VwGH Ra 2021/18/0001

VwGHRa 2021/18/00016.4.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von 1. M B, 2. S M, 3. M B, und 4. M B, alle vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 18. November 2020, L527 2196424‑1/20E, L527 2196428‑1/21E, L527 2196426‑1/20E, L527 2211711‑1/14E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180001.L00

 

Spruch:

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte I. der angefochtenen Entscheidungen richtet (Zurückweisung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen).

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen (Spruchpunkte II.) werden die angefochtenen Entscheidungen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien, alle iranische Staatsangehörige, sind Familienangehörige (der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die Dritt- und Viertrevisionswerber ihre in Österreich geborenen minderjährigen Söhne).

2 Sie beantragten im Zeitraum von Jänner 2016 bis August 2018 jeweils internationalen Schutz und brachten zusammengefasst vor, wegen ihres christlichen Glaubens bei Rückkehr in den Iran Verfolgung zu befürchten.

3 Mit den angefochtenen Entscheidungen wies das BVwG die Anträge auf internationalen Schutz - in Bestätigung entsprechender Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl - zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte die Zulässigkeit ihrer Abschiebung in den Iran fest, und legte Fristen für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkte II.). Mit Spruchpunkt I. entschied das BVwG jeweils wie folgt: „Soweit die Beschwerde die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 und § 56 AsylG 2005 beantragt, wird sie als unzulässig zurückgewiesen.“ Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4 Begründend hielt das BVwG zusammengefasst fest, die revisionswerbenden Parteien hätten in ihren Beschwerdeschriftsätzen erstmals Anträge auf Aufenthaltstitel gemäß den §§ 55, 56 AsylG 2005 gestellt. Mangels Zuständigkeit des BVwG darüber inhaltlich abzusprechen, seien diese Anträge als unzulässig zurückzuweisen. Im Übrigen seien die Beschwerden nicht berechtigt. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seien von Geburt an moslemischen Glaubens gewesen, hätten in Österreich aber Zugang zu einer christlichen Gemeinschaft gefunden und seien im April 2016 nach dem Ritus der „Perzische[n] Kerk Kores“ getauft worden. Danach seien sie ‑ aufgrund der Verlegung ihres Wohnsitzes ‑ in mehreren evangelischen Pfarrgemeinden in Kärnten aktiv geworden. Sie hätten seit Herbst 2016 regelmäßig (wöchentlich) die Gottesdienste und Glaubens- bzw. Bibelkurse besucht. Öfters hätten sie auch als Lektoren die Bibellesung in Farsi vorgenommen. Außerdem hätten sie häufig am Eltern‑Kind‑Kreis der Pfarrgemeinde sowie an anderen Veranstaltungen/Aktivitäten der Gemeinschaft teilgenommen und sich ‑ wenn Hilfe benötigt wurde ‑ in den unterschiedlichsten Bereichen der Gemeinde engagiert. Am 16. Mai 2018 seien sie aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Seit 23. Mai 2019 seien sie formell Mitglieder der Evangelischen Kirche A.B. Der Erstrevisionswerber singe außerdem im „Projektchor“ der Kirchengemeinde. Die Ehegatten hätten Grundkenntnisse vom Christentum im Allgemeinen und von den Grundlagen der protestantischen Glaubensrichtung im Besonderen. Der Freundes- und Bekanntenkreis der revisionswerbenden Parteien umfasse vor allem Personen, die selbst in der Kirche aktiv seien. Auch der Dritt- und der Viertrevisionswerber wurden nach evangelischem Ritus getauft. Der Vorname des Drittrevisionswerbers „Masih“ bedeute übersetzt „Christus“ und werde auch im islamischen Schrifttum für die historische Person „Jesus“ verwendet.

5 Ungeachtet dieser festgestellten Umstände ging das BVwG beweiswürdigend davon aus, dass der Austritt des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin aus der islamischen Glaubensgemeinschaft „allein asyltaktisch motiviert“ gewesen sei. Die Ehegatten hätten in den vergangenen Jahren zwar ein gewisses – geringes ‑ Interesse am Christentum entwickelt, seien aber nicht aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert und der christliche Glaube sei kein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Ihre Hinwendung zum Christentum erweise sich als eine Scheinkonversion, die der Erlangung des Status von Asylberechtigten dienen sollte. Bei Rückkehr in den Iran würde ihnen deshalb keine Verfolgung drohen.

6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe eine ‑ im Einzelnen näher dargelegte ‑ unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen und sei dadurch in zentralen Punkten von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen (Hinweis insbesondere auf VwGH 12.6.2020, Ra 2019/18/0440).

7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet. Das BVwG hat im Vorlagebericht unaufgefordert eine 18‑seitige Stellungnahme zum Inhalt der Revision abgegeben.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu I.:

10 Soweit sich die Revision gegen die Spruchpunkte I. der angefochtenen Entscheidungen wendet, weil das BVwG die Anträge nicht zuständigkeitshalber an das BFA weitergeleitet habe, und insoweit Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vermisst, reicht es darauf hinzuweisen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kein subjektives Recht auf Weiterleitung eines Anbringens im Sinne des § 6 AVG besteht (vgl. dazu etwa VwGH 20.2.2002, 2001/08/0088, mwN; siehe auch Hengstschläger/Leeb, AVG I2 § 6 Rz 12, mwN). Bei diesem Ergebnis braucht auch nicht weiter untersucht zu werden, ob die Beschwerdeschriftsätze ‑ bei vernünftiger Lesart ‑ überhaupt entsprechende Anträge enthielten.

