Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Heranziehung falschen Streitwerts durch unterinstanzliche Gerichte kann keinen Zugang zu Revision begründen.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Am 14.8.2002 brachte der Ehemann (M. Z.) der Bf., vertreten durch einen Anwalt, eine Zivilklage beim Stadtgericht Dubrovnik ein, mit der er die Nichtigerklärung eines Tauschvertrages begehrte. In der Klage bezeichnete er den Wert des Streitgegenstands mit HRK 10.000,– (umgerechnet circa € 1.300,–).
Nach mehreren Verhandlungen und nachdem M. Z. seinen Anwalt gewechselt hatte, erklärte Letzterer in einer Verhandlung vom 6.4.2005, dass der Wert des Streitgegenstands zu niedrig angesetzt worden sei und sich vielmehr auf HRK 105.000,– (umgerechnet circa € 14.160,–) belaufe. Das Gericht traf jedoch keine Entscheidung über die Änderung des Werts des Streitgegenstands. Mit Urteil vom 27.9.2005 wies es die Klage letztlich ab. Es berechnete die von M. Z. im Zusammenhang mit diesem Verfahren zu bezahlenden Gerichtsgebühren und Prozesskosten allerdings auf Basis eines Streitwerts von HRK 105.000,–.
Am 1.10.2009 wies das Landgericht Dubrovnik die von M. Z. erhobene Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ab. Es hielt dabei insbesondere fest, dass die Entscheidung über die Verfahrenskosten auf das einschlägige Recht gestützt und angemessen begründet worden sei.
M. Z. wandte sich daraufhin am 24.5.2010 mit einer Revision an das Oberste Gericht. Nachdem er am 7.10.2010 gestorben war, übernahm seine Frau das Verfahren. Mit Entscheidung vom 30.3.2011 erklärte das Oberste Gericht die Revision für unzulässig ratione valoris, weil der Wert des Streitgegenstands unterhalb der für derartige Berufungen gesetzlich vorgesehenen Schwelle von HRK 100.000,– (umgerechnet circa € 13.500,–) liegen würde. Es verwies dabei auf § 40 Abs. 3 iVm. Abs. 2 ZPO. Danach war dann, wenn die Klage keinen Geldbetrag betraf, der in der Klage bezeichnete Streitwert heranzuziehen. Dieser konnte vom Gericht von Amts wegen oder nach einem Einspruch durch den Beklagten spätestens bei der vorbereitenden Verhandlung (falls eine solche nicht stattfand bei der ersten Sitzung der Hauptverhandlung), bevor der Beklagte sich auf den Streit einließ, geändert werden, wenn klar war, dass der Wert zu hoch oder zu niedrig war, so dass unter anderem eine Frage betreffend das Recht auf die Erhebung einer Revision oder die Verfahrenskosten auftrat. Das Oberste Gericht verwies darauf, dass der Kläger selbst den Streitwert nach der Klageerhebung nicht mehr ändern könne, es sei denn, er würde die Klage ändern, was die Bf. im vorliegenden Fall aber nicht getan hätte. Im vorliegenden Fall hätte das erstinstanzliche Gericht auch keine Entscheidung zur Änderung des Streitwertes getroffen, da die Vorgaben aus § 40 Abs. 3 ZPO nicht eingehalten worden wären.
Das Verfassungsgericht erklärte am 10.11.2011 eine Verfassungsbeschwerde der Bf. in dieser Angelegenheit für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da sie des Zugangs zum Obersten Gericht beraubt worden sei.
Zur Einrede der Regierung
(52) Die Regierung lud den GH in ihrer schriftlichen Stellungnahme ein, die Beschwerde für unzulässig zu erklären, ohne dies näher auszuführen.
