Petrasch, Dr. Wurz und Dr. Jensik als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Anneliese U*****, vertreten durch Dr. Karl Mitter, Rechtsanwalt in Leibnitz, wider die beklagte Partei G***** Versicherung, *****, vertreten druch Dr. Hans Kosmath, Rechtsanwalt in Graz, wegen 126.512 S sA und Feststellung (Streitwert 15.000 S) infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 20. September 1979, GZ 3 R 91/79-29, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 27. April 1979, GZ 6 Cg 70/78-21, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung

Walter B***** verschuldete am 29. 4. 1975 mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten PKW Ford Escort, Kennzeichen *****, einen Verkehrsunfall, bei dem die Klägerin schwer verletzt wurde. Er wurde deshalb mit Urteil des Bezirksgerichts Wildon vom 12. 8. 1975, GZ U 192/75-4, wegen Vergehens der fahrlässigen schweren Körperverletzung nach § 88 Abs 4 StGB verurteilt. In dem beim Erstgericht zum AZ 14 Cg 322/75 anhängig gewesenen Haftpflichtprozess wurde Walter B***** schuldig erkannt, der Klägerin 126.512 S (125.000 S Schmerzengeld und 1.512 S Heilungskosten) zu zahlen. Außerdem wurde festgestellt, dass Walter B***** der Klägerin für alle ihre künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 29. 4. 1975 voll ersatzpflichtig ist. In diesem Rechtsstreit wurde der Beklagten von Walter B***** und der Klägerin der Streit verkündet (S 11 und S 13). Die Beklagte ist jedoch dem Haftpflichtprozess nicht als Nebenintervenientin beigetreten.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten den Zuspruch von 126.512 S sA und beantragt die Feststellung, dass ihr die Beklagte für alle ihre künftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 29. 4. 1975 zu haften habe. Die Beklagte beantragt Klagsabweisung und behauptet, Walter B***** habe den Eintritt des Versicherungsfalls zumindest mit bedingtem Vorsatz herbeigeführt. Die Beklagte sei daher der Klägerin gegenüber nicht leistungspflichtig.

Das Erstgericht entschied im Sinne des Klagebegehrens. Nach seinen Feststellungen gingen am 29. 4. 1975 die damals noch nicht verheiratete Klägerin, Annemarie P*****, Erna G***** und Nedilka T***** auf der Bundesstraße Nr 67 in etwas angeheitertem Zustand. Walter B***** war mit seinem PKW unterwegs und sprach die Mädchen an, die ihn jedoch abwiesen. Als die Mädchen in eine Gemeindestraße einbogen, folgte ihnen Walter B***** und fuhr mit seinem PKW so nahe an die Klägerin heran, dass er sie mit der Stoßstange in der Kniegegend berührte, jedoch nicht verletzte. Die Klägerin setzte sich hierauf im Bereich der Windschutzscheibe auf die Motorhaube und den linken Kotflügel des zum Stillstand gekommenen PKWs des Walter B*****. Dieser fuhr sodann in der Absicht, die Klägerin von den übrigen Mädchen abzusondern, mit heulendem Motor los. Seine Fahrtgeschwindigkeit war schneller als die Laufgeschwindigkeit der Mädchen. Welche Geschwindigkeit Walter B***** mit seinem PKW erreichte, vermochte das Erstgericht nicht festzustellen. Als Walter B***** mit dem PKW eine Strecke von ca 300 m zurückgelegt hatte, näherte er sich einer Kurve und verringerte seine Geschwindigkeit. Diese Gelegenheit benützte die Klägerin und sprang vom PKW ab. Sie kam jedoch zum Sturz und schlug mit dem Kopf auf der Fahrbahn auf. Walter B***** hatte sich als er mit seinem PKW mit der auf diesem sitzenden Klägerin startete, bis zu deren Abspringen keine Gedanken über allfällige Folgen seines Tuns (Verletzungen der Klägerin) gemacht. Er hatte auch nicht die Absicht, die Klägerin zu verletzen. Das Erstgericht war der Ansicht, Walter B***** habe den Verletzungserfolg der Klägerin auch nicht mit bedingtem Vorsatz herbeigeführt. Die Beklagte sei daher in Ansehung des der Klägerin bereits entstandenen und ihres in Zukunft noch zu erwartenden Schadens leistungspflichtig. Hinsichtlich der Höhe der geltend gemachten Ansprüche sei die Entscheidung im Haftpflichtprozess auch für den vorliegenden Rechtsstreit bindend.