11 Die Revision war daher in diesem Umfang mangels Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Zu II.:

12 Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Entscheidungen wendet:

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine begründete Furcht des Asylwerbers vor asylrelevanter Verfolgung wegen einer Konversion vorliegen, wenn anzunehmen wäre, dass der konvertierte Asylwerber nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen werden.

14 Bei der Beurteilung eines behaupteten Religionswechsels und einer daraus resultierenden Verfolgungsgefahr kommt es wesentlich auf die aktuell bestehende Glaubensüberzeugung des Konvertiten an, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand einer näheren Beurteilung von Zeugenaussagen und einer konkreten Befragung des Asylwerbers zu seinen religiösen Aktivitäten zu ermitteln ist. Maßgebliche Indizien für einen aus innerer Überzeugung vollzogenen Religionswechsel sind beispielsweise das Wissen über die neue Religion, die Ernsthaftigkeit der Religionsausübung, welche sich etwa in regelmäßigen Gottesdienstbesuchen oder sonstigen religiösen Aktivitäten manifestiert, eine mit dem Religionswechsel einhergegangene Verhaltens‑ bzw. Einstellungsänderung des Konvertiten sowie eine schlüssige Darlegung der Motivation bzw. des auslösenden Moments für den Glaubenswechsel (vgl. etwa VwGH 12.6.2020, Ra 2019/18/0440, mwN).

15 Im vorliegenden Fall verneinte das BVwG eine Verfolgungsgefahr aus Gründen der religiösen Einstellung der revisionswerbenden Parteien (nur) deshalb, weil es die behauptete Konversion (hinsichtlich des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin) als bloße Scheinkonversion wertete, aus der weder für sie noch ihre minderjährigen Kinder Verfolgung im Herkunftsstaat resultieren werde.

16 Zu Recht wendet die Revision dagegen ein, dass das BVwG bei dieser Beurteilung von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist. Der gegenständliche Fall gleicht jenem, der mit dem oben zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes entschieden wurde; auf dessen Begründung wird daher gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

17 Auch im vorliegenden Fall hat sich der entscheidende Richter über viele Seiten mit den Angaben der revisionswerbenden Parteien und den Aussagen der in der mündlichen Verhandlung einvernommenen Mitglieder der Kirchengemeinde beschäftigt, die allesamt ein sehr positives Bild vom religiösen Engagement des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin gezeichnet haben. Wenn das BVwG trotzdem zur Einschätzung gelangte, es lägen bloße Scheinkonversionen vor, ist diese beweiswürdigende Auseinandersetzung einseitig zu Lasten der revisionswerbenden Parteien erfolgt.

18 Wie die Revision zutreffend aufzeigt, liegen im vorliegenden Fall zahlreiche äußere, objektive Umstände vor, die für eine (ernstgemeinte) Konversion der revisionswerbenden Parteien sprechen und die vom BVwG auch dementsprechend festgestellt worden sind. Danach hat die Familie ihr gesellschaftliches und religiöses Leben in den Jahren ihres Aufenthalts im Bundesgebiet in hohem Maße mit einer evangelischen Kirchengemeinde verknüpft und nimmt aktiv am Kirchenleben teil. Das BVwG zieht auch ausdrücklich nicht in Zweifel, dass die revisionswerbenden Parteien ‑ wie ihnen von den Zeugen bescheinigt wurde ‑ eine positive, hilfsbereite und höfliche Art aufweisen, unterstellt den revisionswerbenden Parteien aber gleichzeitig, ihr Umfeld in Bezug auf ihre wahre religiöse Einstellung über lange Zeit getäuscht zu haben. Das Verwaltungsgericht gesteht den revisionswerbenden Parteien auch Grundkenntnisse zu Glaubensinhalten zu, bekrittelt aber gleichzeitig ihr mangelhaftes diesbezügliches Wissen. Der Revision ist insofern zuzustimmen, dass - wie der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach ausgeführt hat (vgl. VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0441, sowie VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0455) - keine überzogenen Erwartungshaltungen seitens des Verwaltungsgerichts anzulegen sind, wenn eine Revisionswerberin oder ein Revisionswerber ohne besonderen Bildungshintergrund ihre bzw. seine Glaubensgrundsätze in nur einfachen Worten ausführen kann. Das BVwG legt den revisionswerbenden Parteien zur Last, Ereignisse, die für ihren Religionswechsel bedeutungsvoll gewesen seien, zeitlich ungenau verortet zu haben, übersieht dabei aber, dass es sich um Abweichungen nur in Details gehandelt hat, denen kein wesentlicher Beweiswert zukam. Das Verwaltungsgericht bezweifelt auch die Motive für den Glaubenswechsel mit Argumenten, die nicht nachvollziehbar sind (etwa, indem es den vom Erstrevisionswerber aussagegemäß erlittenen Zwang durch den Vater, den Islam auszuüben, damit gleichsetzt, dass der Erstrevisionswerber seine Kinder durch die Taufe ebenfalls zum Glauben zwinge).

19 All das führt in einer Gesamtbetrachtung dazu, dass die Beweiswürdigung des BVwG fallbezogen ‑ wie die Revision im Einzelnen zu Recht darlegt ‑ unvertretbar ist und keinen Bestand haben kann.

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

21 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. April 2021

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