(55) Der GH sieht keinen Bedarf zu prüfen, ob die Regierung unter Art. 55 VerfO daran gehindert ist, diese Einrede zu erheben, da er jedenfalls der Ansicht ist, dass sie unbegründet und daher zurückzuweisen ist (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Vorbemerkungen
(73) Der GH erachtet es für wichtig festzuhalten, dass der vorliegende Fall nicht die Frage betrifft, ob es dem innerstaatlichen System nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gestattet ist, den Zugang zum Obersten Gericht Einschränkungen zu unterwerfen. Er betrifft auch nicht den Umfang der zu diesem Zweck vorgesehenen möglichen Vorkehrungen. Tatsächlich steht zwischen den Parteien außer Streit, dass die Beschränkungen des Zugangs zum Obersten Gericht ratione valoris allgemein erlaubt und im Sinne dieser Bestimmung legitim sind. Zudem gibt es im vorliegenden Fall angesichts des Umstands, dass in Europa unmöglich ein einheitliches Modell für die Funktion der Höchstgerichte erwartet werden kann, sowie angesichts der Rechtsprechung des GH in dieser Angelegenheit im vorliegenden Fall keinen Grund, die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit solcher Beschränkungen oder den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Behörden zur Regelung ihrer Ausgestaltung in Frage zu stellen.
(74) Der gegenständliche Fall betrifft vielmehr die Art und Weise, auf welche die bestehenden Beschränkungen ratione valoris im Fall der Bf. wirkten. Insbesondere geht es um die Frage, ob das Oberste Gericht unter den besonderen Umständen des Falles – indem es die Revision der Bf. für unzulässig erklärte – übermäßigen Formalismus walten ließ und ihre grundsätzlich durch das innerstaatliche Recht garantierte Möglichkeit zur Erlangung einer endgültigen Entscheidung ihres Eigentumsstreits durch dieses Gericht unverhältnismäßig beeinträchtigte. Allgemeiner gesagt wird vom GH verlangt, die Art und Weise zu erklären, auf welche die Vornahme von Maßnahmen beurteilt werden muss, die den Zugang zu höheren Gerichten beschränken.
Allgemeine Grundsätze betreffend den Zugang zu höheren Gerichten und diesbezügliche ratione valoris-Einschränkungen
(82) [...] Die Art und Weise, auf die Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Berufungs- oder Kassationsgerichte Anwendung findet, hängt von den speziellen Eigenschaften des betreffenden Verfahrens ab. Es muss das gesamte Verfahren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung berücksichtigt werden sowie die Rolle des Kassationsgerichts in diesem. Die Bedingungen für die Zulässigkeit einer Revision können strenger sein als für eine ordentliche Berufung.
(83) Der GH hat ferner anerkannt, dass die Anwendung einer gesetzlichen ratione valoris-Schwelle für Berufungen an Höchstgerichte unter Berücksichtigung des Wesens der Funktion des Höchstgerichts, nur Angelegenheiten mit der nötigen Bedeutung zu behandeln, ein legitimes und verhältnismäßiges verfahrensrechtliches Erfordernis ist.
(84) Wenn er mit Fragen konfrontiert ist, ob Verfahren vor Berufungs- oder Kassationsgerichten die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllten, hat der GH zudem das Ausmaß berücksichtigt, zu dem der Fall vor den unterinstanzlichen Gerichten geprüft wurde, das (Nicht-)Vorliegen von Fragen betreffend die Fairness des Verfahrens vor den unterinstanzlichen Gerichten und die Natur der Funktion des konkreten Gerichts [...].
(85) Im Hinblick auf die Anwendung von gesetzlichen ratione valoris-Beschränkungen des Zugangs zu höheren Gerichten hat der GH in unterschiedlichem Maß bestimmte weitere Faktoren berücksichtigt, nämlich (i) die Vorhersehbarkeit der Beschränkung; (ii) ob der Bf. oder der belangte Staat die nachteiligen Folgen zu tragen hat, die während des Verfahrens erfolgten, das dazu führte, dass dem Bf. der Zugang zu dem Höchstgericht verwehrt wurde; und (iii) ob die fraglichen Beschränkungen übermäßig formalistisch waren. [...]
