Normen
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200080.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 4. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Begründend führte er im Wesentlichen aus, er fürchte Verfolgung durch die Taliban. Sein Vater habe gemeinsam mit seinem Onkel ein Schuhgeschäft in Laghman betrieben und sei dabei ins Visier der Taliban gekommen. Diese hätten finanzielle Unterstützung verlangt und das Haus der Familie überfallen. Dabei seien der Vater des Revisionswerbers getötet und sein Onkel entführt worden. Die Taliban hätten gewollt, dass der Revisionswerber und sein Cousin am Jihad teilnehmen.
2 Mit dem Bescheid vom 20. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis ‑ nach Durchführung einer Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 28. November 2019, E 3720/2019‑7, ablehnte. Mit Beschluss vom 13. Jänner 2020, E 3720/2019‑9, trat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die vorliegende Revision eingebracht.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im verwaltungsgerichtlichen Verfahren abgewichen, weil es die beantragte Einvernahme des Cousins des Revisionswerbers ohne ausreichende Begründung abgelehnt und stattdessen Niederschriften über frühere Einvernahmen dieses Cousins verlesen und bei der Beweiswürdigung herangezogen habe.
9 Mit diesem Vorbringen rügt die Revision Verfahrensfehler. Wird ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wegen eines Verfahrensmangels geltend gemacht, ist der Verfahrensmangel zu präzisieren und dessen Relevanz für den Verfahrensausgang darzutun (vgl. VwGH 28.1.2020, Ra 2020/20/0010, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes muss bei Verfahrensmängeln bereits in der Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel dargetan werden (VwGH 28.4.2020, Ra 2019/14/0537, mwN).
10 Das BVwG hat seinem Erkenntnis die Annahme zugrunde gelegt, dem Revisionswerber sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif zumutbar. Dem Revisionswerber drohe bei einer Neuansiedlung in Mazar‑e Sharif keine Verfolgung oder Rekrutierung durch die Taliban, weil nicht anzunehmen sei, dass er nach Jahren der Abwesenheit von seinem Herkunftsland in einer fremden Stadt erkannt und aufgefunden werde. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang pauschal behauptet, der Revisionswerber könne weder von Familienangehörigen versorgt werden noch sich selbst versorgen, übersieht sie, dass das BVwG davon ausging, dass sich der Revisionswerber aufgrund seiner Schulbildung und Berufserfahrung auch ohne fremde Hilfe eine Existenz sichern könne.
11 Dass die Revision in Ansehung der ‑ für sich tragfähigen ‑ Alternativbegründung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif von einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG abhinge, zeigt das Zulässigkeitsvorbringen nicht auf. Als Feststellungen, die das BVwG nach unmittelbarer Einvernahme des beantragten Zeugen zu treffen gehabt hätte, nennt die Revision den Umstand, dass „die Taliban den [Revisionswerber] weiterhin suchen, da das Schutzgeld an die Taliban nicht bezahlt wurde“, den Umstand, dass „die Familie des [Revisionswerbers] nicht in der Lage wäre, ihn in Afghanistan zu versorgen“, dass der Revisionswerber „nicht zu seiner Familie zurückkehren könne, da er in seiner Heimatregion unverzüglich von den Taliban gefunden wird“, sowie, dass der Revisionswerber „über Familienangehörige in Österreich verfügt“. Mit diesem Vorbringen wird die Relevanz des Unterbleibens der beantragten Einvernahme des genannten Zeugen (für die Beurteilung der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative) schon deshalb nicht aufgezeigt, weil der Antrag auf Einvernahme dieses Zeugen nicht zu diesen Beweisthemen gestellt worden war, sondern zu den Wahrnehmungen dieses Cousins betreffend nähere Umstände des behaupteten Überfalls der Taliban auf die Familie des Revisionswerbers (so die mit dem genannten Beweisantrag untermauerten Behauptungen im Schriftsatz des Revisionswerbers vom 7. Mai 2018, die sich auf den Aufenthaltsort des Vaters des Revisionswerbers zum Zeitpunkt des Überfalls, den Ablauf des Überfalls, Todeszeitpunkt, Chronologie vorangegangener Warnungen sowie Zeitpunkt weiterer Drohungen bezogen hatten).
