European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1975:0020OB00164.75.1002.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben; der angefochtene Beschluß wird aufgehoben und dem Berufungsgericht neuerliche Entscheidung über die Berufung auf getragen.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Begründung:
Am 16. 6. 1972 wurde auf der Wechselbundesstraße in P* der damals siebenjährige Sohn des Klägers, J*, von einem vom Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen PKW., dessen Haftpflichtversicherer die Zweitbeklagte war, niedergestoßen und getötet.
Der Kläger begehrte Schadenersatz im Betrage von 22.697,30 S.
Die Beklagten beantragten Klagsabweisung, da den Erstbeklagten kein Verschulden treffe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Das Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache unter Rechtskraftvorbehalt zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.
Die Beklagten erheben Rekurs wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Aktenwidrigkeit; sie beantragen, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und dem Berufungsgericht neuerliche Entscheidung aufzutragen.
Der Rekurs ist begründet.
Rechtliche Beurteilung
Die Untergerichte sind von folgenden Feststellungen ausgegangen:
Der Erstbeklagte fuhr um ca. 12:50 Uhr mit seinem PKW. in Richtung Aspang. Die Wechselbundesstraße verläuft am Anfang von P* in einer Rechtskurve und übersetzt vor der Unfallsstelle eine Kuppe. Nach Erreichen der höchsten Stelle fällt die Fahrbahn in Richtung Aspang geringfügig ab und macht nach einer längeren geraden Strecke wieder eine Rechtskurve. Im Ortsgebiet von P* ist eine Geschwindigkeit von 70 km/h zugelassen. Die 7,5 m breite Rauhasphaltfahrbahn war trocken und es herrschte sonniges Wetter. Die beiden Fahrbahnränder waren durch weiße Begrenzungslinien gekennzeichnet. In Fahrtrichtung des Erstbeklagten befand sich rechts neben der Straße ein Parkplatz vor einem Gasthaus. An dieses schließt ein Gastgarten an. Auf dessen Höhe ist die Straße nach rechts zu einer Autobushaltestelle verbreitert. Daran schließt ein weitläufiger Parkplatz an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich zunächst die Einmündung einer Nebenstraße, anschließend eine Haltestelle der Österreichischen Bundesbahnen mit einem Wartehaus. Als sich der Erstbeklagte der späteren Unfallsstelle näherte, standen vor dem Gasthaus und daran anschließend in südlicher Richtung verschiedene Kraftfahrzeuge darunter auch Lastkraftwagen, unmittelbar an der weißen Linie, die den rechten Fahrbahnrand markierte. Der Erstbeklagte hielt zu diesem Fahrbahnrand einen Abstand von maximal 1 m ein. Als er sich der Unfallsstelle näherte, war die Straße für ihn völlig frei. Den Raum hinter den rechts neben der Straße parkenden Fahrzeugen konnte er nicht einsehen, weil ihm diese Fahrzeuge die Sicht völlig nahmen. Links neben der Straße sah er ein Stück entfernt von dieser zwei Kinder, die sich von der Straße weg bewegten. Der ortskundige Erstbeklagte erachtete die Situation für unbedenklich und gab daher kein Hupzeichen. Während er nun an den rechts neben der Straße abgestellten Fahrzeugen vorbeifuhr, lief plötzlich der am * geborene J* hinter einem LKW. von rechts her auf die Straße, um diese zu überqueren. Er tauchte für den Erstbeklagten eine halbe Sekunde vor dem Zusammenstoß auf. Noch ehe der Erstbeklagte reagieren konnte, kollidierte die rechte vordere Ecke seines Fahrzeuges mit dem Kind, wobei eine Überdeckung von ca. 30 cm erfolgte. Das Kind hatte 1 m in 0,5 Sekunden zurückgelegt. Durch den Vorfall erschreckt zuckte der Erstbeklagte zusammen, nahm erst dann eine Bremsung vor und hielt sein Fahrzeug hinter der Autobushaltestelle am rechten Fahrbahnrand an. Bei diesem Anhalten fiel das Kind, das auf der Motorhaube des Wagens zu liegen gekommen war, vor dem Fahrzeug auf die Straße. Vor dem Unfall waren die beiden Kinder, die der Erstbeklagte links neben der Straße sah, gemeinsam mit J* von rechts nach links über die Straße gelaufen; J* war anschließend wieder zurückgelaufen und hatte sich bis zum Herankommen des Erstbeklagten hinter den vor dem Gasthaus parkenden Fahrzeugen aufgehalten. Dann war er, ohne am Straßenrand anzuhalten, in einem Zug vor den Wagen des Erstbeklagten gelaufen. Als J*mit den beiden anderen Kindern zunächst über die Straße und dann wieder zurückgelaufen war, befand sich der Erstbeklagte noch jenseits der Bergkuppe und hatte keine Sicht auf die spätere Unfallsstelle.
Das Erstgericht verneinte ein Verschulden des Erstbeklagten.
