EGMR Bsw67021/01

EGMRBsw67021/0127.1.2009

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Tatar gegen Rumänien, Urteil vom 27.1.2009, Bsw. 67021/01.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK - Kein Zugang zu Umweltinformationen nach Ökokatastrophe.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Keine Entschädigung für materiellen oder immateriellen Schaden (5:2 Stimmen). € 6.266,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf., Vater (ErstBf.) und Sohn (ZweitBf.), lebten in Baia Mare. Ende 1998 erhielt die Aktiengesellschaft S. C. Aurul Baia Mare S. A. (im Folgenden: Aurul), bei der der rumänische Staat Aktionär ist, eine Lizenz zur Ausbeutung der dortigen Goldmine. Man wendete ein neuartiges Verfahren an, indem Golderz in großräumigen Becken mit Natriumzyanid (Anm.: Diese toxische Substanz entwickelt bei Kontakt mit Luft hochgiftige Blausäuredämpfe, welche unter anderem zu Atemwegsreizungen führen können) versetzt wurde. Eine dieser Aufbereitungsanlagen samt Fabrik befand sich in der Nähe des Flusses Sasar, etwa 100 Meter von der Wohnsiedlung der Bf. entfernt.

Laut einer 1993 erstellten Umweltverträglichkeitsstudie waren der Boden, das Grundwasser und die umliegenden Flüsse bereits vergiftet. Ferner überschritten die in der Luft enthaltenen Mengen an Feinstaub und Schwefeldioxid die Grenzwerte bei weitem. Ähnliches galt für Schwermetallablagerungen im Boden. Baia Mare wurde generell als verschmutzt aufgrund intensiver industrieller Nutzung beschrieben. Die Autoren der Studie sahen die Fabrik bzw. Anlage beim Fluss Sasar als potentielle Quelle von Lärm und Luftverschmutzung an, welche die Lebensqualität der dortigen Bevölkerung einschränkten. Was die Auswirkungen von Natriumzyanid auf die Gesundheit angehe, bestehe jedoch kein Vergiftungsrisiko, sofern der Goldgewinnungsprozess vorschriftsgemäß und ohne Unfall ablaufe.

Am 30.1.2000 kam es in der Aufbereitungsanlage zu einem Dammbruch, was zur Folge hatte, dass sich unter anderem Natriumzyanidlauge im Ausmaß von geschätzten 100.000 m3 in den Fluss Sasar ergoss. Von dort gelangten die Schadstoffe in die Donau und schließlich ins Schwarze Meer. Ein enormes Fischsterben in rumänischen, ungarischen und teilweise in serbo-montenegrinischen Gewässern war die Folge. Laut einem im Dezember 2000 erstellten Bericht der im Anschluss an den Unfall einberufenen Untersuchungskommission war es zu keinen direkten Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gekommen. Unfallursache waren demnach Konstruktionsfehler, das Fehlen eines Notfallsystems bzw. permanenter Sicherheitskontrollen, die mangelnde Berücksichtigung klimatischer Besonderheiten beim Bau der Anlage sowie heftige Regenfälle.

In der Folge brachte der ErstBf. erfolglos Beschwerden unter anderem bei der Stadtgemeinde und beim Umweltministerium ein, worin er sich beklagte, dass er und seine Familie als Folge der Verwendung von Natriumzyanid gesundheitlichen Risiken ausgesetzt seien. Er brachte auch Strafanzeige gegen die Firma Aurul mit dem Hinweis ein, die verwendete Technologie stelle eine Gefahr für die Gesundheit der Einwohner und ein Risiko für die Umwelt dar und habe zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands seines Sohnes, der an Asthma leide, geführt. Am 20.11.2001 stellte die Staatsanwaltschaft von Baia Mare das Verfahren ein, da keine Delikte im Sinne der Strafgesetze verwirklicht seien. Weitere Strafanzeigen seitens des ErstBf. blieben erfolglos.

