VwGH Ra 2020/19/0032

VwGHRa 2020/19/003220.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des S K, vertreten durch Mag. Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunnerstraße 26/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 2019, Zl. L504 1230575‑4/48E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

ARB1/80 Art14 Abs1
BFA-VG 2014 §9
FNG 2014
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190032.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 23. Juni 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab er an, im Herkunftsstaat drohe ihm Verfolgung durch die Angehörigen des Opfers eines Mordes, für dessen Begehung er im Jahr 2006 in einem strafgerichtlichen Verfahren in Österreich zu einer Haftstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt worden sei.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, erließ ein unbefristetes Einreiseverbot und erkannte einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. Dezember 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 In der Folge erhob der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision, die sich ausschließlich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Erlassung eines Einreiseverbotes richtet.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

6 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das Bundesverwaltungsgericht sei in mehrfacher Weise von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen:

7 Es habe in Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung nicht darauf Bedacht genommen, dass der Revisionswerber türkischer Staatsangehöriger sei und in Österreich bereits eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen habe, sodass die „Stillhalteklausel“ nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ARB 1/80) zu beachten sei und dem Revisionswerber gemäß § 49 FrG 1997 Niederlassungsfreiheit zukomme. Auf Grund des nach § 49 iVm § 47 FrG 1997 bestehenden Aufenthaltsrechts bestehe daher keine Grundlage für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.

8 Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, ist seit der mit 1. Jänner 2014 durch das Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz (FNG), BGBl. I Nr. 87/2012, erfolgten Änderung der Rechtslage gegen türkische Staatsangehörige, die über eine Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 verfügen und deren Aufenthalt in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 beendet werden soll, eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot zu erlassen. Dabei setzt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung voraus, dass der Betroffene eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt (vgl. VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009).

9 Das Bundesverwaltungsgericht ist im vorliegenden Fall, wenngleich in Zusammenhang mit dem erlassenen Einreiseverbot, davon ausgegangen, dass der Revisionswerber auf Grund der Verurteilung zu einer fünfzehnjährigen Haftstrafe wegen Mordes bzw. der eine besondere Brutalität bei der Tatausführung erkennen lassenden konkreten Tathandlung sowie der während der fünfjährigen Probezeit nach frühzeitiger Haftentlassung gezeigten Sympathie für eine terroristische Organisation (nach wie vor) eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.

Insofern die Revision hier einen Widerspruch der vom Bundesverwaltungsgericht erstellten Gefährdungsprognose zum Gefährdungsmaßstab des § 52 Abs. 5 FPG nicht geltend macht, gelingt es ihr (schon deshalb) nicht, eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufzuzeigen.

10 Die Revision rügt zudem, dass die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung im Rahmen der Rückkehrentscheidung sowie die in Zusammenhang mit dem Einreiseverbot vorgenommene Gefährdungsprognose nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage beruhten. Zum einen sei die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es der österreichischen Ehefrau des Revisionswerbers zumutbar sei, mit diesem in die Türkei zu ziehen, nicht nur unrichtig, sondern auch in keiner Weise von den Feststellungen gedeckt. Das Bundesverwaltungsgericht sei auf die einen ordentlichen Lebenswandel belegenden persönlichen Umstände des Revisionswerbers seit der Haftentlassung nicht näher eingegangen. Es habe insbesondere die vom Revisionswerber ergriffenen und die Straffälligkeit relativierenden Maßnahmen, nämlich die psychotherapeutische Aufarbeitung seiner Tat, die Alkoholabstinenz, die beruflichen Schritte und das geänderte private und familiäre Umfeld, außer Acht gelassen und die Auswirkungen der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf das Ehe- und Familienleben nicht ausreichend gewürdigt. Zum anderen hätte das Bundesverwaltungsgericht bei der Erstellung der Gefährdungsprognose nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Umstände der Tat, die Lebensumstände des Revisionswerbers im Zeitpunkt der Tat, die seither stattgefundene Veränderung der Lebensumstände, den Zeitraum seit Begehung der Tat und die Dauer des Wohlverhaltens berücksichtigen müssen. Angesichts des vom Revisionswerber in den letzten Jahren gezeigten Bemühens, des seit der Straftat verstrichenen Zeitraums und der fachlich fundierten Prognose der Bewährungshelferin habe das Bundesverwaltungsgericht nicht aufzuzeigen vermocht, weshalb vom Revisionswerber nach wie vor eine maßgebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose und auch für die Bemessung der Dauer eines Einreiseverbots (vgl. VwGH 10.7.2019, Ra 2019/19/0132).

