VwGH Ra 2021/21/0034

VwGHRa 2021/21/00341.7.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des S S B, vertreten durch Mag. Carolin Seifriedsberger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Spiegelgasse 19/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. Dezember 2020, W202 2211647‑1/6E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 56 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §56
AsylG 2005 §60 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210034.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 1. Mai 2007 unter einer Alias‑Identität einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Dieser Antrag wurde, zuletzt im Beschwerdeverfahren mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 8. Juli 2013, vollinhaltlich abgewiesen. Unter einem wurde seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien verfügt.

2 Mit Eingabe vom 1. September 2014 beantragte der in Österreich verbliebene Revisionswerber ‑ neuerlich unter seiner Alias‑Identität ‑ die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG 2005. Seine richtige Identität legte er sodann erstmals mit Schreiben vom 11. Mai 2015 offen, wobei er verschiedene indische Urkunden zu ihrem Nachweis anschloss. Eine Kopie seines am 3. März 2017 ausgestellten indischen Reisepasses legte er im September 2017 vor.

3 Mit Bescheid vom 26. November 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ‑ soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung ‑ den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 ab. Es erließ gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei, und räumte gemäß § 55 FPG eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise ein.

4 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung ergangenen Erkenntnis vom 11. Dezember 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der ledige und kinderlose Revisionswerber lebe seit Mai 2007 in Österreich; hier habe er keine Familienangehörigen. Sein Verfahren auf Gewährung von internationalem Schutz habe er im Beschwerdestadium durch Vorgabe psychischer Probleme, die letztlich durch ein Gutachten widerlegt worden seien, verzögert. Zudem sei er unter falscher Identität aufgetreten, um seine Außerlandesbringung zu verhindern. Er habe durch seine falschen Angaben die Dauer seines Aufenthalts jedenfalls mitverursacht.

Es bestehe der Verdacht, dass er am 16. Jänner 2019 einen epileptischen Anfall gehabt habe; aktuelle Gesundheitsbeeinträchtigungen seien aber nicht hervorgekommen. Er sei vielmehr gesund und arbeite ‑ allerdings ohne über eine entsprechende Berechtigung zu verfügen ‑ als Zeitungszusteller auf Werkvertragsbasis, wodurch er ein monatliches Einkommen von € 700 bis € 725 erwirtschafte. Demzufolge sei er auch sozialversichert und führe die Sozialversicherungsbeiträge ab. Weiters verfüge er über eine aktuelle Einstellungszusage, nach der er monatlich brutto € 850 verdienen könne. Er sei strafgerichtlich unbescholten. Er wohne mit drei Landsleuten gemeinsam in einer Einzimmerwohnung. Der Revisionswerber habe zwar ein Deutschzertifikat auf dem Niveau A2 erworben, spreche und verstehe jedoch ‑ wie sich in der mündlichen Verhandlung gezeigt habe ‑ kaum Deutsch. Auch habe der Revisionswerber im Bundesgebiet keine schulischen oder sonstigen Ausbildungen absolviert. In Indien habe er zehn Jahre lang die Grundschule besucht und dann den Beruf eines Tischlers erlernt.

6 Jedenfalls fehle für den beantragten Aufenthaltstitel, so folgerte das BVwG rechtlich, die Erteilungsvoraussetzung des § 60 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005. Der Revisionswerber habe nämlich keinen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachgewiesen, die als ortsüblich angesehen werden könne. Die Nutzung einer Einzimmerwohnung „für eine Anzahl von vier (nicht miteinander verwandten) Personen“ sei jedenfalls nicht als ortsüblich zu werten.

Zudem erlaubten die bisher erwirtschafteten Einkünfte und selbst der im aktuellen Arbeitsvorvertrag in Aussicht gestellte Verdienst von € 850 brutto monatlich nicht die Prognose, dass sein Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen würde. Der Verdienst des Revisionswerbers übersteige nicht die in § 293 ASVG normierten Rechtssätze; es liege auch keine Patenschaftserklärung vor. Die für den begehrten Aufenthaltstitel erforderliche Erteilungsvoraussetzung nach § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 sei demnach ebenfalls nicht erfüllt.

7 Im Rahmen der zur Erlassung der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Abwägung nach § 9 BFA‑VG nahm das BVwG auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Rücksicht, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Es hätten sich jedoch mehrere Umstände ergeben, welche die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich (seit Mai 2007) maßgeblich relativierten, nämlich vor allem der jahrelange Gebrauch einer Alias‑Identität zur Verhinderung einer Abschiebung und die absichtliche Verzögerung des Verfahrens auf Gewährung von internationalem Schutz durch Vorgabe psychischer Probleme. Darüber hinaus sei der Revisionswerber nach Abschluss dieses Verfahrens in Österreich verblieben, obwohl er auch damals über Reisedokumente verfügt habe. Außerdem sei über das Begehren auf internationalen Schutz erstmals bereits mit Bescheid vom 21. Mai 2007 „negativ abgesprochen worden“, sodass sich der Revisionswerber seither seines unsicheren Aufenthalts habe bewusst sein müssen. Dazu komme, dass das erlangte Maß an Integration nicht sehr ausgeprägt sei.

