Spruch:
Art. 10 EMRK - Veröffentlichung von Intimitäten aus dem Leben des früheren Premierministers durch seine damalige Geliebte.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Bei der 1970 geborenen Bf. handelt es sich um die ehemalige Freundin des früheren Premierministers. Sie verfasste ein autobiografisches Buch über ihre Beziehung mit diesem. Im Buch ging es um einen Zeitraum von neun Monaten im Leben der Bf., einer damals alleinerziehenden Mutter, während dem sie sich mit dem geschiedenen Premierminister traf. Das Buch beschrieb das Leben des Liebespaares und nahm Bezug auf seine intimen Interaktionen. Es wurde am 19.2.2007 veröffentlicht. Der Premierminister war von Juni 2003 bis Juni 2010 im Amt. 2010 trat er zurück.
Am 5.10.2007 erhob der Staatsanwalt Anklage unter Kapitel 24 § 8 StGB (Verbreitung von die Persönlichkeitsrechte verletzenden Informationen) gegen die Bf., den Verlag und den Vertreter des Verlags, weil sie Informationen über das Privatleben des Premierministers veröffentlicht hätten. Er beantragte auch, dass der Verfall der Erlöse aus diesem Verbrechen angeordnet werden sollte. Der Premierminister selbst verfolgte keine Anklage oder Entschädigungsklage gegen die Bf. Das Buch der Bf. wurde am 15.2.2008 aus dem Verkauf genommen.
Das BG Helsinki stellte das Verfahren gegen die Bf. am 5.3.2008 ein. Es befand, dass der Premierminister bereits selbst umfangreiche Informationen über seine Familie und seine Gewohnheiten sowie über seine Beziehung mit der Bf. offengelegt hatte. Die neuen Details im Buch der Bf. würden diese Informationen nur vervollständigen. Es würde damit keine strafbare Handlung der Bf. vorliegen.
Nachdem der Staatsanwalt und der Premierminister gegen diese Entscheidung berufen hatten, verurteilte das Berufungsgericht die Bf. am 10.2.2009 wegen Verbreitung von die Persönlichkeitsrechte verletzenden Informationen zu insgesamt € 300,– und ordnete den Verfall der Erlöse an. Es stellte fest, dass jene Passagen des Buches, welche die intimen Treffen mit dem Premierminister und die Gefühle und das Verhalten seiner Kinder betrafen, unnötigerweise den Kernbereich von dessen geschütztem Privatleben verletzten. Der Umstand, dass der Premierminister selbst Teile seines Privatlebens veröffentlicht hatte, würde nicht bedeuten, dass er überhaupt keinen Schutz seines Privatlebens genoss.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 16.6.2010 bis auf die Verfallsanordnung. Das Gericht erkannte dem Privatleben des Premierministers unter umfangreichen Verweisen auf die Rechtsprechung des GH dabei einen engeren Anwendungsbereich zu als das Berufungsgericht. Es befand, dass die einzigen Bezüge in dem Buch, die zu einer unrechtmäßigen Offenlegung von Informationen über das Privatleben des Premierministers geführt hatten, die Informationen und Andeutungen der Bf. über ihr gemeinsames Sexualleben und intime Vorkommnisse zwischen ihr und dem Premierminister waren – insbesondere Beschreibungen ihrer intimen Momente und Berichte über den Geschlechtsverkehr. Das Gericht stellte fest, dass solche Informationen und Andeutungen unter den Kernbereich des Privatlebens fielen und deren unerlaubte Veröffentlichung für den Premierminister Leid und Verachtung bewirken konnte. Daher wäre es notwendig gewesen, die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. zu beschränken, um das Privatleben des Premierministers zu schützen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch ihre Verurteilung wegen Veröffentlichung von Informationen über das Privatleben des Premierministers. Sie hätte nur Details aus ihrem Privatleben offengelegt, auch wenn diese zugleich jemand anderen betroffen hätten.
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Der GH stimmt damit überein, dass die Verurteilung der Bf. und die gegenüber ihr verhängte Geldstrafe einen Eingriff in ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellten, der über die Bestimmung des Kapitels 24 § 8 StGB auch »gesetzlich vorgesehen« im Sinne der Konventionsstandards war. Weiters wurde nicht bestritten, dass der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer verfolgte.