(86) [...] Der GH möchte als allgemeine Beobachtung wiederholen, dass es zunächst beim nationalen Höchstgericht liegt, wenn es das nationale Recht so verlangt, zu beurteilen, ob eine gesetzliche ratione valoris-Schwelle für eine Berufung erreicht wurde. Daher kann das Höchstgericht in einer Situation, wo das einschlägige innerstaatliche Recht ihm gestattete, an es herangetragene Fälle herauszufiltern, nicht durch Fehler gebunden sein, die von den unterinstanzlichen Gerichten im Hinblick auf die Beurteilung dieser Schwelle gemacht wurden [...].
(90) [...] [Betreffend die Frage, wer die nachteiligen Folgen für während eines Verfahrens gemachte Fehler zu tragen hat] neigt der GH dann, wenn der fragliche [...] Fehler lediglich auf einer Seite (jener des Bf. oder der zuständigen Behörden [...]) passierte, [...] gewöhnlich dazu, die Last demjenigen aufzuerlegen, der den Fehler verursacht hat.
(91) Problematischer sind jedoch Situationen, wo verfahrensrechtliche Fehler sowohl auf Seiten des Bf. als auch auf Seiten der zuständigen Behörden [...] passieren. In solchen Fällen existiert keine eindeutige Regel in der Rechtsprechung des GH betreffend die Frage, wem die Last aufzuerlegen ist. Die Lösung hängt dann von allen Umständen des Falles ab.
(92 Aus der Rechtsprechung des GH sind jedoch einige Leitlinien erkennbar. [...]
(93) Zunächst muss festgestellt werden, ob der Bf. während des Verfahrens vertreten war und ob er und sein rechtlicher Vertreter bei der Verfolgung der betreffenden Verfahrenshandlungen die nötige Sorgfalt an den Tag legten. [...] Der GH hat auch der Frage Bedeutung zugemessen, ob für den Bf. eine rechtliche Vertretung verfügbar war.
(94) Zum Zweiten berücksichtigt der GH, ob die Fehler von vorneherein vermieden werden hätten können.
(95) Drittens beurteilt der GH, ob die Fehler hauptsächlich oder objektiv betrachtet dem Bf. oder den zuständigen Behörden [...] zuzurechnen sind. Insbesondere wäre eine Beschränkung des Zugangs zu einem Gericht unverhältnismäßig, wenn die Unzulässigkeit eines Rechtsmittels das Ergebnis der Zurechnung eines Fehlers zum Bf. ist, für den er objektiv nicht verantwortlich ist.
(97) Es ist in der Rechtsprechung des GH [...] gut verankert, dass »übermäßiger Formalismus« dem Erfordernis zuwiderlaufen kann, ein praktisches und wirksames Recht auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK [...] zu gewährleisten. Das kommt für gewöhnlich in Fällen der besonders strengen Konstruktion einer Verfahrensregel vor, mit der verhindert wird, dass die Klage des Bf. in der Sache geprüft wird [...].
(98) Die Beurteilung einer Rüge wegen übermäßigem Formalismus in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte wird für gewöhnlich das Ergebnis einer Prüfung des Falles als Ganzem sein, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände. Dabei hat der GH oft die »Rechtssicherheit« und »ordentliche Rechtspflege« als zwei zentrale Elemente zur Abgrenzung von exzessivem Formalismus und akzeptabler Anwendung von verfahrensrechtlichen Formalitäten betont. Insbesondere hat er festgehalten, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt ist, wenn die Regeln nicht mehr den Zielen der Rechtssicherheit und ordentlichen Rechtspflege dienen und eine Form von Barriere darstellen, die die prozessführende Partei daran hindert, ihren Fall durch das zuständige Gericht in der Sache entschieden zu bekommen.