Vor diesem Hintergrund lässt die Revision nicht erkennen, inwiefern die beantragte Einvernahme des Cousins des Revisionswerbers Einfluss auf die Beurteilung des BVwG gehabt hätte, wonach der Revisionswerber in Mazar‑e Sharif die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative habe (vgl. zum Fehlen einer Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B‑VG und zur Unzulässigkeit der Revision bei Vorliegen einer tragfähigen Alternativbegründung VwGH 25.2.2019, Ra 2019/20/0059, mwN). Aus diesem Grund geht auch das Vorbringen, wonach der Revisionswerber bei Vermeidung behaupteter Verfahrensmängel hätte darlegen können, dass die vorgelegten Dokumente (Drohbriefe, polizeiliche Anzeigen) echt seien, sowie zur mangelnden Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Cousins bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers und seines Cousins ins Leere.
12 Eine entsprechende Relevanzdarlegung fehlt der Revision auch hinsichtlich des Vorbringens, wonach dem Revisionswerber keine ausreichende Gelegenheit geboten worden sei, seine Interessen im Ermittlungsverfahren geltend zu machen und sich zum Ergebnis der Beweisaufnahme zu äußern.
13 Soweit die Revision „aktenwidrige“ Feststellungen im Vergleich zur Entscheidung betreffend den Cousin des Revisionswerbers, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, geltend macht sowie die Übertragbarkeit näher genannter Feststellungen auf den Revisionswerber behauptet und insofern im Ergebnis die Ansicht vertritt, das BVwG wäre im vorliegenden Verfahren an die Begründung des im Verfahren des Cousins ergangenen Erkenntnisses gebunden, ist ihr zu entgegnen, dass eine Bindungswirkung in Bezug auf die Verfahren betreffend andere Personen nicht besteht (vgl. VwGH 30.5.2018, Ra 2018/18/0085; 9.10.2019, Ra 2019/20/0476, je mwN). Aktenwidrigkeit liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Übrigen nur dann vor, wenn sich die Behörde bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes mit dem Akteninhalt hinsichtlich der dort festgehaltenen Tatsachen in Widerspruch gesetzt hat, wenn also der Akteninhalt unrichtig wiedergegeben wurde, nicht aber, wenn Feststellungen getroffen wurden, die auf Grund der Beweiswürdigung oder einer anders lautenden rechtlichen Beurteilung mit den Behauptungen einer Partei nicht übereinstimmen (vgl. VwGH 6.10.2020, Ra 2019/12/0080, mwN).
14 Soweit sich die Revision gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wendet und hierzu vorbringt, das BVwG habe „aktenwidrig“ festgestellt, dass der Revisionswerber über keine Familienangehörigen im Bundesgebiet verfüge, obwohl seinem Cousin der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, übersieht sie, dass es nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die vom Fremden ins Treffen geführte Beziehung als „Familienleben“ oder als „Privatleben“ zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (VwGH 22.1.2021, Ra 2020/20/0438, mwN). Inwiefern die tatsächlichen Verhältnisse solcher Art wären, dass sie im Rahmen der Interessenabwägung zu einer anderen Entscheidung hätten führen können, lässt die Revision mit dem genannten Vorbringen nicht erkennen.
15 Entgegen den Ausführungen in der Revision traf das BVwG Feststellungen zu den Integrationsbemühungen (sowie den Deutschkenntnissen „auf Niveau B1“) des Revisionswerbers und setzte sich im Rahmen seiner Interessenabwägung mit dessen Privatleben im Bundesgebiet, dessen Bindungen zum Herkunftsstaat und den einer Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehenden öffentlichen Interessen auseinander. Vor dem Hintergrund der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, wonach einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑Verfahrensgesetz maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, vermögen die allgemein gehaltenen Ausführungen der Revision zur Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK nicht aufzuzeigen, dass diese in einer unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. zum diesbezüglichen Prüfungsmaßstab des Verwaltungsgerichtshofs VwGH 2.12.2019, Ra 2019/20/0537, mwN).
16 Wenn der Revisionswerber (dem das BVwG Gelegenheit gab, Fragen in deutscher Sprache zu beantworten) eine Rechtswidrigkeit darin erblickt, dass seine (gesamte) Einvernahme nicht in deutscher Sprache erfolgt und die beantragte Vernehmung einer Zeugin begründungslos unterblieben sei, verabsäumt er es vor diesem Hintergrund fallbezogen darzulegen, inwieweit die geforderten Verfahrensschritte geeignet wären, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0614, mwN). Unter Berücksichtigung der zitierten Judikatur ist ausgehend von den Feststellungen des BVwG zum Privatleben und zu den Sprachkenntnissen des Revisionswerbers die Relevanz der behaupteten Mängel nicht ersichtlich.
17 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 29. März 2021
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