Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
EURallg
FrPolG 2005 §55
FrPolG 2005 §55 Abs2
FrPolG 2005 §55 Abs2 idF 2011/I/038
FrPolG 2005 §55 Abs3
FrPolG 2005 §55 Abs3 idF 2011/I/038
MRK Art8 Abs2
VwRallg
32008L0115 Rückführungs-RL Art7 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180457.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien, alle armenische Staatsangehörige, sind Mitglieder einer Familie (der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung volljährige Drittrevisionswerberin und der minderjährige Viertrevisionswerber sind ihre gemeinsamen Kinder).
2 Im November 2013 stellten der Erstrevisionswerber, die Zweitrevisionswerberin und der Viertrevisionswerber erstmals Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diese Anträge mit Bescheiden vom 23. Jänner 2014 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) wegen Zuständigkeit der Slowakei als unzulässig zurück. Mit Erkenntnis vom 12. März 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerden gegen diese Bescheide als unbegründet ab.
3 Der Erstrevisionswerber, die Zweitrevisionswerberin und der Viertrevisionswerber verblieben dennoch in Österreich und stellten im Juli 2014 erneut Anträge auf internationalen Schutz. Die Drittrevisionswerberin reiste im Mai 2016 als damals noch Minderjährige nach Österreich ein und beantragte im selben Monat internationalen Schutz unter Verweis auf die Fluchtgründe ihrer Eltern.
4 Mit Bescheiden vom 22. November 2018 bzw. vom 13. März 2019 wies das BFA diese Anträge zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei, und legte eine 14‑tägige Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
6 Die Rückkehrentscheidungen betreffend (für das Revisionsverfahren sind angesichts des Revisionsvorbringens allein diese sowie die darauf aufbauenden Spruchpunkte relevant) gelangte das BVwG nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA‑VG zur Einschätzung, es sei davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes der revisionswerbenden Parteien im Bundesgebiet ihr persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiege.
7 Das BVwG stellte fest, dass die revisionswerbenden Parteien Armenisch auf muttersprachlichem Niveau sprächen und nach wie vor über Familienangehörige in Armenien verfügten, zu denen auch Kontakt bestehe. Der Erstrevisionswerber habe in Armenien acht Jahre die Schule besucht und dort eine Ausbildung als Automechaniker absolviert. In Österreich habe er zwei Deutschkurse auf dem Niveau A1 besucht. Er spreche Deutsch auf mäßigem Niveau. Die Zweitrevisionswerberin habe in Armenien zehn Jahre die Schule sowie zwei Jahre die Universität besucht und als Lehrerin gearbeitet. Sie verfüge über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 und sei in Österreich in der Rezeption eines Bildungszentrums und als Reinigungskraft tätig. Die Drittrevisionswerberin habe in Armenien elf Jahre die Schule besucht und sei zum Zeitpunkt ihrer Ausreise Schülerin gewesen. Sie besuche in Österreich eine höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe und habe von Juni bis August 2020 ein Pflichtpraktikum absolviert und eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 abgelegt. Der Viertrevisionswerber habe nach dem Schulbesuch in Armenien in Österreich zunächst (ab dem Alter von neun Jahren) die Volksschule und dann die Neue Mittelschule absolviert. Nunmehr besuche er eine Fachschule für wirtschaftliche Berufe. Er habe seine Deutschkenntnisse durch Schulzeugnisse mit positiven Deutschnoten nachgewiesen. Das BVwG habe sich in der Verhandlung von den fortgeschrittenen Deutschkenntnissen der zweit- bis viertrevisionswerbenden Parteien überzeugen können. Die revisionswerbenden Parteien, insbesondere die Zweit- und Drittrevisionswerberin, würden über zahlreiche Unterstützungsschreiben verfügen und hätten sich in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut. Sie seien keine Mitglieder in einem Verein oder einer sonstigen Organisation, strafrechtlich unbescholten und würden Leistungen aus der Grundversorgung beziehen.