Anwendung der obigen Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(100) Zunächst bemerkt der GH, dass die Bf. nach dem Tod ihres Mannes, der eine Revision an das Oberste Gericht erhoben hatte, in das gegenständliche Zivilverfahren eintrat. [...] In Erwägung, dass die verfahrensrechtlichen Entscheidungen ihres verstorbenen Mannes, die vor ihrem Verfahrenseintritt erfolgten, der Bf. zugerechnet werden müssen, werden die von Ersterem gesetzten Handlungen als die ihrigen gesehen. Der GH wird den Begriff »Bf.« daher im Hinblick auf die Gesamtheit des innerstaatlichen Verfahrens verwenden.
Die Beschränkung des Zugangs der Bf. zum Obersten Gericht
(101) In der kroatischen Rechtsordnung wird der Zugang zum Obersten Gericht in Zivilsachen durch eine Revision sichergestellt [...], die [...] »ordentlich« oder »außerordentlich« sein kann. Auf die ordentliche Revision, die im vorliegenden Fall in Frage steht, bezieht sich § 382 Abs. 1 Z. 1 ZPO. Sie betrifft Streitigkeiten, wo der Wert des angefochtenen Teils des Urteils eine bestimmte Schwelle übersteigt (damals HRK 100.000,–). Wird diese Schwelle erreicht, stellt der Zugang zum Obersten Gericht ein individuelles Recht dar. Die außerordentliche Revision betrifft diejenigen Fälle, in denen eine ordentliche Revision nicht gestattet ist. Sie wird durch § 382 Abs. 1 Z. 2 ZPO geregelt und betrifft Fälle, wo »der Streit von der Lösung einer inhaltlichen oder verfahrensrechtlichen Frage abhängt, die für die Gewährung einer einheitlichen Anwendung des Rechts und der Gleichheit der Bürger wichtig ist«. Im Rahmen jeder der beiden Revisionsformen kann das Oberste Gericht die Urteile der unterinstanzlichen Gerichte aufheben und den Fall zurückverweisen oder in manchen Fällen das angefochtene Urteil kippen. Jedenfalls ist das Oberste Gericht ermächtigt, jede Revision für unzulässig zu erklären, die den gesetzlichen Erfordernissen nicht genügt [...].
(102) Im vorliegenden Fall erhob die Bf. eine ordentliche Revision, weil sie der Ansicht war, dass der Wert ihrer Klage die einschlägige ratione valoris-Schwelle von HRK 100.000,– erreichte. Das Oberste Gericht erklärte die Revision jedoch für unzulässig ratione valoris. [...] Diese Entscheidung stand im Einklang mit dessen diesbezüglicher allgemeinen Praxis.
(103) [...] Der GH betont, dass die Natur der gegenständlichen Beschränkung [...] für sich nicht das Ergebnis unflexibler verfahrensrechtlicher Regeln zu sein scheint. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die Praxis sahen eine Möglichkeit vor, den Streitwert nach § 40 Abs. 3 ZPO zu ändern. Das hätte bei einem Wandel der Umstände des Falles den Zugang zum Obersten Gericht sicherstellen können. Zudem hatte die Bf. auch bei fehlender Möglichkeit, eine »ordentliche« Revision nach § 382 Abs. 1 Z. 1 ZPO zu erheben, jede Möglichkeit, die »außerordentliche« Revision nach § 382 Abs. 1 Z. 2 dieses Gesetzes einzulegen, wodurch ihr Zugang zum Obersten Gericht gewährleistet werden hätte können. Wie von der Regierung angedeutet, verabsäumte es die Bf. jedoch, davon Gebrauch zu machen.
Zum Vorliegen eines legitimen Ziels
(105) Der GH beobachtet, dass die strittige Beschränkung des Zugangs zum Obersten Gericht unter das allgemein anerkannte legitime Ziel der gesetzlichen ratione valoris-Schwelle für Berufungen an dieses Gericht fällt sicherzustellen, dass sich Letzteres in Anbetracht des Wesenskerns seiner Rolle nur mit Angelegenheiten befasst, welche die erforderliche Bedeutung haben [...].