Das Berufungsgericht meinte jedoch, der Erstbeklagte habe als Halter nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Vorsicht angewendet, denn er sei mit der gerade noch zulässigen Höchstgeschwindigkeit gefahren, obwohl er als Ortskundiger im Hinblick auf die Tageszeit und die ihm bekannten örtlichen Verhältnisse (durch vor allem Mittagsgäste frequentiertes Gasthaus gegenüber bzw. neben einer Eisenbahn- und Autobushaltestelle) mit die Straße überquerenden Fußgängern, insbesondere Schulkindern rechnen habe müssen. Die erhöhte Sorgfaltspflicht setze nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlange, daß von vornherein vermieden werde, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen könne. Da der Sohn des Klägers den Unfall primär verursacht habe, sei der Schaden 1:3 zu Lasten des Klägers zu teilen. Die Bejahung der Haftung der Beklagten für die Ansprüche des Klägers mache deren Überprüfung im fortgesetzten Verfahren erforderlich.
Die Rekurswerber wenden sich zunächst dagegen, daß nach der Darstellung des Berufungsgerichtes der Erstbeklagte mit einer Geschwindigkeit von 72 km/h gefahren sei.
Hier ist dem Berufungsgericht tatsächlich eine Aktenwidrigkeit unterlaufen, weil es im Ersturteil heißt, die allenfalls mögliche Geschwindigkeit des Erstbeklagten habe 72 km/h betragen, was gegenüber der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h keine unfallsrelevante Überschreitung darstelle; es sei einem Kraftfahrzeuglenker gar nicht möglich, eine Geschwindigkeit von 72 und 70 km/h zu differenzieren. Außerdem könne eine langsamere Geschwindigkeit als 70 km/h nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Demnach hat das Erstgericht nicht festgestellt, daß der Erstbeklagte mit einer Geschwindigkeit von über 70 km/h gefahren ist.
Des weiteren wendet sich der Rekurs gegen die Ausführung des Berufungsgerichtes, daß der Erstbeklagte trotz Sichtbehinderung durch eine Kurve, eine Kuppe und am Fahrbahnrand abgestellte Fahrzeuge mit der gerade noch zulässigen Höchstgeschwindigkeit (sogar mit 72 km/h) gefahren sei, obwohl er mit die Straße überquerenden Fußgängern rechnen habe müssen.
Feststellungen in der bezeichneten Richtung (Gasthausbesucher) liegen in der Tat nicht vor. Soweit es sich um rechtliche Überlegungen über die Sorgfaltspflicht des Erstbeklagten handelt, wird darauf noch einzugehen sein.
In rechtlicher Hinsicht verweisen die Rekurswerber darauf, daß eine von dritter Seite hervorgerufene überraschende Gefahrenlage nicht von vornherein vermieden werden könne. Der Erstbeklagte habe unter den gegebenen Umständen nicht damit rechnen können, daß plötzlich unmittelbar vor seinem Fahrzeug ein Kind hinter einem abgestellten Wagen auf die Straße herauslaufen werde, obwohl keinerlei Anhaltspunkte für das Herankommen eines solchen Ereignisses gegeben gewesen seien.
Diesen Ausführungen ist beizupflichten. Nach Kraftfahrzeugunfällen ist rückblickend in der Regel erkennbar, durch welche Maßnahmen der Lenker den Unfall doch noch hätte vermeiden können. Wenn diese Maßnahmen aber vor dem Unfall, also vorausschauend, nicht „nach den Umständen des Falles geboten“ waren, gilt der Unfall als unabwendbares Ereignis, obwohl er objektiv betrachtet abwendbar gewesen wäre (BGH. VRS. 17, 102; Geigel 15, Der Haftpflichtprozeß, 25, 39; Wussow, Das Unfallhaftpflichtrecht12 Randzahl 709). Die vom Berufungsgericht herangezogenen Entscheidungen betrafen insoferne einen anderen Sachverhalt, als in ZVR. 1975/27 den Lenker der Vorwurf traf, nicht sofort voll gebremst zu haben, wodurch der Zusammenstoß noch hätte vermieden werden können. Im Falle der Entscheidung ZVR 1974/101 hat der Lenker auf das Auftauchen eines Kindes um eine halbe Sekunde zu spät reagiert; in ZVR 1974/190 hat der Lenker auf das erkennbar verkehrswidrige Verhalten eines LKW.-Fahrers verspätet und unzureichend reagiert und in ZVR 1975/13 war ein Kind hinter einem in der Haltestelle haltenden Autobus hervorgekommen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes bestand diesfalls für den Erstbeklagten bei Annäherung an die spätere Unfallsstelle jedoch kein Grund zur Annahme, daß jemand plötzlich in seine Fahrbahn laufen werde. Der Umstand, daß rechts neben der Straße Fahrzeuge vor einem Gasthaus parkten, bildete keinen Anlaß, etwa langsam und bremsbereit zu fahren, Warnzeichen zu geben oder dergleichen. Der Erstbeklagte wurde daher vom Auftauchen des Kindes überrascht; er konnte in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit bis zum Anprall von lediglich einer halben Sekunde keine wirksame Abwehrmaßnahme setzen. Der Unfall ist daher für ihn ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs. 2 EKHG., das auf das Verhalten eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten zurückzuführen ist, wobei der Erstbeklagte jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hat. Es bedarf daher keiner Feststellungen über die Höhe der Ansprüche des Klägers, da die Sache im Sinne der Bestätigung des Ersturteiles spruchreif ist.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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