VwGH Ra 2021/19/0057

VwGHRa 2021/19/005725.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des D M, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2020, W265 2170150‑1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190057.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 30. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, sein Vater sei Kommandant der Taliban gewesen und habe ihn gezwungen, sich ebenfalls den Taliban anzuschließen, weswegen er geflohen sei.

2 Mit Bescheid vom 28. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier relevant ‑ aus, es sei zwar glaubwürdig, dass der Vater ein Kommandant der Taliban und der Revisionswerber vor seiner Ausreise mit diesen unterwegs gewesen sei. Ihm drohe allerdings bei einer Rückkehr keine Gefahr, von seinem Vater oder den Taliban getötet zu werden. Dem Revisionswerber, welcher aus Sicherheitsgründen nicht in seine Herkunftsprovinz zurückkehren könne, stehe überdies eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif offen.

5 Mit Beschluss vom 9. Dezember 2020, E 4134/2020‑5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 4. Jänner 2021, E 4134/2020‑7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG habe bei der Beurteilung einer Verfolgungsgefahr zu Unrecht nur darauf abgestellt, dass der Revisionswerber vor seiner Ausreise aus Afghanistan nicht von seinem Vater und den Taliban gesucht worden sei, ohne zu beurteilen, ob dieser im Fall seiner Rückkehr Gefahr liefe, verfolgt zu werden.

10 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass es für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung ankommt. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 12.6.2020, Ra 2019/18/0440, mwN).

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser ‑ als Rechtsinstanz ‑ zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0712, mwN).

12 Das BVwG ging nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in welcher es den Revisionswerber zu seinem Fluchtvorbringen und seinen Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befragte, beweiswürdigend davon aus, es sei nicht nachvollziehbar, dass sich der Revisionswerber nach seiner Trennung von den Taliban einen Monat bei seinem Onkel in Kabul habe aufhalten können, ohne von diesen gesucht worden zu sein. Daraus schloss das BVwG, dass die Taliban kein Interesse am Revisionswerber hätten, weswegen er für den Fall der Rückkehr keine Verfolgung habe glaubhaft machen können.

13 Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Beweiswürdigung unvertretbar oder das BVwG bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr von den Leitlinien der hg. Rechtsprechung abgewichen wäre.

14 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit weiter vor, das BVwG habe sich bei der Beurteilung der innerstaatlichen Fluchtalternative nicht ausreichend mit den Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie auf die Versorgungs-, Wohnungs- und Arbeitsmarktsituation auseinandergesetzt.

15 Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz‑ und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0196, mwN). Im Besonderen hinsichtlich der Covid‑19‑Pandemie in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS‑CoV‑2‑Virus und von Erkrankungen an Covid‑19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Entsprechendes gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).

16 Das BVwG traf Feststellungen zur Verbreitung von Covid‑19 und zur medizinischen Versorgung in Afghanistan und legte seiner Entscheidung zu Grunde, der junge und gesunde Revisionswerber gehöre in Bezug auf diese Krankheit keiner besonderen Risikogruppe an, weswegen keine Hinweise dafür bestünden, dass im Fall einer Erkrankung mit einem schwerwiegenden Verlauf oder der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung zu rechnen sei. Ebenso traf das BVwG Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, einschließlich Mazar‑e Sharif, und zur Situation von Rückkehrern. Die Revision zeigt nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, dem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber, welcher über Schulerfahrung in Afghanistan und Österreich verfüge, mehrere Landessprachen spreche und in seinem Herkunftsstaat sozialisiert worden sei, stehe zumindest in Mazar‑e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmenden Mangelhaftigkeit belastet wäre (vgl. zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans auch ohne soziale und familiäre Kontakte etwa VwGH 9.2.2021, Ra 2021/19/0021, mwN; unter Berücksichtigung der Covid‑19‑Pandemie etwa VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017; 10.3.2021, Ra 2020/19/0421; jeweils mwN).

17 Schließlich wendet sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung. Das BVwG habe dabei maßgebliche, zugunsten des Revisionswerbers zu berücksichtigende Elemente, wie seine durch Einstellungszusagen dokumentierte zukünftige Selbsterhaltungsfähigkeit, nicht berücksichtigt sowie teils falsch gewichtet und den öffentlichen Interessen zu Unrecht ein erhöhtes Gewicht beigemessen.

18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein revisibler Verfahrensmangel vorliegt und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010).

19 Das BVwG berücksichtigte bei seiner Interessenabwägung alle maßgeblichen und auch die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Aspekte, wie dessen besondere Anstrengung, sich in Österreich sprachlich, beruflich und sozial zu integrieren, kam jedoch im Rahmen einer auf den Einzelfall Bedacht nehmenden Abwägung zwischen den privaten Interessen und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse überwiege. Dabei hat das BVwG auch zu Recht berücksichtigt, dass es (im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG) maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Die Revision zeigt nicht auf, dass die Interessenabwägung ‑ selbst unter Berücksichtigung der vom Revisionswerber vorgelegten Einstellungszusagen ‑ fallbezogen unvertretbar wäre.

20 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 25. März 2021

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