Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200021.L00
Spruch:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der minderjährige Zweitrevisionswerber und seine Mutter, die Erstrevisionswerberin, sind Staatsangehörige der Ukraine und stellten am 13. August 2020 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Fluchtgrund brachte die Erstrevisionswerberin vor, ihr (zunächst ebenfalls in Österreich aufhältiger) Ehemann habe sie zur Prostitution gezwungen, um seine Alkoholsucht zu finanzieren. Im März 2019 sei er in die Ukraine abgeschoben worden, habe sie in weiterer Folge per SMS bedroht und zur Prostitution aufgefordert. Sie habe Angst, in die Ukraine abgeschoben zu werden, weil sie dort obdachlos wäre und befürchte, von ihrem Mann wieder zur Prostitution gezwungen zu werden. Der Zweitrevisionswerber habe keine eigenen Fluchtgründe.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diese Anträge mit den Bescheiden je vom 27. Oktober 2020 jeweils sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien jeweils keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte jeweils fest, dass ihre Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Zur Begründung führte das BFA aus, die Erstrevisionswerberin habe keine individuelle und konkrete Bedrohungssituation schildern können. Ihre Angaben, in Österreich zur illegalen Prostitution gezwungen worden zu sein, bezögen sich nicht auf die Ukraine. Sie habe die Ukraine aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Es wäre ihr im Fall der Rückkehr möglich, bei ihren Eltern oder einem anderen Familienmitglied Unterkunft zu nehmen. Sollte ihr Mann sie neuerlich kontaktieren, bestünde in der Ukraine die Möglichkeit, sich an staatliche Behörden zu wenden. Es sei ihr zuzumuten, sich ihren Lebensunterhalt unter Einsatz eigener Arbeitsleistung und unter Zuhilfenahme familiärer Unterstützung zu sichern.
4 Gegen diese Bescheide erhoben die revisionswerbenden Parteien jeweils Beschwerde und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. In den Beschwerden bemängelten sie das Fehlen von Feststellungen dazu, ob die Erstrevisionswerberin zur Prostitution gezwungen worden sei, erstatteten (unter Vorlage entsprechender Länderberichte) ein ergänzendes Vorbringen zu Vorkommnissen von Gewalt gegen Frauen und diesbezüglicher staatlicher Schutzmaßnahmen in der Ukraine und wandten sich in diesem Zusammenhang unter anderem gegen die Annahme des BFA, dass der ukrainische Staat ausreichende Maßnahmen gesetzt habe, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Davon, dass die ukrainischen Behörden gewillt und in der Lage seien, der Erstrevisionswerberin Schutz zu bieten, könne im Übrigen auch unter Berücksichtigung der vom BFA herangezogenen Länderberichte nicht ausgegangen werden. Hätte das BFA eine „angemessene“ Beweiswürdigung durchgeführt, wäre es zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erstrevisionswerberin „Opfer von Menschenhandel“ geworden sei und vom ukrainischen Staat nicht ausreichend geschützt werden würde. Den revisionswerbenden Parteien stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, weil sie von der Unterstützung ihrer Familiengehörigen abhängig wären, um wirtschaftlich überleben zu können, und weil der Ehemann der Erstrevisionswerberin sie suchen und finden würde.
5 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und sprach jeweils aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
6 Das Bundesverwaltungsgericht begründete sein Erkenntnis zum Einen damit, dass die Erstrevisionswerberin in der Ukraine staatlichen Schutz vor allfälligen Übergriffen ihres Ehemannes in Anspruch nehmen könne, und dass den revisionswerbenden Parteien die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative in anderen Landesteilen der Ukraine (wie etwa in Kiew) zumutbar sei. Es stellte fest, dass die Erstrevisionswerberin von ihrem Ehemann in Österreich zur Prostitution gezwungen worden sei. Dieser sei im März 2019 nach Weißrussland abgeschoben worden. Er verfüge über eine „Daueraufenthaltsberechtigung“ für die Ukraine und sei zuletzt dort wohnhaft gewesen. Er habe die Erstrevisionswerberin nach seiner Abschiebung per SMS kontaktiert, woraufhin diese ihre Telefonnummer gewechselt und den Kontakt zu ihm abgebrochen habe. Die Erstrevisionswerberin stehe mit ihren Familienangehörigen in Verbindung und habe „bis auf ihre Eltern zu allen ein gutes Verhältnis“. Die Erstrevisionswerberin könnte im Fall einer Rückkehr in die Ukraine für eine eigene Unterkunft für sich und den minderjährigen Zweitrevisionswerber sorgen. Zudem könnte sie wieder bei ihren Eltern wohnen.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht sowie nach Einleitung des Vorverfahrens ‑ es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die revisionswerbenden Parteien bringen zur Zulässigkeit der Revisionen vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der (näher bezeichneten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es zu Unrecht keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.
9 Die Revisionen sind vor dem Hintergrund dieses Vorbringens zulässig. Sie sind auch begründet.
10 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob im Sinn des § 21 Abs. 7 erster Satz BFA‑VG „der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
12 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 8.4.2021, Ra 2020/20/0232, 0233, mwN).
13 Diesen Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
14 Das Bundesverwaltungsgericht, das nicht näher geprüft hat, ob das Vorbringen der Erstrevisionswerberin überhaupt einen Konnex zu einem in der GFK genannten Grund aufweist (und insoweit auch keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat), stützte die Abweisung der Beschwerde im Umfang der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides (ausschließlich) zum einen darauf, dass die ukrainischen Behörden im Hinblick auf die geltend gemachten Gefährdungen schutzwillig und schutzfähig seien und zum anderen darauf, dass den revisionswerbenden Parteien die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative („in einem anderen Landesteil der Ukraine“) zumutbar sei. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht mit der Feststellung, dass der erstrevisionswerbenden Partei „nicht im gesamten Staatsgebiet der Ukraine Eingriffe in ihre persönliche Sphäre durch ihren Ehemann“ drohten und sich die revisionswerbenden Parteien „in einem anderen Teil der Ukraine niederlassen“ könnten, jeweils Sachverhaltselemente angenommen, die über das Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens hinaus gehen (und auch vom Beschwerdevorbringen abweichen). Den im angefochtenen Bescheid getroffenen Annahmen zur Frage der Schutzfähigkeit und ‑willigkeit der ukrainischen Behörden sind die revisionswerbenden Parteien in ihren Beschwerden unter Vorlage einschlägiger Länderinformationen mit einem substantiierten Sachverhaltsvorbringen entgegengetreten.
15 Demnach lagen die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA‑VG für die Abstandnahme von der beantragten Verhandlung nicht vor.
16 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und ‑ wie hier gegeben ‑ des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH 8.4.2021, Ra 2020/20/0232, 0233, mwN).
17 Das angefochtene Erkenntnis war sohin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. Oktober 2021
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