Das Berufungsgericht hob das Ersturteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Prozessgericht erster Instanz zurück. Das Erstgericht habe sich, so meint das Berufungsgericht, trotz eingetretenen Richterwechsels mit der Verlesung der Aussage des Zeugen Walter B*****, ungeachtet des Widerspruchs der Beklagten, begnügt und dadurch gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen. Außerdem habe das Erstgericht von der Einvernahme der beantragten Zeugen Annemarie P*****, Erna G***** und Nedilka T***** Abstand genommen und dadurch die Beklagte in ihren Verteidigungsrechten beeinträchtigt. Die Vernehmung dieser Zeugen sei daher unerlässlich. Die Beiziehung eines Sachverständigen für das Kraftfahrzeugwesen sei hingegen entbehrlich. Im Hinblick auf die dem Erstgericht unterlaufenen Verfahrensmängel könne derzeit noch nicht beurteilt werden, ob Walter B***** den Versicherungsfall fahrlässig oder bedingt vorsätzlich herbeigeführt habe. Im Übrigen teilte das Berufungsgericht die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass dem im Haftpflichtprozess (14 Cg 322/75 des Erstgerichts) gefällten Urteil Bindungswirkung für den vorliegenden Rechtsstreit zukomme. Die Frage des Bestandes und der Höhe des Anspruchs der Klägerin auf Schmerzengeld und Heilungskostenersatz sei daher einer Überprüfung entzogen.

Den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts bekämpft die Beklagte mit Rekurs. Sie beantragt, die vom Berufungsgericht ausgesprochene Rechtsansicht über die Bindungswirkung des Urteils im Haftpflichtprozess und den dem Erstgericht erteilten Auftrag, von der Beiziehung eines Kraftfahrzeugsachverständigen abzusehen, zu beseitigen (Fasching, IV, S 414).

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nicht berechtigt.

Die Rekurswerberin ist der Ansicht, das Erstgericht wie auch das Berufungsgericht hätten aufgrund der bereits aufgenommenen Beweise feststellen können, dass Walter B***** eine Verletzung der Klägerin durch sein Verhalten für möglich gehalten, sich jedoch damit abgefunden und daher den Versicherungsfall bedingt vorsätzlich herbeigeführt habe.

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Berufungsgericht zur Klärung der strittigen Frage einer bloß fahrlässigen oder bedingt vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch Walter B***** die Aufnahme weiterer Beweise für erforderlich erachtet. Hält aber das Berufungsgericht die Tatfrage für nicht genügend geklärt, so kann dem der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht entgegentreten (Fasching, IV, S 414, SZ 38/29; JBl 1963/166 uam).

Mit ihren weiteren Ausführungen, dass im vorliegenden Rechtsstreit die Einholung eines Gutachtens eines Kraftfahrzeugsachverständigen unerlässlich sei, bekämpft die Rekurswerberin in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, das den Sachverständigenbeweis in Übereinstimmung mit dem Erstgericht für entbehrlich erachtet.

Die Rekurswerberin bekämpft schließlich die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass dem im Haftpflichtprozess der Klägerin gegen Walter B***** gefällten Urteil Bindungswirkung für den vorliegenden Rechtsstreit zukomme. Der Rekurswerberin habe im Hinblick auf den von ihr in Anspruch genommenen Risikoausschluss des § 152 VersVG jedes Interesse am Obsiegen einer Partei im Haftpflichtprozess gefehlt. Für die Rekurswerberin habe daher auch keine Veranlassung bestanden, dem Haftpflichtprozess als Nebenintervenientin beizutreten.

