European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1977:0050OB00682.77.1206.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Die Minderjährige A* ist * 1968 und der Minderjährige M* ist * 1969 geboren. Die Ehe der Eltern der Minderjährigen ist seit 1970 geschieden. 1971 haben die Eltern vereinbart, daß die Minderjährigen bis zum Besuch der Pflichtschule bei der väterlichen Großmutter in Pflege und Obsorge verbleiben, dann aber in die Obsorge der Mutter kommen sollen. Das Erstgericht hat die Vereinbarung der Eltern für die Zeit bis zum Pflichtschulbesuch der Minderjährigen pflegschaftsbehördlich genehmigt, sich jedoch die Entscheidung für die Zeit danach bis zu dem Zeitpunkt Vorbehalten, zu welchem überprüft werden kann, welche Lebensverhältnisse die Kinder allenfalls bei der Mutter zu erwarten haben.
Am 30. Juni 1976 hat die Mutter, die nun wieder verehelicht ist und mit ihrem Mann, einem schweizer Staatsbürger, und mit ihrem nun vierjährigen Sohn aus dieser zweiten Ehe in S*, wohnt, beim Erstgericht den Antrag gestellt, ihr nun die beiden Minderjährigen in Pflege und Erziehung zu überweisen.
Der Vater der Minderjährigen hat sich gegen die Bewilligung des Antrages ausgesprochen und insbesondere darauf hingewiesen, daß der Schul- und Mileuwechsel für die Kinder von Nachteil sei.
Die Jugendfürsorgeabteilung der Bezirkshauptmannschaft L* wies darauf hin, daß die Minderjährigen bei den väterlichen Großeltern seht gut versorgt und die Familienverhältnisse dort ausgezeichnet seien. Sie sprach die Ansicht aus, daß eine Änderung der Pflegestelle für die Minderjährigen schon wegen der völlig fremden Umgebung in einem anderen Land sicher von Nachteil sei; auch die Lehrer der Kinder hätten deshalb abgeraten, eine Änderung vorzunehmen.
Das Erstgericht hat dem Antrag der Mutter stattgegeben und ihr die Minderjährigen zur Pflege und Erziehung zugewiesen. Es ging dabei von folgenden Erhebungsergebnissen aus:
Im Kanton G*, in welchem der nunmehrige Wohnort der Mutter liegt, umfaßt die Primarschule sechs Schuljahre. Daran schließt sich entweder eine dreijährige Sekundarschule zur Vorbereitung auf höhere Schulen oder entsprechende Berufe oder die mehr praktisch ausgerichtete dreijährige Realschule. In den ersten drei Jahrgängen der Primarschule in S*, dem nunmehrigen Wohnort der Mutter, ist die Unterrichtssprache romanisch; ab dem vierten Schuljahr wird in sechs Unterrichtsstunden wöchentlich deutsch unterrichtet, ab der sechsten Klasse wird zur Gänze deutsch unterrichtet. In S* leben viele deutsche Familien, deren Kinder sich relativ gut in den romanischen Unterricht einfügen. Insgesamt sind es in der Unterstufe ca 40 Kinder deutscher Familien, die den romanischen Unterricht ihrer Begabung entsprechend bewältigen, wobei allerdings vermehrter Fleiß der Kinder und höherer Einsatz der Eltern sowie Nachhilfestunden erforderlich sind. Der Schulberater des schulpsychologischen Dienstes in G* kennt eine Reihe vergleichbarer Fälle, in denen eine Umstellung der Kinder auf die dortigen Schulverhältnisse bewältigt wurde. Auch die Vormundschaftsbehörde U* hat mitgeteilt, daß es durch die Umstellung von Kindern auf die romanische Sprache beim Unterricht selten Schwierigkeiten gebe; wenn die Kinder gute Schüler seien, werde von ihnen die romanische Sprache leicht dazugelernt. In T*, wenige Kilometer von S* entfernt, befindet sich die Bergschule A*, die Primar-, Sekundär- und Realschulbereich umfasse, und an der in deutscher Sprache unterrichtet wird. Dort beträgt das Schulgeld SFr 150,-- pro Kind. Auf Anregung der Bezirkshauptmannschaft L* befand sich die Minderjährige A* in der Zeit vom 11. Mai bis 20. Juni 1977 in der Kinderstation des Landeskrankenhauses * zur Feststellung, bei welchem Elternteil die künftige Unterbringung des Kindes am günstigsten erscheine. Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N* kam im wesentlichen zu folgendem Ergebnis:
Die Minderjährige sei einerseits frühreif, andererseits jedoch auf Grund der Persönlichkeitsentwicklung mehr schütz- und hilfsbedürftig als andere Mädchen gleichen Alters; sie werde derzeit zwischen der väterlichen Großmutter und der Mutter hin- und hergerissen, fühle sich aber doch vor allem zur Mutter hingezogen. Andererseits spreche für die weitere Erziehung im Hause der väterlichen Großmutter, daß das Kind eine sehr gute Schülerin geworden sei. Das Kind sei eher verwöhnt und eigenwillig und man müsse befürchten, daß die Großmutter ihm auf die Dauer nicht gewachsen sein werde. Derzeit sei das Kind sehr beeinflußbar und leide unter den Schwierigkeiten, die daraus entstanden seien, daß sowohl die Mutter als auch der Vater und die Großmutter das Mädchen bei sich haben wollten.