8 Im Zuge der Abwägung der für den Verbleib bzw. für die Rückkehr der revisionswerbenden Parteien sprechenden Interessen setzte sich das BVwG auch mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf den im Zeitpunkt der Entscheidung noch minderjährigen Viertrevisionswerber unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohles auseinander und legte näher dar, weshalb es fallbezogen davon ausgehe, dass dem Viertrevisionswerber der Übergang zu einem Leben im Herkunftsstaat zumutbar sei. In diesem Zusammenhang stützte sich das BVwG insbesondere darauf, dass auch der Viertrevisionswerber den überwiegenden Teil seines Lebens in Armenien verbracht habe und dass seine Sozialisation in einer armenischen Familie stattgefunden habe.
9 Dagegen erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 23. Februar 2021, E 277‑280/2021‑18, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
10 Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich ausschließlich gegen die Rückkehrentscheidungen und die darauf aufbauenden Spruchpunkte. Sie macht zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend, das BVwG habe die vom EGMR entwickelten und vom Verwaltungsgerichtshof übernommenen Kriterien zur Prüfung des Kindeswohls nur teilweise bzw. „nur scheinbar“ beachtet, und erstattet zu den aufgezählten Kriterien jeweils näheres Vorbringen. Insbesondere wird der Vorwurf erhoben, das BVwG sei in Bezug auf den Viertrevisionswerber von einem Prüfmaßstab ausgegangen, der nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur anzuwenden gewesen wäre, wenn es sich um einen volljährigen Revisionswerber mit einer Aufenthaltsdauer in Österreich von weniger als fünf Jahren gehandelt hätte. Das BVwG habe bei der Interessenabwägung das Kindeswohl nicht hinreichend beachtet.
11 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
12 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
13 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
14 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
15 Sofern die Revision ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch in einzelnen Begründungsteilen betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sieht, genügt es darauf hinzuweisen, dass sich die Revision nach dem Umfang der Anfechtung und nach den geltend gemachten Revisionspunkten dagegen nicht wendet.
16 Dem Vorbringen, das Abstellen darauf, ob eine Integration der revisionswerbenden Parteien im Herkunftsstaat möglich sei, stehe nicht im Einklang mit der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG angeordneten Interessenabwägung, ist entgegenzuhalten, dass das BVwG sämtliche der in den Ziffern 1 bis 9 demonstrativ aufgezählten (arg.: „insbesondere“) Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG bei seiner Interessenabwägung berücksichtigte und sich bei der Begründung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen nicht bloß auf die Möglichkeit der erneuten Integration in die armenische Gesellschaft stützte.
17 Soweit die Revision einen Begründungsmangel im Zusammenhang mit der Annahme des Bestehens familiärer Anknüpfungspunkte in Armenien behauptet, ist zu entgegnen, dass das BVwG während der mündlichen Verhandlung sämtliche revisionswerbenden Parteien zum Vorliegen verwandtschaftlicher Beziehungen in Armenien und zum Bestehen von Kontakt zu den von den revisionswerbenden Parteien in der Verhandlung aufgezählten Angehörigen befragte. Auf die Antworten auf diese Befragung gründete das BVwG die Feststellung, die revisionswerbenden Parteien hätten in Armenien Familienangehörige und es bestehe Kontakt zu diesen. Der gerügte Begründungsmangel ist nicht ersichtlich.
18 Der Behauptung von Begründungsmängeln im Zusammenhang mit der Frage, ob der Viertrevisionswerber durch eine Rückkehr nach Armenien in seinen durch Art. 8 EMRK geschützten Rechten auf Privatleben verletzt werde, ist Folgendes zu erwidern:
19 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA‑VG bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. etwa VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, mwN).
20 In der Zulässigkeitsbegründung wird zunächst gerügt, dass es sich beim Viertrevisionswerber nicht mehr um ein Kind im anpassungsfähigen Alter handle. Dem ist zu erwidern, dass das BVwG ausdrücklich davon ausging, dass sich der sechzehnjährige Viertrevisionswerber nicht mehr in einem „anpassungsfähigen Alter“ nach dem Verständnis etwa der Entscheidung EGMR 26.1.1999, Sarumi gg. Vereinigtes Königreich, befinde, aber näher begründete, weshalb ihm der Übergang zu einem Leben in seinem Herkunftsstaat dennoch zuzumuten sei. Es stellte dabei auf die Möglichkeit einer Wiedereingliederung angesichts grundlegender, bereits im Herkunftsstaat stattgefundener Sozialisierung ab und bewegte sich damit im Rahmen der hg. Rechtsprechung (vgl. etwa VwGH 30.7.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058; VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0370 bis 0372; VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010 bis 0012).
