EGMR Bsw30765/08

EGMRBsw30765/0810.1.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Di Sarno gg. Italien, Urteil vom 10.1.2012, Bsw. 30765/08.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Andauernde Konventionsverletzung bei Müllkrise in Italien.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 undArt. 13 EMRK (mehrheitlich).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK unter seinem materiellrechtlichen Aspekt (6:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.500,- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um 18 italienische Staatsangehörige, die in der Stadt Somma Vesuviana (Provinz Neapel, Region Kampanien) leben bzw. arbeiten.

Für die Zeit vom 11.2.1994 bis zum 31.12.2009 wurde vom Präsidenten des Ministerrats angesichts gravierender Probleme mit der Entsorgung von städtischem Müll für die Region Kampanien der Ausnahmezustand erklärt. Mit der organisatorischen Abwicklung wurden neun hauptverantwortliche Kommissare beauftragt.

In der Folge entwarf der Präsident der Region Kampanien in seiner Eigenschaft als hauptverantwortlicher Kommissar einen regionalen Müllentsorgungsplan und forderte Unternehmen auf, sich für eine Konzession für die Abfallbeseitigung in der Provinz Neapel zu bewerben. Die Konzession wurde schließlich fünf Firmen übertragen, die sich zum Bau von mehreren Müllverwertungsanlagen verpflichteten.

Mittlerweile hatte der Präsident der Region Kampanien auch eine Ausschreibung für die Abfallbeseitigung in der Region Kampanien veranlasst. Den Zuschlag erhielt die FIBE S.p.A. (später FIBE Campania S.p.A.).

2003 leitete die Staatsanwaltschaft Neapel eine Untersuchung betreffend die Müllentsorgung in der Region Kampanien ein. Am 31.7.2007 erhob sie Anklage gegen die Direktoren und bestimmte Angestellte von insgesamt fünf Firmen (darunter die FIBE S.p.A. und die FIBE Campania S.p.A) sowie gegen den hauptverantwortlichen Kommissar und mehrere seiner Mitarbeiter unter anderem wegen Betrugs, Amtsmissbrauchs und illegaler Müllablagerung. 2006 bzw. 2008 wurden von der Staatsanwaltschaft zwei weitere strafrechtliche Untersuchungen gegen Angestellte der FIBE S.p.A. und FIBE Campania S.p.A bzw. öffentliche Amtsträger eingeleitet.

Zwischen März 2006 und November 2007 veranlasste der neue hauptverantwortliche Kommissar insgesamt drei erfolglose Ausschreibungen für die Abfallbeseitigung in der Region Kampanien. In der Zwischenzeit verabschiedete das Parlament der Region Kampanien mehrere Gesetze, welche unter anderem einen Krisenplan für die Abfallentsorgung vorsahen. Ungeachtet dessen kam es Ende 2007 zu einer neuen Krise, als sich Tonnen von Abfällen mehrere Wochen lang in den Straßen von Neapel und anderen Städten stapelten. Der hauptverantwortliche Kommissar wurde daraufhin abgelöst und durch einen hochrangigen Polizeibeamten ersetzt.

Mit Urteil vom 4.3.2010, C-297/08 , (Anm: Kommission gegen Italienische Republik. Italien war vom EuGH bereits am 26.4.2007 wegen Verstoßes gegen näher genannte Artikel von EU-Richtlinien über Abfälle, gefährliche Abfälle und Abfalldeponien verurteilt worden (Rs. C-135/05 ).) stellte der EuGH fest, dass Italien dadurch, dass für die Region Kampanien nicht alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen worden seien, um zu gewährleisten, dass Abfälle ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit bzw. Schädigung der Umwelt verwertet und beseitigt wurden, und wegen Nichterrichtung eines angemessenen und integrierten Netzes von Beseitigungsanlagen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 und Art. 5 der RL 2006/12/EG vom 5.4.2006 über Abfälle verstoßen habe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens bzw. der Wohnung) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zu den Einreden der Regierung

Zum Opferstatus der Bf.

Die Regierung bringt vor, den Bf. fehle die Opfereigenschaft, da sie weder einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens bzw. der Wohnung noch in ihr Recht auf Gesundheit bzw. auf Leben hätten erdulden müssen. Von den Bf. wäre nicht dargelegt worden, dass sie in der Nähe von Mülldeponien oder abfallbeladenen Straßen gelebt oder gearbeitet hätten. Somma Vesuviana sei von der »Müllkrise« nicht einmal betroffen gewesen. In Wahrheit würden sich die Bf. über die Abfallpolitik des Staates beschweren und damit eine nach der Konvention unzulässige actio popularis erheben.

