OGH 1Ob23/75

OGH1Ob23/7519.2.1975

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Petretto als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurzinger, Dr. Schragel, Dr. Petrasch und Dr. Schubert als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) W*, Angestellter, 2.) E*, Hausfrau, beide *, vertreten durch Dr. Josef Raberger, Rechtsanwalt in Stockerau, wider die beklagte Partei J*, Arbeiter, *, vertreten durch Dr. Manfred Melzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 28.250,-- samt Anhang, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgericht vom 13. Dezember 1974, GZ 6 b R 196, 197/74-17, womit aus Anlaß des Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Korneuburg vom 4. November 1974, GZ 3 Cg 3/74-14, das erstgerichtliche Verfahren, soweit es nicht die Verfahrenshilfe zum Gegenstand hat, als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1975:0010OB00023.75.0219.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluß, dem, soweit er dem Rekurs der klagenden Partei gegen die Abweisung des Antrages auf Bewilligung der Verfahrenshilfe durch das Erstgericht nicht Folge gibt, als unangefochten unberührt bleibt, im Übrigen, soweit er also aus Anlass des Rekurses das erstgerichtliche Verfahren als nichtig aufhebt und die Klage wegen sachlicher Unzuständigkeit zurückweist sowie die Kosten des Verfahrens gegenseitig aufhebt, aufgehoben.

Die Kosten des Rekurses der beklagten Partei sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Der Beklagte ist Eigentümer der Liegenschaft, auf der das Haus *, errichtet ist. Die Kläger behaupten, mit dem Beklagten habe ein Mietvertrag bestanden, der am 1. 11. 1973 aufgelöst worden sei; bei Abschluß des Mietvertrages hätten sie mit dem Beklagten vereinbart, daß sie die notwendigen Investitionen in der im ersten Stock gelegenen Wohnung des Hauses vornehmen würden. Sie hätten S 56.500,— aufgewendet. Hiedurch habe das Bestandobjekt des Beklagten eine Werterhöhung um S 28.250,— erfahren, die sie vom Beklagten bezahlt begehren. Die sachliche Unzuständigkeit des angerufenen Kreisgerichtes Korneuburg wendete der Beklagte nicht ein. Bei der Tagsatzung am 9. 5. 1974 faßte das Erstgericht unter anderem den Beweisbeschluß auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über die eingetretene Werterhöhung der Wohnung des Beklagten; es trug den Kläger den Erlag eines Kostenvorschusses von S 5.000,— binnen drei Wochen auf. Nach Verlängerung der Frist um weitere drei Wochen beantragten die Kläger ab 14. 6. 1974 unter Vorlage eines Vermögensbekenntnisses des Erstklägers die Bewilligung der Verfahrenshilfe im vollen Umfang.

Das Erstgericht wies den Antrag der Kläger ab und trug ihnen auf, binnen 14 Tagen ab Rechtskraft des Beschlusses den Kostenvorschuß von S 5.000,— zur Durchführung des beantragten Sachverständigenbeweises zu erlegen, widrigenfalls von diesem Beweismittel Abstand genommen werde.

Dem Rekurs der Kläger gab das Rekursgericht, soweit er sich gegen den die Verfahrenshilfe betreffenden Teil des erstgerichtlichen Beschlusses richtet, nicht Folge, hob jedoch aus Anlaß des Rekurses das erstgerichtliche Verfahren, soweit es nicht die Verfahrenshilfe zum Gegenstand hat, als nichtig auf und wies die Klage unter gegenseitiger Aufhebung der Verfahrenskosten wegen sachlicher Unzuständigkeit zurück. Aus den Behauptungen in der Klage und dem sonstigen Vorbringen beider Parteien gehe eindeutig hervor, daß es sich um einen Streit aus einem Bestandvertrag im Sinne des § 49 Abs 2 Z 5 JN handle. Die Kläger forderten den Ersatz des notwendigen Aufwandes im Sinne des § 1097 ABGB Klagen auf Ersatz der vom Bestandnehmer getätigten nützlichen oder notwendigen Aufwendungen seien Streitigkeiten aus einem Bestandvertrag. Hiefür sei die Eigenzuständigkeit des Bezirksgerichtes gegeben und eine Vereinbarung der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach § 104 Abs 2 JN ausgeschlossen. Deshalb liege eine unverzichtbare (absolute, unheilbare) Unzuständigkeit vor, die die Nichtigkeit des Verfahrens gemäß § 477 Abs 1 Z 3 ZPO zur Folge habe; diese sei in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen.