Zuzugeben ist, dass § 152 VersVG nicht eine Obliegenheitsverletzung des Versicherten, sondern einen subjektiven Risikoausschluss normiert (Prölß-Martin, VersVG21, S 703 SZ 34/1; vgl auch BGH in VersR 1971, 239 uam). Dies ist jedoch für die Frage der Bindungswirkung des Urteils im Haftpflichtprozess für den Leistungsprozess gegen den Haftpflichtversicherer ohne Bedeutung. Vorauszuschicken ist, dass der geschädigte Dritte bis zur Gewährung der Direktklage durch § 63 Abs 1 KFG 1967 auch in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung den Versicherer nur auf dem Umweg über die Erwirkung eines Leistungsurteils gegen den Schädiger (Versicherten) und der anschließenden Drittschuldnerklage aufgrund exekutiver Überweisung des Deckungsanspruchs des Versicherten in Anspruch nehmen konnte. In diesem Falle hatte das im Haftpflichtprozess gefällte Urteil gegen den Haftpflichtversicherten mit Rücksicht auf die Natur und den Zweck des Haftpflichtversicherungsvertrags die Bindungswirkung, dass die Ersatzpflicht des Versicherten hinsichtlich ihres Bestandes und ihrer Höhe im Deckungsprozess gegen den Versicherer nicht nachgeprüft werden durfte, sofern sich dieser am Haftpflichtprozess beteiligt hatte oder vergeblich zur Nebenintervention aufgefordert worden war (Bruck-Möller-Johannsen, Kommentar zum VersVG8, IV, S 95 f; Prölß-Martin, VersVG21, S 742 f; SZ 30/26, 47/38; VersR 1960, 935, mit zustimmender Besprechung von Wahle; EvBl 1972/77; ZVR 1960/91, 1971/143). An dieser Rechtslage hat sich durch die Einräumung eines direkten Klagerechts gegen den Versicherer durch § 63 Abs 1 KFG nichts geändert. Die Regelung des § 63 Abs 4 KFG entspricht nämlich den auf den Deckungsanspruch früher anzuwendenden Bestimmungen des § 158d Abs 2 und § 158e Abs 1 VersVG. Wenn aber das Gesetz fordert, dass der geschädigte Dritte, der seinen Schadenersatzanspruch gegen den ersatzpflichtigen Versicherten geltend macht, dies dem Versicherer unverzüglich schriftlich anzuzeigen hat, widrigenfalls sich dessen Haftung auf den Betrag beschränkt, den er auch bei gehöriger Erfüllung dieser Pflicht zu leisten gehabt hätte, dann trifft weiterhin die Hauptbegründung für die schon früher angenommene Bindungswirkung des Haftpflichturteils für den Deckungsprozess zu, dass es nämlich Sache des ordnungsgemäß verständigten Versicherers sei, sich schon im Haftpflichtprozess um die Abwehr unbegründeter Ansprüche zu kümmern (SZ 47/38; EvBl 1972/77).

Obwohl im Haftpflichtprozess der Rekurswerberin von Walter B***** und von der Klägerin der Streit verkündet worden war, ist sie diesem Rechtsstreit als Nebenintervenientin nicht beigetreten. Bei Vorliegen des von der Rekurswerberin behaupteten Risikoausschlusses nach § 152 VersVG hätte allerdings ihr Beitritt als Nebenintervenientin wenig Sinn gehabt, weil sie in diesem Falle ohnedies leistungsfrei wäre. Die Rekurswerberin übersieht jedoch, dass die von ihr behauptete Leistungsfreiheit wegen Vorliegens des vorerwähnten Risikoausschlusses erst in diesem Verfahren zu prüfen ist. Wenn daher die Rekurswerberin trotz der ungeklärten Rechtslage hinsichtlich der von ihr behaupteten Leistungsfreiheit einen Beitritt als Nebenintervenientin im Haftpflichtprozess unterließ, so war dies ihr Risiko. Mit Recht bejahte daher das Berufungsgericht die Bindungswirkung des im Haftpflichtprozess gefällten Urteils für den vorliegenden Rechtsstreit.

Dem Rekurs der Beklagten war somit nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO.

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