(106) Zudem ist die zentrale Funktion des Obersten Gerichts als höchstem Gericht in Kroatien nach Art. 119 der Verfassung, die einheitliche Anwendung des Rechts und die Gleichheit bei seiner Anwendung zu gewährleisten. Angesichts dieser Funktion sieht der GH keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts [...] ein legitimes Ziel verfolgte, nämlich die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und geordneten Rechtspflege. [...]
Zur Verhältnismäßigkeit der Beschränkung
(107) Wie er bereits in Rn. 73 oben angedeutet hat, sieht der GH keinen Grund dafür, die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit von Beschränkungen des Zugangs zum Obersten Gericht ratione valoris oder den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Behörden bei der Regulierung ihrer Ausgestaltung in Zweifel zu ziehen. Vor der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit erachtet es der GH dennoch für wichtig, die Reichweite dieses Spielraums im Hinblick auf die Art und Weise der Anwendung der Regeln betreffend die ratione valoris-Schwelle auf den vorliegenden Fall zu definieren. Bei dieser Beurteilung wird der GH abstellen: auf das Ausmaß, zu dem der Fall vor den unterinstanzlichen Gerichten geprüft wurde; das (Nicht-)Vorliegen von Fragen im Zusammenhang mit der Fairness des vor den unterinstanzlichen Gerichten durchgeführten Verfahrens; und die Natur der Rolle des Obersten Gerichts (siehe Rn. 84 oben).
(108) Im Hinblick auf das erste oben erwähnte Kriterium bemerkt der GH, dass der Fall der Bf. von zwei nationalen gerichtlichen Instanzen (Stadtgericht und Landgericht) verhandelt wurde, die volle Jurisdiktionsbefugnis in der Angelegenheit hatten. Zum zweiten [...] Kriterium beobachtet der GH, dass angesichts der für unzulässig erklärten Beschwerden [...] keine Frage einer mangelnden Fairness erkennbar ist. Was das dritte [...] Kriterium betrifft, bemerkt der GH, dass die Rolle des Obersten Gerichts darauf beschränkt war, die Anwendung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts durch die unterinstanzlichen Gerichte zu prüfen. Dies erlaubte es, dass die Zulässigkeitsbedingungen einer Revision strenger waren als jene für einen ordentlichen Rechtsbehelf. Der GH befindet, dass die Behörden des belangten Staates unter solchen Umständen einen weiten Ermessensspielraum im Hinblick auf die Art und Weise der Anwendung der einschlägigen ratione valoris-Beschränkungen genießen.
(109) Das bedeutet jedoch nicht, dass die innerstaatlichen Behörden diesbezüglich ein unbeschränktes Ermessen genossen. Bei der Prüfung, ob dieses Ermessen überschritten wurde, muss der GH besonders auf die drei in Rn. 85 oben genannten Kriterien achten, nämlich: (i) die Vorhersehbarkeit des für eine Revision zu verfolgenden Verfahrens; (ii) die Frage, wer die nachteiligen Folgen der während des Verfahrens erfolgten Fehler zu tragen hat; und (iii) die Frage, ob der Zugang der Bf. zum Obersten Gericht durch exzessiven Formalismus beschränkt wurde.
Vorhersehbarkeit der Beschränkung
(110) Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit des bei einer Revision verfolgten Verfahrens muss festgehalten werden, dass die Rechtsprechung des Obersten Gerichtes insoweit einheitlich und klar ist, als dass eine nachfolgende Änderung des Wertes des Streitgegenstands entgegen § 40 Abs. 3 ZPO wie im vorliegenden Fall nicht zur Zulässigkeit der Revision führen kann. Das trifft unabhängig davon zu, ob der Fehler in den gesetzten verfahrensrechtlichen Schritten den unterinstanzlichen Gerichten oder einer Verfahrenspartei zuzurechnen ist [...].