21 Die Revision moniert überdies, das BVwG habe die Sozialisation des Viertrevisionswerbers in den von ihm besuchten österreichischen Schulen, seine engen Verbindungen zur österreichischen Kultur und Gesellschaft und seine Entfremdung vom Herkunftsstaat nicht ausreichend in die Interessenabwägung miteinbezogen. Zudem habe das BVwG die Feststellung, der Viertrevisionswerber spreche die armenische Sprache auf muttersprachlichem Niveau, nicht nachvollziehbar begründet.
22 Dem ist zu entgegen, dass der Viertrevisionswerber im Rahmen der Beschwerdeverhandlung eingehend einerseits zu seinem Privatleben in und zu seinen Bindungen zu Österreich, etwa zu seinem Freundeskreis, seiner Freizeitgestaltung, zum Besuch von Kursen und zu seinen Schulleistungen, und andererseits auch zu seinen Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, etwa zu seinen Angehörigen in Armenien sowie zum Kontakt mit diesen, zu seiner Erinnerung an Armenien und seinem dortigen Schulbesuch sowie zu seinen Sprach-, Schreib- und Lesekenntnissen in Bezug auf die armenische Sprache befragt wurde. Das BVwG betonte, dass in die Interessenabwägung im Hinblick auf den Viertrevisionswerber das Kindeswohl miteinzubeziehen sei. Bei Kindern könne unter Umständen schon früher als bei deren Eltern eine Verwurzelung in Österreich festgestellt werden, was auch die Beurteilung einer Reintegration im Herkunftsstaat beeinflusse. Aufgrund des Alters und der Aufenthaltsdauer des Viertrevisionswerbers in Österreich sei die Abwägung zwischen den Bindungen zum Herkunftsstaat und den nunmehrigen Bindungen zu Österreich anders zu bewerten als im Hinblick auf dessen Eltern. Der Viertrevisionswerber sei im Alter von neun Jahren nach Österreich eingereist und halte sich seit über sechs Jahren in Österreich auf. Trotz des Alters von bereits sechzehn Jahren sei davon auszugehen, dass dem Viertrevisionswerber der Übergang zu einem Leben im Herkunftsstaat zuzumuten sei, da der Viertrevisionswerber den überwiegenden Teil seines Lebens in Armenien verbracht habe, seine Sozialisation in einer armenischen Familie stattgefunden habe und ihm daher auch die armenischen Bräuche und Lebensgewohnheiten nicht fremd seien, er in Begleitung seiner Eltern nach Armenien zurückkehre und die armenische Sprache auf muttersprachlichem Niveau spreche.
23 Das BVwG stützte seine Feststellung, die revisionswerbenden Parteien sprächen Armenisch auf muttersprachlichem Niveau, auf deren Angaben im behördlichen Verfahren und auf den Umstand, dass diese den Großteil ihres Lebens in Armenien verbracht hätten. In Bezug auf den Viertrevisionswerber und seine Angaben im Verfahren, wonach er die deutsche Sprache deutlich besser als die armenische Sprache beherrsche, führte das BVwG zusätzlich ins Treffen, dass der Viertrevisionswerber angegeben habe, in der Familie werde Armenisch gesprochen. Es berücksichtigte auch die Deutschkenntnisse des Viertrevisionswerbers, die vom BVwG als fortgeschritten bezeichnet und durch Schulzeugnisse mit positiven Deutschnoten und den persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung als nachgewiesen erachtet wurden, und die durch zahlreiche Unterlagen belegte Teilnahme am sozialen Leben in Österreich.
24 Der Verwaltungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Wenngleich minderjährigen Kindern dieser Vorwurf nicht zu machen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2019/19/0136 bis 0137, mwN).
25 Von dieser Rechtsprechung ist das BVwG - entgegen dem Revisionsvorbringen - nicht abgewichen, indem es im Rahmen der Prüfung des Kriteriums des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG (Bewusstsein über den unsicheren Aufenthalt) ausführte, dass den volljährigen Erst- und Zweitrevisionswerbern bei der Antragstellung für sich und ihre Kinder klar gewesen sein müsse, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender sei.