Die Bf. prangern mit ihrer Beschwerde eine Situation an, welche die gesamte Bevölkerung in Kampanien betrifft, nämlich negative Auswirkungen auf die Umwelt, die auf die unzulängliche Handhabung des behördlichen Abfallbewirtschaftungssystems zurückzuführen sei. Aus den von den Parteien vorgelegten Dokumenten geht jedenfalls hervor, dass Somma Vesuviana von der »Müllkrise« betroffen war.

Unter diesen Umständen sind die von den Bf. gerügten Schäden für die Umwelt geeignet, ihr eigenes Wohlbefinden direkt zu beeinträchtigen. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zur Nichterschöpfung des Instanzenzugs

Die Regierung bringt vor, die Bf. hätten es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug zu erschöpfen, da sie - dem Beispiel anderer Einwohner von Kampanien folgend - Schadenersatzklage gegen die für die Abholung und Entsorgung des Abfalls verantwortlichen Stellen hätten einbringen können. Ferner hätten sie den Umweltminister ersuchen können, bei den Gerichten eine Klage auf Wiedergutmachung für Umweltschäden zu erheben. Schließlich wäre es den Bf. freigestanden, sich den gegen Angestellte der Konzessionsträger bzw. öffentliche Amtsträger eingeleiteten Strafverfahren als Privatbeteiligte anzuschließen.

Was die Möglichkeit der Einbringung einer Schadenersatzklage vor den Zivilgerichten anlangt, ist zu sagen, dass eine solche zwar in einer Entschädigung der Betroffenen, nicht jedoch in einer Entfernung des Abfalls von den Straßen und öffentlichen Plätzen resultiert hätte. Im Übrigen hat die Regierung keinerlei Gerichtsentscheidung zum Beweis ihrer Behauptung vorgelegt, dass eine derartige Vorgangsweise erfolgversprechend gewesen wäre. Ebensowenig existieren Dokumente, die belegt hätten, dass sich Betroffene den oben angesprochenen Strafverfahren als Privatbeteiligte anzuschließen vermochten.

Zur möglichen Anrufung des Umweltministers ist schließlich zu sagen, dass nur er allein Wiedergutmachung für Umweltschäden verlangen kann und Betroffene ihn lediglich ersuchen können, die Gerichte anzurufen. Dieser Rechtsbehelf kann daher nicht als effektiv iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK erachtet werden. Der Einwand der Regierung ist somit zurückzuweisen.

Zur Nichtbeachtung der Sechs-Monats-Frist

Die Regierung bringt vor, gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK könnten lediglich jene Umstände, die sich sechs Monate vor der Einbringung der vorliegenden Beschwerde am 9.1.2008 ereignet hätten, an den GH herangetragen werden. Eine Prüfung der Situation in Bezug auf den Zeitraum davor wäre demnach unzulässig.

Der GH hebt hervor, dass die Bf. sich nicht über einen momentanen Zustand beschweren, sondern über eine Krisensituation betreffend die Abfallbewirtschaftung in Kampanien. Da die Situation, über die sich die Bf. beklagen, andauert, beginnt die Sechs-Monats-Frist folglich erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung dieser Situation zu laufen. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. bringen vor, der italienische Staat habe es unterlassen, die notwendigen gesetzlichen und administrativen Maßnahmen zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Ablaufs der öffentlichen Müllentsorgung zu treffen. Dadurch sei es zu ernsten Schäden für die Umwelt in ihrer Region gekommen und sei nicht nur ihr Leben bzw. ihre Gesundheit, sondern auch jenes bzw. jene der Gesamtbevölkerung gefährdet worden. Da­rüber hinaus hätten es die Behörden verabsäumt, sie über die mit einem Aufenthalt in einer verschmutzten Umgebung verbundenen Risiken zu informieren. Sie rügen eine Verletzung von Art. 2 undArt. 8 EMRK.

Mit Rücksicht auf seine einschlägige Rechtsprechung wird der GH die Rügen der Bf. unter Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung) prüfen.

Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).

In der Sache

Der GH hat bereits festgestellt, dass Somma Vesuviana, wo die Bf. leben bzw. arbeiten, von der »Müllkrise« betroffen war. Ab Ende 2007 bis Mai 2008 waren sie gezwungen, in einer aufgrund der Ansammlung von Abfall auf den öffentlichen Straßen verschmutzten Umgebung zu leben. Diese Situation war geeignet, eine Verschlechterung ihrer Lebensqualität herbeizuführen und ihr Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung zu beeinträchtigen. Art. 8 EMRK ist somit anwendbar.