Das Erstgericht kam zu dem Ergebnis, daß die Mutter doch wichtigste Bezugsperson sei und deshalb in Zukunft die Erziehung der Kinder übernehmen sollte; die mit einer Übersiedlung in die Schweiz verbundenen schulischen Schwierigkeiten seien dagegen nicht so schwerwiegend, es müßten auch sonstige Umstellungsschwierigkeiten in Kauf genommen werden, aber die Kinder müßten nun endlich wissen, wohin sie gehörten.
Das Gericht zweiter Instanz änderte in Stattgebung des Rekurses des Vaters die Entscheidung des Erstgerichtes dahin ab, daß es den Antrag der Mutter abwies. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Rekursgericht im wesentlichen an:
Anläßlich ihrer Vereinbarung von 1971 seien die Eltern von der richtigen Überlegung ausgegangen, daß in der Entwicklung der Kinder der entscheidende Zeitpunkt mit dem Beginn der Schulzeit anzusetzen sei, weil dann die Kinder nicht mehr ausschließlich in der häuslichen Umgebung aufwüchsen. Bis dahin stehe die Pflege, Geborgenheit und Fürsorge im Vordergrund. Zur Zeit der Antragstellung der Mutter, ihr die Kinder in Pflege und Erziehung zu überantworten, habe die Tochter A* bereits die 2. Volksschulklasse und der Sohn M* die erste Klasse dieser Schule hinter sich gebracht. Beide Kinder seien sehr gute Schüler und von ihren Lehrern als brav und anständig erzogen beschrieben. Die väterliche Großmutter habe sich bereits damals in vorbildlicher Weise um das schulische Fortkommen der Kinder gekümmert. Heute seien die Kinder mittlerweile in der 4. bzw 3. Klasse der Volksschule und in Kürze ergebe sich besonders in Ansehung der Tochter A* die Frage, ob sie eine allgemein bildende höhere Schule besuchen soll; dies wäre in L* möglich. Es sei schon aus diesen Gründen ein besonders strenger Maßstab bei der Beantwortung der Frage anzulegen, ob ein Wechsel des Pflegeortes gerechtfertigt sei, denn es sollte nach Tunlichkeit jede Maßnahme vermieden werden, die schulpflichtigen Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen. Der Antrag der Mutter wäre gewiß nicht unberechtigt gewesen, als die Kinder noch nicht die Schule besuchten. Wenn nicht äußere oder charakterliche Umstände gegen die Mutter sprächen, so soll grundsätzlich die Mutter das Vorrecht gegenüber dritten Personen zur Ausübung der Pflege und Erziehung haben. Die Mutter der Minderjährigen lebe auch in geordneten Verhältnissen, sodaß von dieser Seite her nichts gegen eine Überlassung der Kinder an sie spräche. Es sei auch durchaus möglich, daß es ihr besser gelingen könne, der schwierigen Entwicklungsphase zu begegnen, in der sich die Minderjährige A* derzeit befinde. Indessen seien die äußeren Umstände, die auf die beiden Minderjährigen bei einer Übersiedlung in die Schweiz einwirkten, so schwerwiegend, daß der Antrag der Mutter nicht gerechtfertigt sei.