2001 gelangte eine neue Umweltverträglichkeitsstudie zu dem Ergebnis, dass die Aktivitäten der Firma Aurul nicht zuletzt angesichts der Überschreitung der für Schadstoffe festgesetzten Grenzwerte zwar potentielle Risiken für die menschliche Gesundheit und das Ökosystem in sich bergen würden, jedoch nicht von signifikanten Auswirkungen auf die in der Nähe der Aufbereitungsanlage bzw. Fabrik lebende Bevölkerung auszugehen sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), da die von der Firma Aurul verwendete Technologie eine Gefahr für ihr Leben darstelle. Der GH wird die Beschwerde unter Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) prüfen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. rügen, die Behörden hätten auf ihre Beschwerden betreffend die von Natriumzyanid ausgehenden Risiken für das Leben, die Umwelt sowie die Gesundheit nicht reagiert.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK:

Der GH hält fest, dass nach der Ökokatastrophe für eine gewisse Zeit verschiedene Schadstoffe vor allem in der Umgebung der Bf. die national und international zulässigen Höchstwerte überschritten. Dies geht unter anderem aus offiziellen Dokumenten des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und des rumänischen Umweltministeriums hervor. Er sieht auch keinen Grund, die Aufrichtigkeit des Vorbringens der Bf. in Zweifel zu ziehen. Im Übrigen lässt sich eine Vergiftungsgefahr durch gefährliche chemische Substanzen bereits aus den besagten Umweltverträglichkeitsstudien ableiten.

Der GH gelangt somit zu dem Schluss, dass die von der gegenständlichen Aufbereitungsanlage bzw. Fabrik ausgehende Verschmutzung das Wohlbefinden der Bf. zu beeinträchtigen und sie am Genuss ihrer Wohnung in einer Art und Weise zu hindern vermochte, dass ihr Privat- und Familienleben Schaden nehmen würde. Art. 8 EMRK ist folglich anwendbar.

2. Entscheidung in der Sache selbst:

Der GH hat die von den Bf. vorgelegten wissenschaftlichen Studien einer Prüfung unterzogen. Diese konnten einen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Natriumzyanid über die Luft und Atemwegserkrankungen nicht mit Sicherheit nachweisen.

Im vorliegenden Fall könnte jedoch Rückgriff auf Wahrscheinlichkeitsmodelle, wie sie die moderne Pathologie anwendet, genommen werden. Sie wären für Fälle wissenschaftlicher Unsicherheit geeignet, die von fundierten und aussagekräftigen Statistiken begleitet sind. Letztere Voraussetzung trifft allerdings hier nicht zu, da eine vom örtlichen Hospital vorgelegte Statistik über einen Anstieg der Zahl an Atemwegserkrankungen für sich allein nicht genügt, um einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Den Bf. ist somit der Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Ausgesetztsein gegenüber gewissen Dosen von Natriumzyanid und der Verschlimmerung des Asthmas des ZweitBf. nicht gelungen.

Ungeachtet dessen brachte die Existenz eines ernsten und erheblichen Risikos für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bf. eine positive Verpflichtung des Staates mit sich, adäquate Maßnahmen zum Schutz ihrer Rechte sowohl vor der Inbetriebnahme der Anlage als auch nach dem Unfall zu treffen.

Der GH weist darauf hin, dass das Recht auf eine gesunde Umwelt in Rumänien Verfassungsrang genießt, dem durch die Erlassung von Gesetz Nr. 137/1995 zum Schutz der Umwelt Rechnung getragen wurde. Im Übrigen darf nach dem Vorsorgeprinzip ein Mangel an gesicherten wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnissen kein Grund für den Staat sein, effektive und angemessene Maßnahmen zur Vermeidung von schweren und irreversiblen Risiken für die Umwelt hintanzustellen (Anm.: Vgl. etwa Grundsatz 15 der Erklärung von Rio zu Umwelt und Entwicklung (Rio-Deklaration), Art. 174 EG-Vertrag und die Mitteilung der Kommission der EU vom 2.2.2000 über die Anwendung des Vorsorgeprinzips).

Es ist nicht ersichtlich, dass die Behörden die Risiken für die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung erörtert hätten, welche die industriellen Aktivitäten laut der ersten Umweltverträglichkeitsstudie mit sich brachten. Im Gegensatz etwa zum Fall Hatton u.a./GB war die Gefahr im vorliegenden Fall jedoch vorhersehbar. Außerdem bestätigte der Unfall vom Jänner 2000 die Vermutung der Autoren der genannten Studie, die Umwelt würde im Fall eines Dammbruchs der Aufbereitungsanlage durch Schwermetalle kontaminiert werden.

Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der rumänische Staat seiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die mit den betrieblichen Aktivitäten verbundenen Risiken einer zufriedenstellenden Vorabbewertung zu unterziehen und adäquate Maßnahmen zum Schutz der Rechte der Bf. zu ergreifen.