Gegen den Beschluß des Rekursgerichtes, soweit er das erstgerichtliche Verfahren als nichtig aufhebt und die Klage wegen sachlicher Unzuständigkeit zurückweist, richtet sich der Rekurs des Beklagten, der bestreitet, das Bestehen eines Mietverhältnisses zugestanden zu haben; das Gericht habe sich bei einer heilbaren Unzuständigkeit jedoch nicht auf die Angaben der Etage zu verlassen, sondern müsse die materielle Wahrheit erforschen. Der Beklagte stellt den Antrag, den angefochtenen Teil der Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien dahin abzuändern, daß die Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes anerkannt werde, allenfalls solle die Entscheidung im angefochtenen Teil aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens an die Untergerichte zurückverwiesen werden.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist im Ergebnis berechtigt.

Aufgabe und Ziel jedes Rechtsmittels kann es nur sein, eine Überprüfung der angefochtenen Entscheidung zu erreichen. Erging die Entscheidung in der Sache selbst, ist es allerdings auch Sache des Berufungsgerichtes, in einem Vorverfahren zunächst zu prüfen, ob die prozessualen Voraussetzungen für die Prüfung der erstrichterlichen Entscheidung in der Sache selbst gegeben sind. Das ist insbesondere nicht der Fall, wenn das angefochtene Urteil oder das der Urteilsfällung vorangegangene Verfahren an einer im Gesetz genannten Nichtigkeit leidet; dies ist von Amts wegen zu prüfen (§ 471 Z 7 ZPO). Als nichtig ist das angefochtene Urteil und, soweit der Grund der Nichtigkeit das vorangegangene Verfahren ergreift, auch dieses unter anderem aufzuheben, wenn das Urteil von einem Gericht gefällt wurde, das auch nicht durch ausdrückliche Vereinbarung der Parteien für diese Rechtssache zuständig gemacht werden konnte (§ 477 Abs 1 Z 3 ZPO). Für welche Fälle dies zutrifft, ergibt sich an sich aus § 104 Abs 2 JN, nach welcher Bestimmung auch Rechtssachen, welche vor ein Bezirksgericht gehören, also auch Streitigkeiten aus Bestandverträgen (§ 49 Abs 1 Z 5 JN), durch Vereinbarung nicht vor einen Gerichtshof erster Instanz gebracht werden können. Tatsächlich ist allerdings die Wahrnehmung eines Verstoßes gegen § 49 JN durch das Berufungsgericht im genannten Vorprüfungsverfahren nicht möglich, da gemäß § 45 Abs 1 JN Entscheidungen eines Gerichtshofes erster Instanz über seine sachliche Zuständigkeit nicht deshalb angefochten werden können, weil für die Rechtssache die Zuständigkeit eines Bezirksgerichtes begründet ist, und nach nunmehr ständiger Rechtsprechung die sachliche Unzuständigkeit eines Gerichtshofes aus dem Grund, daß für die Sache das Bezirksgericht zuständig wäre, im Rechtsmittelverfahren auch dann nicht wahrgenommen werden kann, wenn der Gerichtshof keine ausdrückliche Zuständigkeitsentscheidung fällte, sondern ohne ausdrückliche Entscheidung über seine Zuständigkeit in der Sache selbst entschied (MietSlg 23.620, 21.776, 20.664; RZ 1968, 138 uva), und die Bestimmung des § 45 JN, auch eine Prüfung der Zuständigkeit von Amts wegen ausschließt (MietSlg 20.664; EvBl 1961/143; SZ 27/158 ua). Die Anfechtungsbeschränkung des § 45 JN soll nämlich den Verlust bereits geschehenen Prozeßaufwandes vermeiden (RZ 1968, 138); ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß ein berücksichtigungswürdiges Parteiinteresse nicht verletzt werden kann, wenn in einer Sache statt des Bezirksgerichtes der Gerichtshof erster Instanz entscheidet (EvBl 1965/111 ua).