Dagegen verfüge der Revisionswerber über aufrechte Bindungen zum Herkunftsstaat, wo er geboren worden und aufgewachsen sei, die Sozialisierung erfahren habe und eine Landessprache spreche. Zudem hielten sich ‑ neben zwei Brüdern ‑ seine Eltern in Indien auf, zu denen er regelmäßig Kontakt pflege. Auch kulturell sei er mit dem Herkunftsland noch verbunden, weil er in Österreich den Sikh‑Tempel besuche und Kontakte zu indischen Staatsangehörigen unterhalte. Insgesamt habe er sich vom Herkunftsstaat somit nicht entfremdet.

Da er gesund und arbeitsfähig sei, über Berufserfahrung sowie über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge, sei mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsland zu rechnen. Es hätten sich auch keine Hinweise dafür ergeben, dass der Revisionswerber im Heimatstaat, etwa im Zusammenhang mit der Corona Pandemie, in relevanter Weise gefährdet wäre.

Insgesamt sei daher davon auszugehen, dass die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet geringeres Gewicht hätten und gegen die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen in den Hintergrund zu treten hätten.

8 Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision erweist sich als unzulässig.

9 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dazu in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

11 Hinsichtlich der Entscheidung nach § 56 AsylG 2005 wirft der Revisionswerber dem BVwG Ermittlungsmängel vor und macht geltend, dass es sich bei der von ihm genutzten Einzimmerwohnung um ein Objekt handle, das „äußerst groß“ sei und zusätzlich zu dem vom BVwG erwähnten Zimmer ein Bad und eine Küche aufweise. Zur genauen Größe habe er auf seinen Mietvertrag verwiesen, wobei das BVwG ohne Vornahme weiterer Ermittlungen vom Fehlen einer angemessenen Größe ausgegangen sei.

12 Dieses Vorbringen erweist sich jedoch als im Ergebnis nicht zielführend:

Gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 dürfen Aufenthaltstitel nach § 56 AsylG 2005 einem Drittstaatsangehörigen nur dann erteilt werden, wenn er einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die als ortsüblich angesehen wird. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes obliegt es dem Fremden, initiativ und untermauert durch entsprechende Bescheinigungsmittel einen derartigen Rechtsanspruch nachzuweisen (vgl. dazu etwa aus der letzten Zeit VwGH 22.12.2020, Ra 2020/21/0273, Rn. 7, mwN).

13 Diesbezüglich hat der Revisionswerber jedoch im Verfahren vor dem BFA und dem BVwG (und selbst noch in der Revision) keine näheren Konkretisierungen, insbesondere zur Größe der Wohnung, vorgenommen und der angesprochene Mietvertrag befindet sich nicht in den dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten. Unter weiterer Berücksichtigung der unbestrittenen Nutzung eines einzigen Zimmers durch insgesamt vier Personen erscheint die Folgerung des BVwG, es fehle der Nachweis eines Rechtsanspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft, jedenfalls als vertretbar.

14 Schon deshalb ist die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG 2005 im Grunde des § 60 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 nicht zu beanstanden.

15 Weiters wendet sich die Revision gegen die in Bezug auf die Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung des BVwG und macht dabei vor allem unter Bezugnahme auf die bisherige Erwerbstätigkeit, die Einstellungszusage und auf vorgelegte Unterstützungsschreiben der Sache nach geltend, die bekämpfte Entscheidung weiche von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ab, nach der ein mehr als zehnjähriger inländischer Aufenthalt grundsätzlich den persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet ein entscheidendes Gewicht verleihe.

16 Dem ist zu entgegnen, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. zum Ganzen grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 16, und darauf verweisend etwa VwGH 28.5.2020, Ra 2020/21/0003, Rn. 13, mwN).

17 Das BVwG, das im Übrigen ohnehin auf die in der Revision ins Treffen geführten Aspekte ausreichend Bedacht nahm, setzte sich ‑ wie sich aus Rn. 7 ergibt ‑ auch mit dieser Judikatur auseinander. Es durfte aber aufgrund der von ihm hervorgehobenen besonderen Umstände fallbezogen von einer solchen entscheidenden Relativierung der Aufenthaltsdauer ausgehen, insbesondere wegen der unbestrittenen Verzögerung des Verfahrens auf Gewährung von internationalem Schutz und wegen der jahrelang aufrechterhaltenen unrichtigen Identitätsangaben, deren Kausalität für die Verlängerung des Aufenthalts in der Revision nicht in Zweifel gezogen wird.

18 Demnach war es ‑ entgegen der Meinung in der Revision ‑ nicht unvertretbar, dass das BVwG bei der Abwägung der wechselseitigen Interessen nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verwertung des dabei vom Revisionswerber gewonnenen persönlichen Eindrucks im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zum Ergebnis gelangte, dass die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen in den Hintergrund zu treten hätten. Eine solche einzelfallbezogene und vertretbar vorgenommene Beurteilung steht nach ständiger Rechtsprechung der Zulässigkeit einer Revision entgegen (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation etwa VwGH 29.9.2020, Ra 2019/21/0400, Rn. 25 und 26, mwN).

19 Auch sonst wird in der Revision keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.

Wien, am 1. Juli 2021

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