Es bleibt daher zu untersuchen, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der GH hat kürzlich die Grundsätze dargelegt, die bei der Untersuchung der Notwendigkeit eines Eingriffs in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit im Interesse »des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer« anzuwenden sind. In solchen Fällen kann es für den GH notwendig sein zu überprüfen, ob die nationalen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den manchmal konfligierenden Konventionsgarantien der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK und des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK geschaffen haben. In Von Hannover/D (Nr. 2) und Axel Springer AG/D legte der GH den Ermessensspielraum der Staaten und seine eigene Rolle bei der Gewichtung dieser beiden widerstreitenden Interessen fest. Er arbeitete eine Reihe von Kriterien heraus, die von Bedeutung sind, wenn das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit gegen jenes auf Achtung des Privatlebens abgewogen wird. Dazu gehören (1) der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse; (2) wie bekannt die betroffene Person ist und über was berichtet wird; (3) das frühere Verhalten der betroffenen Person; (4) die Art und Weise, wie die Informationen erlangt wurden und ihr Wahrheitsgehalt; (5) Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung; und (6) die Schwere der verhängten Strafe.
Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass die Bf. wegen der Verbreitung von die Persönlichkeitsrechte verletzenden Informationen zu einer Geldstrafe von insgesamt € 300,– verurteilt wurde. Er beobachtet auch, dass das fragliche Buch einen Zeitraum von neun Monaten im Leben der Bf. beschrieb, als sie sich als alleinerziehende Mutter mit dem damaligen Premierminister traf. Das Buch umschrieb das Leben des Liebespaares und nahm Bezug auf ihre intimen Interaktionen. Auch wenn die Betonung in dem Buch darauf lag, das Privatleben der Bf. zu skizzieren, so befasste es sich auch mit einer Situation, wo sich zwei unterschiedliche Wirklichkeiten der heutigen finnischen Gesellschaft trafen, nämlich ein reicher Parteivorsitzender und Premierminister und eine alleinerziehende Mutter mit alltäglichen finanziellen Problemen.
Der GH bemerkt, dass die in dem betreffenden Buch dargestellten Gegebenheiten vor den nationalen Gerichten nicht in Frage standen; das BG beobachtete, dass nie auch nur vorgebracht wurde, dass die enthüllten Tatsachen nicht wahr wären. Sie wurden zudem auf eine mitfühlende Art und Weise präsentiert. Auch der Stil war nicht provokativ oder übertrieben. Es gibt keinen Beweis für eine falsche Darstellung der Fakten oder eine böse Absicht der Bf. und es erfolgte auch keine diesbezügliche Behauptung.
Zudem war es gleichermaßen klar, dass der frühere Premierminister zur Zeit, als das Buch veröffentlicht wurde, eine Person des öffentlichen Lebens war. Von ihm wurde daher erwartet, ein höheres Maß an öffentlichem, möglicherweise negative Auswirkungen auf seine Ehre und seinen guten Ruf mit sich bringendem Rampenlicht zu tolerieren als eine reine Privatperson. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Details aus dem Buch oder das Foto des früheren Premierministers durch List oder andere illegale Mittel erlangt wurden. Ganz im Gegenteil, um dessen Zustimmung zur Verwendung des Fotos auf dem Deckblatt des Buches war angefragt und war diese auch erteilt worden.
Um zu beurteilen, ob die Notwendigkeit der Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit überzeugend begründet wurde, muss der GH diese Frage im Wesentlichen vom Standpunkt der Stichhaltigkeit und Hinlänglichkeit der von den nationalen Gerichten gelieferten Gründe für die Verurteilung der Bf. und die Verhängung einer Geldstrafe gegen sie untersuchen. Er muss entscheiden, ob ihre Verurteilung und die gegen sie verhängte strafrechtliche Sanktion einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und jenen des Premierministers schufen und die angewendeten Standards im Einklang mit den in Art. 10 EMRK enthaltenen Grundsätzen standen.
Der GH befindet, dass die Betonung des Buches zwar auf dem Privatleben der Bf. lag, es aber dennoch Elemente von öffentlichem Interesse enthielt. Der Oberste Gerichtshof stellte anders als das Berufungsgericht fest, dass die Information darüber, wie und wann der frühere Premierminister die Bf. getroffen und wie schnell sich ihre Beziehung entwickelt hatte, Bedeutung für die allgemeine öffentliche Diskussion hatte, da dies die Frage aufwarf, ob er diesbezüglich unehrlich gewesen war und es ihm an Urteilsvermögen mangelte. Der Oberste Gerichtshof stellte auch fest, dass die Informationen betreffend die großen Unterschiede im Lebensstandard der Bf. und des Premierministers, dessen Lebensstil, die datenschutzrechtlichen Bedenken und der Schutz der höchsten Politiker allgemein von Relevanz für die allgemeine öffentliche Diskussion waren. Der GH stimmt damit überein. Aus Sicht des Rechts der allgemeinen Öffentlichkeit, Informationen über Sachen von öffentlichem Interesse zu empfangen, gab es daher gerechtfertigte Gründe für die Veröffentlichung des Buches.