Eine ausdrückliche Bestimmung, daß auch im Rekursverfahren Nichtigkeitsgründe von Amts wegen wahrzunehmen seien, enthält die Zivilprozeßordnung nicht; die Notwendigkeit einer solchen Wahrnehmung, die sich auch aus § 514 Abs 2 ZPO ableiten läßt, wurde jedoch nie bezweifelt; gefordert wird nur das Vorliegen eines zulässigen Rechtsmittels SZ 30/48 ua). Die Wahrnehmung einer die Hauptsache betreffenden Nichtigkeit ist allerdings, wie der Oberste Gerichtshof verdeutlichte, nur aus Anlaß eines zulässigen, in der Sache selbst ergriffenen Rechtsmittels möglich (SZ 38/27; vgl auch JB1 1959, 213). Es ist also unstatthaft, eine dem Hauptverfahren anhaftende Nichtigkeit, die auf die Erledigung der angefochtenen Entscheidung ohne Einfluß ist, im Rekursverfahren wahrzunehmen. Fasching IV 434 vertritt allerdings die Auffassung, es sei möglich, einem sachlich unbegründeten Rekurs keine Folge zu geben, gleichzeitig aber aus Anlaß des Rekurses das vom Nichtigkeitsgrund betroffene Verfahren von Amts wegen – soweit nicht die Frage der Nichtigkeit bereits abschließend rechtskräftig entschieden wurde – aufzuheben. Er meint (IV 437), das Rekursgericht könne aus Anlaß eines Rekurses in einem Inzidenzstreit auch Nichtigkeiten des Hauptverfahrens wahrnehmen sowie das hievon betroffene Verfahren und gegebenenfalls sogar die Klage zurückweisen; Voraussetzung sei nur, daß das Rechtsmittel zulässig und nicht verspätet sei. Mit seiner Lehre scheint Fasching, der seine Meinung weder näher begründet noch sich auf andere Literatur oder Rechtsprechung beruft, jedoch allein dazustehen. Neumann 1398 f sagt ausdrücklich, ein Beschluß könne nur so weit abgeändert oder aufgehoben werden, als er angefochten ist; es ist nur aus Anlaß des Rekurses die Nichtigkeit des (angefochtenen) Beschlusses wahrzunehmen. Sperl, Lehrbuch 680, ist der Auffassung, der Inhalt der Rekursentscheidung sei durch die Ausdehnung der Anfechtung, durch den Rekursantrag und die Rekursgründe gegeben und abgegrenzt; alle Nichtigkeiten, die das Gericht findet, mögen sie geltend gemacht sein oder nicht, hat das Rekursgericht zu beachten und den Beschluß deshalb aufzuheben. Auch Pollak² 614 will Entscheidungen nur im Rahmen der Rekursanträge und damit jedenfalls nur im Rahmen der Überprüfung des angefochtenen Beschlusses zulassen. Petschek-Stagel, Zivilprozeß 401, erblicken die Entscheidung des Rekursgerichtes nur entweder in der Bestätigung des Beschlusses oder in dessen Aufhebung infolge der geltend gemachten Verfahrensmängel oder der geltend gemachten oder von Amts wegen berücksichtigten Nichtigkeitsgründe oder endlich in der Abänderung des Beschlusses zufolge der geltend gemachten materiellen Rekursgründe. Daß also der Rekurs, weil nicht von einem Nichtigkeitsgrund erfaßt, zwar negativ beschieden, aber eine außerhalb des Gegenstandes des Rekursverfahrens wahrgenommene Nichtigkeit des Hauptverfahrens beachtet werden könnte, wird nicht angenommen. Es würde auch dem Grundsatz widersprechen, daß eine Überprüfung einer unterinstanzlichen Entscheidung nur im Rahmen der Anfechtung stattzufinden hat; es kann dann aber auch eine Nichtigkeit nur wahrgenommen werden, wenn sie die angefochtene Entscheidung erfaßt, was das Rekursgericht jedoch im vorliegenden Fall, indem es dem Rekurs gegen den erstgerichtlichen Beschluß einen Erfolg versagte, verneinte. Das Rekursgericht wollte allerdings möglicherweise zwischen der Entscheidung über die Verweigerung der Bewilligung der Verfahrenshilfe und der Auferlegung des Kostenvorschusses trennen. Dieser betraf den Fortgang des Verfahrens selbst, der nach der Entscheidung des Rekursgerichtes nicht mehr stattzufinden hatte. Daraus, daß der zweite Teil des erstgerichtlichen Beschlusses das Verfahren in der Sache selbst betraf, kann jedoch keineswegs geschlossen werden, daß das Rekursgericht aus diesem Grunde berechtigt und verpflichtet gewesen wäre, die angenommene Nichtigkeit des Verfahrens erster Instanz wahrzunehmen. In dem den Fortgang des Verfahrens betreffenden Teil allein war nämlich der erstgerichtliche Beschluß nicht anfechtbar, da nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ein Beschluß, mit welchem der Erlag eines Kostenvorschusses zur Deckung der Kosten eines Sachverständigenbeweises aufgetragen wird, als eine nur der Durchführung des Beweisbeschlusses dienende Verfügung keiner Anfechtung unterliegt (NZ 1970, 70 unter ausdrücklicher Ablehnung der gegenteiligen Meinungen von Fasching III 499 und Stagel in Anm 2 zu § 365 ZPO in der GMA12 der ZPO nunmehr Michlmayer-Stohanzl in Anm 3 zu § 365 ZPO in der GMA13 der ZPO; EvBl 1957/191 uva., zuletzt 1 Ob 166/73); es wäre hier also ein unzulässiges Rechtsmittel vorgelegen. Aus dem Inhalt des Rekurses an das Zweitgericht und seinem Antrag muß aber ohnehin geschlossen werden, daß die Kläger die Auferlegung des Kostenvorschusses an sich nicht anfechten, sondern seine Auferlegung nur als Folge der Bewilligung der Verfahrenshilfe überflüssig machen wollten.