Die Regierung bringt vor, sie habe die Öffentlichkeit am 24.11. bzw. 3.12.1999 über mögliche Risiken betreffend die Verwendung von Natriumzyanid unterrichtet. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass die Teilnehmer an diesen Debatten weder über die Umweltverträglichkeitsstudie informiert noch Antwort auf ihre Frage erhielten, welche Gefahren von der verwendeten Technologie ausgingen.

Der GH hebt hervor, dass die nationalen Behörden nach innerstaatlichem Recht verpflichtet gewesen wären, Betroffene über die Folgen der industriellen Aktivitäten für die Umwelt im Rahmen einer öffentlichen Debatte zu informieren. Dies gilt auch für die genannte Umweltverträglichkeitsstudie, welche die Basis für die Anlagengenehmigung darstellte.

Auf internationaler Ebene ist das Übereinkommen von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25.6.1998 zu erwähnen, das von Rumänien am 22.5.2000 ratifiziert wurde. Die Resolution Nr. 1430/2005 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über industrielle Risiken bekräftigt ebenfalls die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, die Verteilung von Informationen auf diesem Gebiet zu verbessern.

Aus den Akten geht hervor, dass die industrielle Tätigkeit der Firma Aurul nach dem 2000 erfolgten Unfall nicht eingestellt wurde. In diesem Zusammenhang ist auf die Bedeutung des Vorsorgeprinzips hinzuweisen, wonach ein hohes Schutzniveau betreffend die Gesundheit, die Sicherheit der Verbraucher und der Umwelt im Zusammenwirken der Gemeinschaft sicherzustellen ist. Die nationalen Behörden hätten daher ihrer positiven Verpflichtung zum effektiven Schutz des Privat- und Familienlebens der Bevölkerung gerade für die Zeit nach dem Unfall Rechnung tragen müssen.

Was dessen Folgen für die Gesundheit und die Umwelt anlangte, wie sie in internationalen Studien und Berichten näher erörtert wurden, stellt der GH fest, dass die Einwohner von Baia Mare, darunter die Bf., in einem Zustand der Angst und Ungewissheit leben mussten, der angesichts der Passivität der Behörden noch verschärft wurde. Letztere wären verpflichtet gewesen, ihnen ausreichende und detaillierte Informationen über die Folgen der Ökokatastrophe zur Verfügung zu stellen und sie über vorbeugende Maßnahmen und Verhaltensweisen zu unterrichten, sollten sich ähnliche Vorkommnisse in der Zukunft wiederholen. Hinzu kam noch die Angst angesichts der Fortführung des Betriebs, dass sich derselbe Vorfall wiederholen könnte.

Der GH erinnert daran, dass der ErstBf. ohne Erfolg zahlreiche Beschwerden bei den Verwaltungsbehörden und den Strafgerichten einbrachte, um ihnen die mit der Umweltkatastrophe verbundenen potentiellen Risiken vor Augen zu führen, denen er und seine Familie ausgesetzt seien, und um die dafür Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.

Die nationalen Behörden kamen auch nach dem Unfall ihrer Informationspflicht gegenüber den Einwohnern von Baia Mare, darunter insbesondere die Bf., betreffend in die Wege geleiteter Vorsichtsmaßnahmen in Bezug auf ähnliche oder identische Vorfälle nicht nach.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass Rumänien seiner positiven Verpflichtung zur Achtung des Privat- und Familienlebens der Bf. nicht nachgekommen ist. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Das Begehren des ZweitBf. auf Zuspruch von Ersatz für materiellen Schaden ist wegen Fehlens eines kausalen Zusammenhangs zwischen der behaupteten Konventionsverletzung und dem Schaden an seiner Gesundheit abzuweisen. Was den immateriellen Schaden betrifft, erinnert der GH daran, dass er eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt hat. Unter diesen Umständen hält er es für entbehrlich, eine Entschädigung zuzusprechen (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Zupancic, gefolgt von Richterin Gyulumyan). € 6.266,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Guerra u.a./I v. 19.2.1998, NL 1998, 59; EuGRZ 1999, 188; ÖJZ 1999, 33.

McGinley und Egan/GB v. 9.6.1998, NL 1998, 108; ÖJZ 1999, 355.

Hatton u.a./GB v. 8.7.2003 (GK), NL 2003, 193; EuGRZ 2005, 584; ÖJZ 2005, 642.

Taskin u.a./TR v. 10.11.2004, NL 2004, 283.

Giacomelli/I v. 2.11.2006, NL 2006, 283.

Budayeva/RUS v. 20.3.2008, NL 2008, 73.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.1.2009, Bsw. 67021/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 28) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Tatar.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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