(111) Zudem muss gemäß § 40 Abs. 3 ZPO bei Änderung des Wertes des Streitgegenstands eine gesonderte Entscheidung über den Wert des Streitgegenstands getroffen werden [...]. Im vorliegenden Fall war die Bf. sowohl zur Zeit, als eine solche Entscheidung beantragt werden hätte können (z.B. bei der Verhandlung am 1.2.2005), als auch zum Zeitpunkt, als sie – auf eine nicht mit § 40 Abs. 3 ZPO vereinbare Weise – tatsächlich beantragte, den Wert des Streitgegenstandes zu ändern, von einem zugelassenen Anwalt aus Kroatien vertreten, der die Anforderungen aus der zitierten Bestimmung der ZPO und die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichts kennen konnte und musste. Unabhängig von dem Umstand, dass die unterinstanzlichen Gerichte den Anschein erweckt haben mögen, den höheren Wert akzeptiert zu haben [...], waren die Bf. und ihr Anwalt eindeutig in der Lage, auf der Basis der einschlägigen innerstaatlichen Bestimmungen und der Rechtsprechung festzustellen, dass die folgende Änderung des Wertes ohne eine spezielle diesbezügliche Entscheidung durch das erstinstanzliche Gericht für den Zugang zum Obersten Gericht nicht berücksichtigt werden konnte.
(113) Die vorangehenden Überlegungen reichen dem GH aus, um zum Schluss zu kommen, dass das für eine Revision zu verfolgende Verfahren auf eine einheitliche und vorhersehbare Weise geregelt war.
Wer trägt die nachteiligen Folgen für die während des Verfahrens gemachten Fehler?
(114) Was das zweite Kriterium angeht, muss festgehalten werden, dass sowohl die Bf. als auch die erst- und zweitinstanzlichen Gerichte Verfahrensfehler im Hinblick auf die Bestimmung des Wertes des Streitgegenstands begingen. Dennoch sind diese Fehler hauptsächlich und objektiv betrachtet der Bf. zuzurechnen.
(115) Insbesondere trifft es zwar zu, dass die Bf. bei Erhebung der Zivilklage nicht von einem in Kroatien praktizierenden Anwalt vertreten wurde, sondern von einem aus Montenegro [...]. Es stand ihr jedoch völlig offen, einen Anwalt in Kroatien damit zu beauftragen. Tatsächlich betraute sie in einem späteren Verfahrensstadium I. B. damit, ihren Fall vor den Gerichten zu vertreten [...]. Daher war der Umstand, dass der erste Vertreter der Bf. in der Zivilklage einen angeblich unangemessenen Wert des Streitgegenstands angab, eine Sache, die ausschließlich der individuellen Entscheidung der Bf. über ihre rechtliche Vertretung zuzurechnen ist.
(116) Es muss ferner festgehalten werden, dass die Bf. gemäß der innerstaatlichen Rechtsprechung ein Recht hatte, einen Wert des Streitgegenstands anzugeben, der betragsmäßig nicht unbedingt dem Marktwert der strittigen Grundstücke entsprechen musste. Tatsächlich deckte sich die Angabe des Streitwerts bei der Verhandlung vom 6.4.2005 nicht mit dem Wert der Grundstücke, wie er in der Klage angegeben worden war [...]. Dem Argument der Bf., dass ein unverhältnismäßiger Unterschied zwischen dem angegebenen Wert und dem wahren Wert gegeben war, kann damit kein Gewicht beigemessen werden.
(117) Zudem steht zwischen den Parteien außer Streit, dass bis zum Zeitpunkt, als die Beklagten sich auf den Prozess einließen (am 1.2.2005), der ursprünglich angegebene Wert geändert hätte werden können. Obwohl sie bei der Verhandlung an diesem Datum von einem kroatischen Anwalt vertreten war, legte die Bf. nicht dar, dass sie den Wert des Streitgegenstands ändern wollte. Sie tat dies erst in einem späteren Verfahrensstadium, als die Beklagten sich bereits in den Prozess eingelassen hatten. Das war nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht jedoch nicht möglich [...]. Der Umstand, dass ihr Vertreter den Fall direkt vor der Verhandlung vom 1.2.2005 übernommen hatte, kann diese Unterlassung ihrerseits nicht rechtfertigen. Tatsächlich erörterte der Anwalt bei dieser Verhandlung auf wirksame Weise und umfassend den Inhalt des Falles und hätte daher auch in der Lage sein müssen, den Wert des Streitgegenstands im Einklang mit den einschlägigen Erfordernissen des innerstaatlichen Rechts zu ändern [...].