Das Rekursgericht hatte sich unter diesen Umständen auf die Erledigung des Rekurses zu beschränken, war aber nicht berechtigt, von Amts wegen auf Umstände, die nicht den Inzidenzstreit erfaßten, Bedacht zu nehmen und ohne Vorliegen eines zulässigen Rechtsmittels in diesem Bereich eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung darüber, ob § 49 Abs 1 Z 5 JN gilt, obliegt vielmehr dem Erstrichter, der unter Umständen durchaus bewußt (vgl EvBl 1940/628) seine sachliche Zuständigkeit bejaht haben könnte.

Der Beklagte wollte mit seinem Rekurs erreichen, daß das bereits teilweise durchgeführte Verfahren unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund fortgesetzt werde. Sein Rekurs erweist sich in der von ihm an-gestrebten Richtung, wenn auch aus anderen rechtlichen Gründen, als berechtigt. Der Beklagte war auch durch die formelle Erledigung des Verfahrens beschwert, da auch der Beklagte Anspruch darauf hat, daß über eine gegen ihn gerichtlich erhobene Forderung möglichst rasch sachlich erkannt werde (vgl JBl 1951, 574; Fasching IV 371). Es ist unter diesen Umständen ohne Bedeutung, daß an sich die Berufung des Beklagten auf sein eigenes Vorbringen in erster Instanz unberechtigt war; gemäß § 41 Abs 2 JN erfolgt die Prüfung der Zuständigkeit des Gerichtes in bürgerlichen Streitsachen nämlich auf Grund der Angaben des Klägers, wenn deren Unrichtigkeit nicht gerichtsbekannt ist. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die Prüfung der Zuständigkeit nach Anhängigwerden einer Rechtssache vor Gericht, sondern auch für jede spätere Prüfung dieser Frage im Verfahren.

Es ist demnach wie im Spruch zu erkennen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 52 ZPO.

 

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