Es sei davon auszugehen, daß die Minderjährigen in der Schweiz im Auslande wären. Dies sei ein Nachteil, der auch nicht dadurch aufgehoben werde, daß die Eidgenössische Fremdenpolizei eine Zusicherung der weiteren Aufenthaltsbewilligung zu geben bereit sei. Die Kinder seien österreichische Staatsbürger und hätten grundsätzlich und zu allererst das Recht, in Österreich zu leben und hier die schulische und berufliche Ausbildung zu genießen, die sie einmal befähigen soll ihr Leben selbst zu gestalten. Es bestehe die Gefahr, daß sie in der Schweiz ihr Ausbildungsziel nicht erreichten. Die Umgangssprache im E* sei romanisch. In den ersten drei Jahren der Primarschule werde dort auch nur in dieser Sprache unterrichtet und später sei die deutsche Sprache nur ein Unterrichtsfach mit nur sechs Stunden in der Woche. Das den Kindern jetzt noch gewährleistete Recht, ihre Muttersprache in Wort und Schrift zu erlernen und sich darin auszubilden, wäre in der Schweiz nur dann zu bewahren, wenn sie mit beträchtlichen Kosten in einer Privatschule untergebracht würden. Den Gefahren, die mit den sprachlichen Schwierigkeiten und den Anpassungsschwierigkeiten und seelischen Erschütterungen verbunden seien, die durch den Mileuwechsel der Kinder ausgelöst werden, dürften die Kinder nicht ohne zwingende Notwendigkeit ausgesetzt werden. Die Entwicklung der Kinder sei bereits soweit fortgeschritten, daß die äußeren Umstände (Umgebung, Schule, Fortbildung etc) für eine Belassung der Kinder bei ihrer väterlichen Großmutter sprächen. Dies entspreche dem Wohl der Kinder.
Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichtes richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter der Minderjährigen mit dem Hauptantrag, den Beschluß des Erstgerichtes wiederherzustellen, und dem Hilfsbegehren, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Erstgericht aufzutragen, nach Verfahrensergänzung neuerlich zu entscheiden.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist nicht gerechtfertigt.
Das Erstgericht hatte der von den Eltern der Minderjährigen im Jahre 1971 geschlossenen Vereinbarung, daß die bei der väterlichen Großmutter befindlichen Kinder mit Erreichung des Pflichtschulalters der Pflege und Erziehung ihrer Mutter überantwortet werden sollen, die pflegschaftsbehördliche Genehmigung im Sinne des § 142 ABGB mit der berechtigten Begründung vorenthalten, daß erst zu dem vorgesehenen Zeitpunkt des beabsichtigten Wechsels in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen über die Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme entschieden werden könne. In der Tat darf nämlich ein auch vereinbarter Wechsel der mit der Pflege und Erziehung der Minderjährigen betrauten Person immer nur unter sorgfältiger Bedachtnahme auf die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles dann bewilligt werden, wenn wichtige Umstände eine solche Veränderung im Interesse der Pflegebefohlenen erfordern. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, daß eine durch Erfolge bewährte Pflege und Erziehung von der damit betrauten Person fortgesetzt und der Ungewißheit und Unsicherheit vorgezogen werden soll, die in der Regel mit jedem Wechsel in der Person des Pflege- und Erziehungsberechtigten verbunden sind. Von diesem Grundsatz soll nur dann abgegangen werden, wenn besondere Umstände dafür sprechen, daß die durch die Persönlichkeit, den Charakter, die pädagogischen Fähigkeiten und die wirtschaftlichen Verhältnisse des in Erwägung gezogenen neuen Pflege- und Erziehungsberechtigten den Pflegebefohlenen eröffneten Möglichkeiten aller Voraussicht nach zu einer beachtlichen Verbesserung ihrer Lage und ihrer Zukunftserwartungen führen werden. In einem solchen Fall kann das mit dieser Veränderung verbundene Risiko in Kauf genommen werden. Da es eine gesetzliche Anordnung nicht gibt, die unabhängig vom Wohl der Kinder einem bestimmten Elternteil oder den Eltern gegenüber den Großeltern oder einem Teil von ihnen ein Vorrecht auf die Pflege und Erziehung der Kinder einräumt, sind die eben dargelegten Erwägungen auch im Falle eines beabsichtigten Wechsels in der Person des Pflege- und Erziehungsberechtigten innerhalb dieses Personenkreises anzustellen. Ein solcher Fall steht hier zur Entscheidung.