(118) Im Hinblick auf das Vorbringen der Bf., sie habe bei der Verhandlung am 6.4.2005 die Zivilklage geändert, was ihr auch erlauben würde, den Wert des Gegenstands zu ändern [...], bemerkt der GH, dass das Oberste Gericht festgehalten hat, dass keine solche Änderung der Zivilklage erfolgte [...]. Eingedenk dessen, dass es in erster Linie bei den innerstaatlichen Gerichten liegt, das einschlägige innerstaatliche Recht auszulegen, und dass die Entscheidung des Obersten Gerichts, die auf die volle Kenntnis der relevanten Fakten gestützt war, nicht willkürlich oder offenkundig unangemessen erscheint [...], sieht der GH keinen Grund dafür, diese Feststellung in Frage zu stellen.
(119) Es trifft zwar zu, dass das Stadtgericht es entgegen § 40 Abs. 3 ZPO fälschlich verabsäumt hatte, über den Antrag der Bf. zu entscheiden, den Wert des Streitgegenstands zu ändern, und die Zahlung der Gerichtsgebühren und Kosten und Auslagen an den belangten Staat auf Basis des höheren Wertes angeordnet hatte. Es trifft ebenso zu, dass dies vom Landgericht akzeptiert wurde [...]. Solche Fehler auf Seiten der beiden Gerichte dürfen jedoch nicht als Rechtfertigung für den Fehler der Bf. gesehen werden, der die Art und Weise betrifft, wie sie eine Änderung des Streitwertes beantragte. Es anders zu betrachten, würde darauf hinauslaufen zu akzeptieren, dass der Verfahrensfehler des einen durch den folgenden Fehler eines anderen entschuldigt werden könnte, was dem Grundsatz der Rechtstaatlichkeit und dem Erfordernis einer umsichtigen und ordentlichen Verfahrensführung sowie der sorgfältigen Umsetzung der einschlägigen Verfahrensbestimmungen zuwiderlaufen würde [...].
(120) Zudem kann nach Ansicht des GH im vorliegenden Fall aus von der Bf. fälschlich unternommenen Verfahrensschritten keine angemessene Erwartungshaltung abgeleitet werden. Daraus folgt auch, dass der Umstand, dass die Bf. einen höheren Betrag an Gerichtsgebühren und rechtlichen Kosten und Auslagen zu bezahlen hatte, primär das Ergebnis ihres eigenen Verhaltens ist und ihr daher kein Recht auf Zugang zum Obersten Gericht verleihen kann. In diesem Zusammenhang hält der GH fest, dass es dem Rechtsvorgänger der Bf. offengestanden wäre, innerhalb eines Jahres ab der Zahlung eine Rückzahlung der fälschlich berechneten Gebühr zu verlangen, allerdings machte er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch.
(121) Vor diesem Hintergrund scheint es, dass es die Bf., die in den innerstaatlichen Verfahren rechtlich vertreten wurde, verabsäumt hatte, die nötige Sorgfalt an den Tag zu legen, als sie versuchte, den Streitwert auf eine Weise zu erhöhen, die nicht im Einklang mit den Anforderungen des innerstaatlichen Rechts stand. Die Verfahrensfehler hätten von Beginn an vermieden werden können und angesichts dessen, dass sie hauptsächlich und objektiv betrachtet ihr zuzurechnen sind, liegt es bei ihr, die nachteiligen Konsequenzen dieser Fehler zu tragen.
