VwGH Ra 2021/19/0200

VwGHRa 2021/19/02006.7.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk‑Leisch als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des A W, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2020, W124 2152296‑1/26E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190200.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. Juli 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe in Afghanistan bei einem Unternehmen gearbeitet, für welches er landesweit an militärischen Stützpunkten ‑ beauftragt durch das amerikanische Militär ‑ biometrische Daten afghanischer Soldaten gesammelt habe. Als die Taliban von dieser Tätigkeit erfahren hätten, hätten sie den Revisionswerber entführt, misshandelt und bedroht. Er habe sich schließlich befreien können und sei geflohen.

2 Mit Bescheid vom 8. März 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Mit Beschluss vom 23. Februar 2021, E 4371/2020‑7, wies der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 6. April 2021, E 4371/2020‑9, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das BVwG habe die Beweiswürdigung hinsichtlich der Verfolgungsgefahr des Revisionswerbers aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in unvertretbarer Weise vorgenommen. Die Verneinung der Glaubwürdigkeit der vorgebrachten Verfolgung stehe im Widerspruch zu den festgestellten Länderinformationen sowie den UNHCR‑Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, welche bestätigen würden, dass gerade die Tätigkeit für die afghanische Regierung und für internationale Truppen eine Verfolgungsgefahr zu begründen vermöge. Aus den Länderinformationen ergebe sich zudem, dass den Taliban die Tätigkeit des Revisionswerbers auch bekannt geworden sei. Der Revisionswerber sei aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in besonderer Weise exponiert gewesen und gelte nach den EASO‑Leitlinien als „high priority target“. Dies werde auch durch die Tatsache objektiviert, dass ehemaligen Arbeitskollegen des Revisionswerbers in europäischen Ländern und den USA Schutz gewährt worden sei.

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser ‑ als Rechtsinstanz ‑ zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 30.3.2021, Ra 2019/19/0518, mwN).

10 Das BVwG stellte zunächst fest, der Revisionswerber sei für internationale Unternehmen tätig gewesen, zuletzt habe er biometrische Daten von afghanischen Militärangehörigen erfasst und habe sohin indirekt für das afghanische Verteidigungsministerium gearbeitet. Das BVwG setzte sich ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung an zwei Terminen ‑ mit dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers umfassend auseinander und sprach dem Vorbringen zu der Anhaltung und Misshandlung des Revisionswerbers durch die Taliban ‑ weil es vage und widersprüchlich sei ‑ in nicht unvertretbarer Weise die Glaubwürdigkeit ab.

11 Das BVwG setzte sich auch mit der Frage auseinander, ob dem Revisionswerber allein aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit für internationale Unternehmen im Auftrag des afghanischen Verteidigungsministeriums Verfolgung drohen könnte und verneinte ‑ unter Einbeziehung der genannten UNHCR‑Richtlinien ‑ vertretbar die reale Gefahr einer Verfolgung des Revisionswerbers aus diesem Grund. Begründend führte das BVwG dazu aus, der Revisionswerber habe nicht konkret dargetan, dass es den Taliban möglich sei, in Erfahrung zu bringen, dass er für internationale Unternehmen gearbeitet habe. Der Revisionswerber habe im Rahmen seiner Tätigkeit keine exponierte Stellung innerhalb des Unternehmens eingenommen. Er habe seine Tätigkeit über mehrere Jahre ausgeübt, ohne einer konkret gegen seine Person gerichteten Gefährdung ausgesetzt gewesen zu sein. Der Umstand, dass der Revisionswerber über eine Personalfirma angestellt gewesen sei, ihm sein Gehalt bar ausbezahlt worden sei und er über keine Gehaltsnachweise verfüge, erschwere es, Informationen zu seinen beruflichen Aktivitäten in Erfahrung zu bringen. Der Revisionswerber sei daher nicht in das Blickfeld der Taliban geraten.

12 Die Revision zeigt nicht auf, dass die vom BVwG vorgenommene Beweiswürdigung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit leidet. Die Feststellung allgemeiner Umstände im Herkunftsstaat kann die Glaubhaftmachung einer konkreten, individuell gegen den Revisionswerber gerichteten Verfolgung nicht ersetzen (vgl. VwGH 31.8.2020, Ra 2020/19/0232). Soweit die Revision vorbringt, dass der Revisionswerber als „high priority target“ einzustufen sei, ist dem zu entgegnen, dass nach der ‑ im gegenständlichen Fall relevanten ‑ EASO Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019 bei der Risikobeurteilung von Personen, die für ausländische Truppen arbeiten oder denen unterstellt wird, diese zu unterstützen, individuelle Umstände des Betroffenen, wie unter anderem Sichtbarkeit und Bezahlung durch ausländische Truppen, zu berücksichtigen sind. Das BVwG hat diese Kriterien in seinem Erkenntnis, wie dargelegt, in nicht unvertretbarer Weise gewürdigt.

13 Soweit sich die Revision gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet und vorbringt, es fehle an Rechtsprechung, welcher Maßstab bei der Beurteilung eines Aufenthalts im Bundesgebiet von über fünf, aber unter zehn Jahren anzulegen sei, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden hat. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden. Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 3.3.2021, Ra 2021/19/0023, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein reversibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).

14 Das BVwG berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung alle in der Revision angesprochenen Umstände, darunter auch die Aufenthaltsdauer von mehr als sechs Jahren, sowie das Bemühen des Revisionswerbers um Integration in Österreich. Im Ergebnis ging es von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich aus. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.

15 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 6. Juli 2021

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