26 Das BVwG hat die in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien im angefochtenen Erkenntnis zitiert und sich in der Interessenabwägung mit den Auswirkungen der Rückkehrentscheidungen auch unter dem Aspekt des Kindeswohls auseinandergesetzt. Zudem hat es ‑ entgegen dem Revisionsvorbringen ‑ die für den Verbleib des Viertrevisionswerbers in Österreich sprechenden Umstände, insbesondere dessen Grad der Integration, ermittelt, seiner Entscheidung zugrunde gelegt und in die Interessenabwägung miteinbezogen. Für ausschlaggebend hielt es jedoch, dass der Viertrevisionswerber bis zu seinem neunten Lebensjahr in Armenien gelebt und dort eine ausreichende Sozialisierung erfahren habe und die Sprache seines Herkunftsstaates spreche. Das erzielte Ergebnis, die gemeinsame Ausreise des Viertrevisionswerbers mit seinen Eltern und seiner volljährigen Schwester stelle keine Verletzung seiner durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte dar, erweist sich daher nicht als unvertretbar.
27 Dass das BVwG in diesem Zusammenhang von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wäre, weil es in Bezug auf den minderjährigen Viertrevisionswerber die für Erwachsene geltenden Prüfmaßstäbe angelegt hätte, kann nicht erkannt werden, zumal das BVwG auch spezifische, nur den Viertrevisionswerber als Minderjährigen betreffende Erwägungen anstellte. Dass das BVwG auch die für Erwachsene geltenden Maßstäbe zitierte, ist dadurch begründet, dass es im angefochtenen Erkenntnis auch die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen in Bezug auf die volljährigen erst- bis drittrevisionswerbenden Parteien zu beurteilen hatte.
28 Die Revision bringt überdies vor, das BVwG hätte die Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan, die „einen Tag vor Datierung des Erkenntnisses“ stattgefunden habe, in die Prüfung der Rückkehrentscheidungen miteinbeziehen müssen, insbesondere was eine mögliche Einberufung des Viertrevisionswerbers zum Wehrdienst betrifft. Der Revision ist zwar zuzugestehen, dass dem Erkenntnis keine gesonderte Erwähnung der tagesaktuellen Entwicklung des Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan im Rahmen der Prüfung der Rückkehrentscheidungen zu entnehmen ist. Betreffend eine mögliche Einberufung des Viertrevisionswerbers zum Wehrdienst setzte sich das BVwG mit dem im Verfahren erstatteten Vorbringen jedoch umfassend auseinander, traf Länderfeststellungen betreffend Wehrdienst und Rekrutierungen, Wehrersatzdienst und Wehrdienstverweigerung sowie die Auseinandersetzungen in der Region Bergkarabach und verwies unter anderem auf die gesetzlich verankerte Möglichkeit der Ableistung eines Zivildienstes. In der Interessenabwägung erwog das BVwG, dass sich im Rahmen der Beurteilung der allgemeinen Lage in Armenien keine Hinweise auf einen aus dem Blickwinkel des dem Art. 8 EMRK innewohnenden Rechts auf körperliche Unversehrtheit relevanten Sachverhalt ergeben hätten. Eine Unvertretbarkeit dieser Einschätzung zeigt die Revision mit ihrem Vorbringen, wonach die vom BVwG festgestellte Eskalation im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan zu großen Schwierigkeiten und Unsicherheiten für den Viertrevisionswerber führen würde, nicht auf. Sofern die Revision in diesem Zusammenhang vorbringt, dass subsidiärer Schutz in Fällen von (Bürger-)Kriegen, Revolutionen und sonstigen Unruhen erteilt werden könne, ist darauf hinzuweisen, dass der Spruchpunkt über die Nichtzuerkennung von internationalem Schutz nicht vom Umfang der Anfechtung bzw. von den Revisionspunkten umfasst ist.
29 Dem Vorwurf der Revision, das BVwG hätte feststellen müssen, dass der Abschluss der vom Viertrevisionswerber in Österreich besuchten Fachschule einem Lehrabschluss, für den gemäß § 55a FPG die Frist für die freiwillige Ausreise gehemmt sein könne, gleichzusetzen sei, ist zu erwidern, dass schon nach dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien kein Lehrverhältnis iSd § 55a FPG vorliegt.