Der GH bemerkt, dass die nationalen Gerichte auch berücksichtigten, dass die Mehrheit der in dem Buch veröffentlichten Informationen über das Privatleben des früheren Premierministers bereits umfassend offengelegt worden war. Dieser hatte selbst Informationen über seine Familie und seine Gewohnheiten wie auch über seine Beziehung mit der Bf. offengelegt und 2005 sogar eine Autobiografie veröffentlicht. Der Oberste Gerichtshof befand auch, dass die Informationen über das Sexual- und Intimleben des Premierministers sowie die Gefühle und das Verhalten seiner Kinder zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. Er erachtete jedoch nur die Bezugnahme auf das Sexualleben und die intimen Vorkommnisse zwischen der Bf. und dem früheren Premierminister für unrechtmäßig.
Weiters beobachtet der GH, dass die nationalen Gerichte in ihrer Analyse sowohl dem Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit als auch dem Recht des früheren Premierministers auf Achtung seines Privatlebens Bedeutung beimaßen. Die nationalen Gerichte untersuchten den Fall im Einklang mit den in Art. 10 EMRK enthaltenen Grundsätzen und den in der jüngeren Rechtsprechung des GH herausgearbeiteten Kriterien. Alle nationalen Gerichte und insbesondere der Oberste Gerichtshof nahmen in ihrer Begründung eine Abwägung des Rechts der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit mit jenem des Premierministers auf seinen guten Ruf vor, indem sie diese Rechte im Hinblick auf ein »dringendes soziales Bedürfnis« und die »Verhältnismäßigkeit« betrachteten. Der Oberste Gerichtshof beschränkte zudem den Umfang der problematischen Passagen des Buches. Er zählte lediglich bestimmte Teile des Buches auf, von denen er befand, dass Informationen enthalten waren, die in den Kernbereich des Privatlebens des früheren Premierministers fielen. Er stellte fest, dass solche Informationen und Hinweise und deren unauthorisierte Veröffentlichung für den Premierminister Leid und Verachtung bewirken konnten. Daher sei es notwendig, die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. diesbezüglich zu beschränken, um das Privatleben des früheren Premierministers zu schützen.
Der GH erachtet diesen Gedankengang für akzeptabel. Die Beschränkungen der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. wurden vom Obersten Gerichtshof überzeugend begründet und berücksichtigten die Rechtsprechung des GH. Dieser erinnert an seine jüngere Rechtsprechung, wonach er unter solchen Umständen starke Gründe verlangen würde, um seine Sichtweise an die Stelle jener der nationalen Gerichte zu setzen.
Schließlich hat der GH die Schwere der gegenüber der Bf. verhängten Sanktionen berücksichtigt. Die Bf. wurde strafrechtlich verurteilt und zur Zahlung einer Geldstrafe von insgesamt € 300,– verpflichtet. Es wurden keine weiteren Sanktionen verhängt und kam es auch zu keinen weiteren finanziellen Konsequenzen. Außerdem bemerkt der GH, dass nach nationalem Recht kein Eintrag der Verurteilung in das Strafregister der Bf. erfolgte, da die verhängte Sanktion nur eine Geldstrafe war. Der GH erachtet die Sanktion für angemessen.
Im Ergebnis waren die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe nach Ansicht des GH sowohl stichhaltig als auch hinreichend, um zu zeigen, dass der gerügte Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Unter Berücksichtigung aller vorangegangenen Faktoren und des dem Staat in diesem Bereich gewährten Ermessensspielraums befindet der GH, dass die nationalen Gerichte einen gerechten Ausgleich zwischen den auf dem Spiel stehenden widerstreitenden Interessen geschaffen haben. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Anmerkung
Im fast identen Urteil Ojala und Etukeno Oy/FIN, ebenfalls vom 14.1.2014, Bsw. Nr. 69.939/10, stellte die IV. Kammer im Hinblick auf die Verurteilung des Verlegers wegen der Veröffentlichung des Buches ebenfalls keine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.
Vom GH zitierte Judikatur:
Eerikäinen u.a./FIN v. 10.2.2009
Flinkkilä/FIN v. 6.4.2010
Von Hannover/D (Nr. 2) v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.1.2014, Bsw. 73579/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 48) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_1/Ruusunen.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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