War die Beschränkung des Zugangs der Bf. zum Obersten Gericht übermäßig formalistisch?
(122) Im Hinblick auf das Kriterium des übermäßigen Formalismus befindet der GH [...], dass es schwer wäre zu akzeptieren, dass das Oberste Gericht in einer Situation, wo das einschlägige innerstaatliche Recht es ihm gestattete, an es herangetragene Fälle zu filtern, durch die Fehler der unterinstanzlichen Gerichte gebunden sein sollte, wenn es darüber entscheidet, ob jemanden Zugang zu ihm zu gewähren ist. Es anders zu sehen, würde die Arbeit des Obersten Gerichts schwer behindern und es ihm unmöglich machen, seiner speziellen Funktion nachzukommen. Es wurde in der Rechtsprechung des GH bereits bestätigt, dass die Befugnis eines Höchstgerichts, seine Zuständigkeit zu bestimmen, nicht auf diese Weise eingeschränkt werden kann [...]. Indem man akzeptiert, dass es keinen Grund gibt, um die einschlägigen verfahrensrechtlichen Vorkehrungen der kroatischen ZPO betreffend die Art und Weise in Zweifel zu ziehen, wie der Streitwert angegeben werden muss, kann jedenfalls nicht gesagt werden, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts, die diese zwingenden Bestimmungen der ZPO anwendeten, auf einen übermäßigen Formalismus hinausliefen.
(123) Im Gegenteil befindet der GH, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts Rechtssicherheit und eine ordentliche Rechtspflege gewährleistete [...]. Das Gericht stellte im vorliegenden Fall einfach im Hinblick auf einen von der Bf. und den beiden unterinstanzlichen Gerichten [...] falsch gesetzten Verfahrensschritt betreffend eine Frage, die seine Zuständigkeit betraf, die Rechtsstaatlichkeit wieder her. Es erhielt somit den Grundsatz der Wirksamkeit der Rechtsprechung aufrecht. Unter solchen Umständen sollte a priori keine Frage hinsichtlich übermäßigem Formalismus auftreten. Da die Rechtsstaatlichkeit ein grundlegendes Prinzip eines demokratischen Staates und der Konvention ist, kann aus Letzterer oder einer anderen Quelle keine Erwartung abgeleitet werden, dass das Oberste Gericht offenkundige verfahrensrechtliche Unregelmäßigkeiten ignoriert.
(124) Deshalb kann nicht gesagt werden, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts, mit dem es die Revision der Bf. für unzulässig erklärte, übermäßig formalistisch war und eine unangemessene und besonders strikte Anwendung von Verfahrensregeln mit sich brachte, die den Zugang der Bf. zu ihm ungerechtfertigt beschränkte.
Schlussfolgerung zur Verhältnismäßigkeit
(125) Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung, dass der Fall der Bf. vor zwei Instanzen nationaler Gerichte verhandelt wurde [...], die über volle Jurisdiktion in der Angelegenheit verfügten, dass in dem Fall keine Frage betreffend eine fehlende Fairness auftrat und dass die Rolle des Obersten Gerichts darauf beschränkt war, die Anwendung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts durch die unterinstanzlichen Gerichte zu prüfen (siehe Rn. 108 oben), kann nicht gesagt werden, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts unverhältnismäßig war und das Wesen des Rechts der Bf. auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzte oder den nationalen Ermessensspielraum überschritt.
Gesamtschlussfolgerung
Angesichts des oben Gesagten erfolgte keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Levages Prestations Services/F v. 23.10.1996
Brualla Gómez de la Torre/E v. 19.12.1997
Beleš u.a./CZ v. 12.11.2002
Kart/TR v. 3.12.2009 (GK) = NL 2009, 353
Bakowska/PL v. 12.1.2010
Dobric/SRB v. 21.6.2011
Hasan Tunç u.a./TR v. 31.1.2017
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.4.2018, Bsw. 40160/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 138) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_2/Zubac.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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