30 Die Revision macht schließlich geltend, im Hinblick auf den Schulbesuch des Viertrevisionswerbers wäre eine längere Frist für die freiwillige Ausreise zu setzen gewesen, was sich aus Art. 7 Abs. 2 iVm Art. 5 lit. a der Rückführungsrichtlinie ergebe.
31 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass es sich bei den in § 55 Abs. 2 und 3 FPG genannten „besonderen Umständen“, die gegebenenfalls im Rahmen der gebotenen Abwägung zu einer Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise über 14 Tage hinaus führen können, nur um solche handeln kann, die bei der Regelung der persönlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Organisation der freiwilligen Ausreise zu berücksichtigen sind. Dass bei der Beurteilung, ob derartige Gründe vorliegen, ein weites Verständnis geboten ist, ergibt sich aber schon aus den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1078 BlgNR 24. GP 31), die als Beispielsfall den Abschluss eines bereits begonnenen Semesters eines schulpflichtigen Kindes, der nicht im unmittelbaren und direkten Zusammenhang mit der „Vorbereitung und Organisation der Ausreise“ steht, „oder gleichwertige Gründe“ nennen. Dabei wurde offenbar auf den mit dieser Bestimmung umgesetzten Art. 7 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie Bedacht genommen und in diesem Sinn auch noch „die Dauer des bisherigen Aufenthaltes“ als möglicher besonderer Umstand im Sinne des § 55 Abs. 2 und 3 FPG erwähnt. Außerdem werden in der beispielsweisen Aufzählung der genannten Richtlinienbestimmung neben dem „Vorhandensein schulpflichtiger Kinder“ überdies „das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen“ angeführt. Vor diesem Hintergrund ist § 55 Abs. 2 und 3 FPG auszulegen und zu beurteilen, ob im jeweiligen Einzelfall besondere Gründe im genannten Sinn, welche die Einräumung einer mehr als 14‑tägigen Frist für die freiwillige Ausreise notwendig machen, gegeben sind. Dabei ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Weiters ist zu beachten, dass es sich bei den Gründen, die eine Verlängerung der Ausreisefrist rechtfertigen können, schon definitionsgemäß um vorübergehende Umstände handeln muss; ihre Beseitigung bzw. ihr Wegfall muss absehbar sein (vgl. grundlegend VwGH 16.5.2013, 2012/21/0072 bis 0074).
32 Was den vorliegenden Fall betrifft, ist hervorzuheben, dass gemäß § 55 Abs 3 FPG die besonderen Umstände vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen sind; zugleich hat er einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Das BVwG hielt im angefochtenen Erkenntnis zur Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise fest, dass besondere Umstände, die die revisionswerbenden Parteien bei der Regelung ihrer persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, und die jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt hätten, überwiegen würden, nicht vorgebracht worden seien. Auch sei kein Termin für die Ausreise bekannt gegeben worden. Dem wird in der Revision nicht entgegengetreten. Insgesamt legt die Revision ‑ die zwar den Schulbesuch des Viertrevisionswerbers, aber keine weiterhin bestehende Schulpflicht ins Treffen führt ‑ ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch in diesem Zusammenhang nicht dar.
33 Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich vor diesem Hintergrund auch nicht veranlasst, der Anregung der revisionswerbenden Parteien, an den Gerichtshof der Europäischen Union ein Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Auslegung des Art. 7 Abs. 2 iVm Art. 5 lit. a der Rückführungsrichtlinie zu richten, nachzukommen. Auch der Anregung der Revision, den EuGH mit der Frage zu befassen, ob „das Wohl des Kindes gemäß § 24 GRC und Art. 5 der [Rückführungsrichtlinie] auch gebührend zu beachten ist, wenn gegen alle Kernfamilienmitglieder eine Rückkehrentscheidung getroffen wird“, war nicht zu folgen. Nach Art. 24 Abs. 2 GRC muss bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Dass dies auch in der von der Revision thematisierten Konstellation zutrifft, erscheint bei diesem klaren Wortlaut der GRC nicht zweifelhaft und wurde im gegenständlichen Verfahren - ungeachtet des erzielten Abwägungsergebnisses - auch von keiner Seite in Frage gestellt.
34 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 16. Juni 2021
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