Die Bf. haben übrigens nicht vorgebracht, gesundheitliche Beeinträchtigungen davongetragen zu haben. Die von den Parteien vorgelegten wissenschaftlichen Studien kommen zu gegenteiligen Ergebnissen, was die Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen der Exposition gegenüber Abfällen und einem erhöhten Risiko der Erkrankung an Krebs und Fehlfunktionen der Organe anlangt. Ungeachtet der Schlussfolgerung des EuGH in seinem Urteil vom 4.3.2010, wonach die Anhäufung erheblicher Abfallmengen in den öffentlichen Straßen und auf provisorischen Lagerplätzen eine Gefährdung der Gesundheit der ansässigen Bevölkerung nach sich gezogen habe, ist der GH nicht der Ansicht, dass das Leben und die Gesundheit der Bf. bedroht waren. Andererseits kann Art. 8 EMRK auch dann ins Spiel kommen, wenn kein Beweis für eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit der betroffenen Personen vorliegt.

Im vorliegenden Fall war das Abfallbewirtschaftungssystem zwar von 2000 bis 2008 privaten Firmen übertragen worden. Die Tatsache, dass die italienischen Behörden Dritten die Handhabung einer öffentlichen Dienstleistung übertragen haben, kann sie jedoch nicht von ihrer Sorgfaltspflicht gemäß Art. 8 EMRK entbinden.

Beginnend mit Mai 2008 startete der italienische Staat eine Serie von Initiativen, um der schwierigen Situation in Kampanien Herr zu werden, was schließlich zur Aufhebung des Ausnahmezustands am 31.12.2009 führte. Zwar hat die Regierung die Existenz einer Krise eingeräumt, diese aber auf höhere Gewalt zurückgeführt. Laut Art. 23 der von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen ausgearbeiteten »Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen« ist höhere Gewalt eine unabwendbare Gewalt oder ein unvorhergesehenes äußeres Ereignis, das jenseits staatlicher Kontrolle liegt, wodurch es dem betroffenen Staat faktisch unmöglich gemacht wird, seinen (völkerrechtlichen) Verpflichtungen nachzukommen. Angesichts nicht zuletzt der Schlussfolgerungen des EuGH im oben genannten Urteil vermögen die von der Regierung genannten Umstände keine höhere Gewalt zu begründen.

Auch gesetzt den Fall, die kritische Phase habe nur fünf Monate - von Ende 2007 bis Mai 2008 - gedauert, und ungeachtet des in diesem Bereich den Staaten eingeräumten Ermessensspielraums ist festzustellen, dass die italienischen Behörden über einen längeren Zeitraum außerstande waren, den ordnungsgemäßen Ablauf der Sammlung, Aufbereitung und Entsorgung von Abfällen sicherzustellen, was zu einer Beeinträchtigung des Rechts der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens bzw. ihrer Wohnung führte. Verletzung von Art. 8 EMRK unter seinem materiellrechtlichen Aspekt (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Saj).

Was die von den Bf. behauptete fehlende Inkenntnissetzung über das Ausmaß des Risikos betrifft, wurden die vom Zivilschutz zu diesem Zweck in Auftrag gegebenen Studien 2005 bzw. 2008 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die italienischen Behörden sind somit ihrer positiven Verpflichtung nachgekommen, die betroffene Bevölkerung - darunter die Bf. - über potentielle Risiken für den Fall des Verweilens in Kampanien zu informieren. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 6 undArt. 13 EMRK

Die Bf. rügen, dass die Behörden keine Initiativen gesetzt hätten, um die Rechte der Öffentlichkeit zu wahren. So habe die Justiz die strafrechtliche Verfolgung der für die Müllkrise Verantwortlichen bewusst hinausgezögert.

Zur Einleitung von Strafverfahren ist zu sagen, dass einem Bf. weder durch Art. 6 noch durch Art. 13 EMRK ein Recht auf strafrechtliche Verfolgung bzw. Aburteilung Dritter oder auf »private Vergeltung« eingeräumt wird. Dieser Beschwerdepunkt muss daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit ratione materiae als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Das behauptete Fehlen effektiver Rechtsmittel im italienischen Rechtssystem, Wiedergutmachung für erlittene Nachteile zu erhalten, fällt hingegen in den Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK. Dieser Beschwerdepunkt ist für zulässig zu erklären (mehrstimmig).

Mit Rücksicht auf seine Feststellungen zum Fehlen nützlicher und effektiver Rechtsbehelfe, die es den Bf. ermöglicht hätten, Beschwerde vor den Gerichten wegen unzulänglicher Handhabung der Abfallbewirtschaftung zu erheben, liegt eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Saj).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für immaterielle Schäden dar. € 2.500,- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Saj).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lpez Ostra/E v. 9.12.1994 = NL 1995, 25 = ÖJZ 1995, 347 = EuGRZ 1995, 530

Guerra u.a./I v. 19.2.1998 (GK) = NL 1998, 59 = ÖJZ 1999, 33 = EuGRZ 1999, 188

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.1.2012, Bsw. 30765/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 5) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Di Sarno.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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