Ebenso entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine Trennung von einem in Österreich dauerhaft niedergelassenen Ehepartner oder von in Österreich asylberechtigten Familienangehörigen gerechtfertigt ist, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit (vgl. VwGH 7.7.2020, Ra 2020/20/0231; 25.4.2019, Ra 2019/19/0114).

Zur Beurteilung dieses öffentlichen Interesses bedarf es einer einzelfallbezogenen Einschätzung der vom Fremden auf Grund seiner Straffälligkeit ausgehenden Gefährdung, wozu es näherer Feststellungen über die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild bedarf (vgl. erneut VwGH Ra 2020/20/0231 sowie VwGH 10.7.2019, Ra 2019/19/0186).

12 Im vorliegenden Fall berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Interessenabwägung die von der Ehefrau des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung geäußerte Unwilligkeit, mit ihrem Ehemann in der Türkei bzw. außerhalb Österreichs ein Familienleben zu führen. Das Bundesverwaltungsgericht erachtete jedoch den drohenden Eingriff in das bestehende Familienleben insofern als relativiert, als dieses erst seit dem Jahr 2017 bestehe und die Beziehung in voller Kenntnis des Umstandes eingegangen worden sei, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers stets prekär gewesen sei und die reale Gefahr bestanden habe, dass er Österreich auf Dauer verlassen müsse. Es bezog auch die Absolvierung zweier, der Erwerbsfähigkeit zu Gute kommenden Prüfungen, die teilweise Erwerbstätigkeit und die teilweise Aufhebung von Bewährungsauflagen in seine Erwägungen ein. Entgegen dem Revisionsvorbringen ging das Bundesverwaltungsgericht auch auf die Tatumstände sowie das Verhalten des Revisionswerbers seit der Haftentlassung ein. Dabei setzte es sich im Besonderen mit der vom Revisionswerber in sozialen Medien kundgemachten Sympathie für eine terroristische Organisation bzw. dessen Führer auseinander und kam zum Ergebnis, dass sich darin eine Persönlichkeit zeige, die sich nach wie vor nicht „von der Ideologie der Lösung von Problemen durch Anwendung unangemessener Gewalt“ losgesagt habe. Auch setzte sich das Bundesverwaltungsgericht mit der fachlich fundierten Prognose der Bewährungshelferin und den von dieser beobachteten Maßnahmen des Revisionswerbers auseinander, schloss sich dieser jedoch angesichts des Umstandes, dass der Bewährungshelferin die Aktivitäten des Revisionswerbers in den sozialen Medien nach ihrer eigenen Aussage in der mündlichen Verhandlung unbekannt gewesen seien, nicht an.

13 Ausgehend davon vermag die Revision mit dem Verweis auf Umstände, die vom Bundesverwaltungsgericht ohnehin bereits berücksichtigt wurden, sowie der Rüge der vermeintlich unrichtiger Gewichtung der maßgeblichen Umstände weder darzutun, dass sich das Bundesverwaltungsgericht von den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfernt hätte, noch dass die fallbezogen vorgenommene Beurteilung in Bezug auf die Interessenabwägung oder in Bezug auf die Gefährdungsprognose in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt wäre.

14 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 20. November 2020

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