VwGH Ra 2020/14/0414

VwGHRa 2020/14/04147.10.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache des X Y, vertreten durch Mag. Thomas Klein, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2020, W131 2159849‑1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140414.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 4. Jänner 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass seine Familie aufgrund der beruflichen Tätigkeiten seines Bruders und seines Vaters für die ISAF und die UNAMA von den Taliban bedroht worden sei.

2 Mit Bescheid vom 20. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 8. Juni 2020, E 799/2020‑7, ablehnte und diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil „es das asylrelevante Vorbringen des Revisionswerbers aufgrund seiner Familienzugehörigkeit zu Vater und Bruder als Verfolgungsgrund der ‚sozialen Gruppe‘ zu prüfen gehabt“ hätte. Eine Verfolgung könne schon dann Asylrelevanz haben, wenn ihr Grund in der bloßen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wie etwa der Familie, liege. Bei der Verfolgung von Familienmitgliedern substituiere die Familie als soziale Gruppe das Fehlen eines eigenen Verfolgungsgrundes. Darüber hinaus sei das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es maßgebliche Kriterien im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) außer Acht gelassen habe. Nach der Judikatur habe selbst das Bewusstsein des Fremden über seinen unsicheren Aufenthaltsstatus vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre. Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren sei eine „vorbehaltlose“ Interessenabwägung unter Heranziehung der übrigen Kriterien vorzunehmen. Der Revisionswerber, der seit über fünfeinhalb Jahren in Österreich lebe, habe diese Zeit genutzt, um sich überdurchschnittlich zu integrieren, was dadurch bezeugt werde, dass er seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt habe und in der Verhandlung vor dem BVwG in der Lage gewesen sei, sein Fluchtvorbringen in deutscher Sprache darzustellen.

9 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

10 Die Frage, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, ist eine Einzelfallentscheidung, die grundsätzlich ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. VwGH 28.1.2020, Ra 2020/14/0004, mwN).

11 Die Revision zeigt nicht auf, inwiefern die im Einzelfall erfolgte Beurteilung des BVwG, der Revisionswerber sei als Angehöriger von Familienmitgliedern, die für internationale Organisationen tätig waren oder sind, keiner asylrelevanten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt, die mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes drohe (vgl. dazu VwGH 24.6.2019, Ra 2019/20/0101, mwN), unvertretbar wäre.

12 Die Revision vermag mit dem pauschalen Hinweis auf die Richtlinien des UNCHR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 eine Unvertretbarkeit der Erwägungen des BVwG nicht darzulegen. Zur behaupteten Zugehörigkeit des Revisionswerbers zu einer sozialen Gruppe ist darauf hinzuweisen, dass eine gezielte und systematische Verfolgung Angehöriger von Personen, die für internationale Organisationen tätig sind, vom BVwG nicht festgestellt wurde, weshalb die Revision von der Beurteilung, ob eine soziale Gruppe vorliegt, hier nicht abhängt (vgl. VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0414, mwN; allgemein zur „sozialen Gruppe“ siehe 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, mwN).

13 Soweit sich die Revision gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach der eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist. Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 12.8.2020, Ra 2020/14/0322, mwN).

14 Wenn der Revisionswerber die Bedeutung seines mehr als fünfjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet anspricht, übersieht er, dass das persönliche Interesse zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zunimmt, die bloße Aufenthaltsdauer jedoch nicht allein maßgeblich ist, sondern vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 6.5.2020, Ra 2020/20/0093, mwN).

15 Das BVwG berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung die von der Revision angesprochenen Umstände, darunter auch den Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet von knapp über fünf Jahren und sein Bemühen, seine soziale und berufliche Integration voranzutreiben. Die privaten Interessen erachtete das BVwG jedoch als durch den unsicheren Aufenthaltsstatus relativiert, weshalb die öffentlichen Interessen an der Wahrung eines geordneten Fremden‑ und Aufenthaltswesens überwögen. Dass die Interessenabwägung unvertretbar wäre, zeigt die Revision nicht auf.

16 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 7. Oktober 2020

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