VwGH Ra 2021/14/0158

VwGHRa 2021/14/015814.7.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofrätinnen Mag. Schindler und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2021, G315 2183362‑1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X Y, vertreten durch Mag.rer.soc.oec. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140158.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im Umfang des Spruchpunktes A) zweiter bis vierter Satz wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Türkei, stellte am 26. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde, soweit damit der Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt wurde, als unbegründet ab.

4 Hinsichtlich der übrigen Spruchpunkte gab es der Beschwerde in Spruchpunkt A) zweiter bis vierter Satz statt und stellte fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei. Unter einem erteilte das Bundesverwaltungsgericht dem Mitbeteiligten gemäß „§ 55 Abs. 1 AsylG 2005“ den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.

5 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zur Person des Mitbeteiligten (unter anderem) aus, dieser sei Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, nach einem Aufenthalt in Schweden von 2012 bis 2014 wieder in die Türkei zurückgekehrt und im Jahr 2016 von dort kommend nach Österreich eingereist. Der Mitbeteiligte sei ledig und kinderlos, beherrsche die türkische Sprache auf muttersprachlichem Niveau, habe in der Türkei die Grundschule, die Hauptschule sowie für drei Jahre eine höhere Schule besucht. Danach habe er unregelmäßig in Restaurants gearbeitet. Seine Eltern hielten sich im Entscheidungszeitpunkt im Herkunftsort des Mitbeteiligten in der Türkei auf, eine Schwester lebe in Österreich, eine in Schweden. Der Mitbeteiligte stehe mit seiner Familie im Kontakt. Er sei gesund, unbescholten und in Österreich gut integriert. Der Mitbeteiligte habe einen Arbeitsvertrag unter der aufschiebenden Bedingung des Erhalts eines Aufenthaltstitels ‑ samt mündlicher Zusage der sofortigen Einstellung ‑ abgeschlossen.

6 Rechtlich führte das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zusammengefasst aus, der Mitbeteiligte lebe nicht in einem Haushalt mit seiner Schwester, ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis sei nicht anzunehmen. Der Mitbeteiligte befinde sich seit vier Jahren und acht Monaten im Bundesgebiet, habe sein Privatleben während des Asylverfahrens begründet und ein Zertifikat über eine bestandene Deutschprüfung Niveau B1 sowie über den Abschluss eines Werte- und Orientierungskurses vorgelegt. Der Mitbeteiligte habe sich ein soziales Netz aufgebaut und über seine Freunde mehrere mögliche Arbeitsstellen organisiert. Er lebe derzeit von der Grundversorgung, habe aber einen Arbeitsvertrag unter der aufschiebenden Bedingung des Erhalts eines Aufenthaltstitels abgeschlossen, aus dessen Einkünften der Mitbeteiligte seinen Unterhalt selbst bestreiten werde können. Er habe sein bisheriges Leben überwiegend in der Türkei verbracht und verfüge dort über familiäre Anknüpfungspunkte sowie über einen Freundes- und Bekanntenkreis. Dem Mitbeteiligten habe es bei seiner Einreise bewusst sein müssen, dass sein Aufenthalt im Falle der Abweisung seines Antrags nur ein vorrübergehender sein werde. Die schlepperunterstützte und rechtswidrige Einreise impliziere das Bewusstsein der Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung. In einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände sei ein Überwiegen der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens zu erkennen. Der Mitbeteiligte habe Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt.

7 Die vorliegende außerordentliche Amtsrevision richtet sich gegen Spruchpunkt A) zweiter bis vierter Satz (Stattgabe der Beschwerde, Behebung näher bezeichneter Spruchpunkte, Feststellung der Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie Erteilung eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“) des angefochtenen Erkenntnisses.

8 Zur Zulässigkeit bringt die Amtsrevision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von dieser Judikatur abgewichen, weil es die Frage, ob das Privatleben in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Fremde des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, nicht entsprechend berücksichtigt habe. Die von dieser Rechtsprechung geforderte außergewöhnliche Konstellation liege im Fall des Mitbeteiligten nicht vor.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die außerordentliche Amtsrevision nach Aktenvorlage und Einleitung des Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. etwa VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, mwN).

12 Die durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

13 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 19.2.2020, Ra 2020/14/0052, mwN).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. etwa VwGH 23.1.2020, Ra 2019/18/0322, mwN).

15 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. wiederum VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; 8.1.2020, Ra 2019/18/0329, mwN).

16 Die Amtsrevision zeigt zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, zu wenig Beachtung geschenkt hat. Der Mitbeteiligte hielt sich zum Entscheidungszeitpunkt rund vier Jahre und acht Monate im Bundesgebiet auf. Der Mitbeteiligte verfügt zwar über eine Arbeitsplatzzusage, es besteht jedoch ausgehend von den übrigen verwaltungsgerichtlichen Feststellungen keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und dem Mitbeteiligten ‑ ungeachtet seines Inlandsaufenthalts von unter fünf Jahren und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zu gewärtigen wäre ‑ schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste.

17 Indem das Bundesverwaltungsgericht daher insgesamt fallbezogen die für das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber den für die privaten Interessen des Mitbeteiligten sprechenden Umstände nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet und nicht ausreichend berücksichtigt hat, dass der Mitbeteiligte die festgestellten Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das Bundesverwaltungsgericht seinen Anwendungsspielraum überschritten.

18 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

19 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Aufwandersatz für die Erstellung der Revisionsbeantwortung nicht zuzusprechen.

Wien, am 14. Juli 2021

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