Die pflegebefohlenen Minderjährigen befinden sich mit Genehmigung des Pflegschaftsgerichtes seit früher Kindheit in Pflege und Erziehung ihrer väterlichen Großmutter. Sie wurden bisher von der Großmutter (und dem Großvater) zu braven und anständigen Kindern erzogen und bestens versorgt. Es wird ihnen dort das Gefühl der Geborgenheit und des Daheimseins vermittelt. Die Großeltern der Kinder sind der Schule aufgeschlossen und vorbildlich um den schulischen Erfolg der Kinder bemüht. Die Kinder sind auch sehr gute Schüler der Volksschule in L*.
Die Pflege und Erziehung der Minderjährigen durch ihre väterlichen Großeltern hat sich demnach in jeder Beziehung sehr bewährt.
Die Mutter hat sich bis zur Stellung ihres Antrages beim Erstgericht, ihr die Minderjährigen in Pflege und Erziehung zu überantworten, nur sehr wenig um die Kinder gekümmert. Sie hat sie nur sehr sporadisch besucht bzw zu sich nach S* in die Schweiz auf Besuch geholt. Es besteht also bisher nur ein sehr loser und oberflächlicher Kontakt zwischen der Mutter und ihren Kindern. Irgendeine besondere in der Persönlichkeit der Mutter, ihres Charakters, ihrer pädagogischen Fähigkeiten oder ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse begründete Erwartung, daß sich die Lage und die Zukunftsaussichten der Minderjährigen gegenüber ihren derzeitigen Verhältnissen, die ihnen bei den väterlichen Großeltern geboten werden, überhaupt geschweige denn in beachtlicher Weise verbessern könnten, besteht nach den Ergebnissen der vom Erstgericht durchgeführten Ermittlungen nicht. Im Gegenteil: die Kinder sind, wie das Gericht zweiter Instanz bereits zutreffend bemerkt hat, infolge der mit der Übersiedlung in ein fremdes Land, in dem eine ihnen bisher völlig fremde Umgangssprache gebraucht wird (Rhätoromanisch), verbundenen einschneidenden Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse, infolge ihrer bisher geringen persönlichen Bindung an ihre Mutter und infolge Mangels jeglicher (familiärer oder persönlicher) Beziehung zu dem Mann ihrer Mutter allen Gefahren ausgesetzt, die sich aus dem Verlassen ihrer bisher gesicherten und gewohnten Umgebung und dem plötzlich Auf-sich‑allein-gestellt-sein in einer fremden Umwelt gemeiniglich ergeben. Berücksichtigt man dazu noch, daß die Kinder in S* selbst zunächst nur rhätoromanischen Unterricht – ab dem 4. Schuljahr mit nur sechs Wochenstunden Unterricht in der deutschen Sprache und erst ab dem sechsten Schuljahr ausschließlichen Unterricht in dieser Sprache – genießen können, dem sie voraussichtlich während einer längeren Übergangsphase (mit Nachhilfeunterricht) sprachlich nicht werden folgen können, und daß nur theoretisch die Möglichkeit besteht, in dem einige Kilometer von S* entferntem Ort T* in einer privaten Bergschule deutsch unterrichtet zu werden, denn die Mutter hat bisher nicht einmal behauptet, daß sie und ihr nunmehriger Mann bereit sein werden, die Kinder in diese Schulde zu schicken und das dafür erforderliche Schuldgeld von SFr 150,-- pro Monat und Kind zu bezahlen, so zeigt sich, daß sich jedenfalls die erzieherischen Verhältnisse vom Standpunkt der Schulbildung aus gesehen für die Minderjährigen als sehr schwierig erweisen würden. Ein gewichtiger Grund mehr, es bei den bisherigen Erziehungsverhältnissen zu belassen.
Dem Revisionsrekurs der Mutter der Minderjährigen kann aus all den aufgezählten Gründen kein Erfolg beschieden sein.
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