VwGH Ra 2017/22/0119

VwGHRa 2017/22/01194.6.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des Landeshauptmanns von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das am 5. April 2017 mündlich verkündete und mit 20. April 2017 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW‑151/011/1826/2017‑9, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: G Z in W, vertreten durch Mag. Walter Pirker, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 28/1/21), den Beschluss gefasst:

Normen

AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §45 Abs3
B-VG Art133 Abs4
NAG 2005 §63 Abs3
NAGDV 2005 §8 Z6 litc
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220119.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

2.1. Die revisionswerbende belangte Behörde (im Folgenden: Behörde) wies mit Bescheid vom 4. Jänner 2017 den Antrag der Mitbeteiligten, einer mongolischen Staatsangehörigen, vom 12. Mai 2016 auf Verlängerung ihrer ‑ zuletzt bis zum 20. Mai 2016 verlängerten ‑ Aufenthaltsbewilligung „Schüler“ gemäß § 63 Abs. 1 und 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG, in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009) in Verbindung mit § 8 Z 6 lit. c Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz‑Durchführungsverordnung (NAG‑DV, in der Fassung BGBl. II Nr. 481/2013) ab.

Die Mitbeteiligte erfülle ‑ so die wesentliche Begründung ‑ nicht die besonderen Erteilungsvoraussetzungen, zumal sie keinen Nachweis über den Schulerfolg im vorangegangenen Schuljahr erbracht habe. So schienen im Zeugnis für das Wintersemester 2015/2016 (erstes Semester) drei, im Zeugnis für das Sommersemester 2016 (zweites Semester) zehn nicht beurteilte Fächer auf, wobei auch die nachträgliche Ablegung von Kolloquien nicht bescheinigt worden sei. Im Hinblick darauf sowie unter Berücksichtigung, dass die Mitbeteiligte derzeit das zweite Semester wiederhole, sei ein positiver Schulerfolg nicht gegeben.

2.2. Die Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, sie sei an der Erlangung eines Schulerfolgs durch unvorhersehbare und unabwendbare Gründe im Sinn des § 63 Abs. 3 NAG gehindert gewesen. Anfang Mai 2016 sei bei ihr eine Schwangerschaft festgestellt worden, die mit Komplikationen und mehrfachen Spitalsaufenthalten verbunden gewesen sei. Auf Grund der massiven gesundheitlichen Probleme habe sie die Schwangerschaft letztlich (Anfang Juli 2016) beenden müssen. Sie sei dadurch am Schulbesuch gehindert gewesen, ihre Leistungen hätten nicht entsprechend beurteilt werden können.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ der Beschwerde Folge und erteilte der Mitbeteiligten den beantragten Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten.

Das Verwaltungsgericht verwies begründend auf die Angaben der Mitbeteiligten über ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen im vorangegangenen Schuljahr. Demnach sei vorerst von einer Eierstockentzündung ausgegangen worden, die sich später als Schwangerschaft herausgestellt habe. Die Mitbeteiligte habe in jener Zeit Blutungen gehabt, kaum essen können und ständig erbrechen müssen, sodass ein Schulbesuch nicht möglich gewesen sei. Der Schwangerschaftsabbruch sei letztlich am 1. Juli 2016 durchgeführt worden. In der Folge habe die Mitbeteiligte die Schulausbildung wieder aufgenommen. Im Zeugnis für das Wintersemester 2016/2017 sei sie ‑ bis auf zwei Fächer, in Ansehung derer ebenso der Aufstieg zugesichert worden sei ‑ positiv beurteilt worden. Derzeit befinde sie sich im dritten Semester, sie wolle die Ausbildung nach dem vierten Semester beenden.

Die Mitbeteiligte habe ‑ so das Verwaltungsgericht weiter ‑ Hinderungsgründe im Sinn des § 63 Abs. 3 NAG dargetan, die ihrer Einflusssphäre entzogen und unabwendbar gewesen seien. Sie habe durch einen Spitalsbefund vom 9. Juni 2016 und einen Arztbrief vom 1. Juli 2016 unzweifelhaft bescheinigt, dass sie unvorhergesehen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen musste. Sie sei in dem Zeitraum physisch und psychisch schwer belastet gewesen, sodass sie ihren schulischen Verpflichtungen nicht habe nachkommen können. Umgekehrt habe sie aber „die Ernsthaftigkeit und auch das absehbare Ende ihrer schulischen Bemühungen bekräftigt“. Folglich seien ‑ trotz Fehlen eines entsprechenden Schulerfolgs ‑ die Voraussetzungen für die Verlängerung des Aufenthaltstitels gegeben.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Die Beurteilung der Hinderungsgründe im Sinn des § 63 Abs. 3 NAG stehe mit der Rechtsprechung im Einklang und stelle eine Abwägung im Einzelfall dar.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die ‑ Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende ‑ außerordentliche Revision, deren Zulässigkeit mit einem Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in mehreren (nachstehend näher erörterten) Punkten begründet wird.

4.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurückweisung der Revision.

5.1. Die Behörde macht geltend, das Verwaltungsgericht habe dem Verlängerungsantrag trotz Fehlen eines Schulerfolgs stattgegeben, weil es davon ausgegangen sei, dass der Einflusssphäre der Mitbeteiligten entzogene, unabwendbare und unvorhersehbare Hinderungsgründe im Sinn des § 63 Abs. 3 NAG vorgelegen seien. Es habe dabei jedoch verkannt, dass die behaupteten Gründe nicht ursächlich für den fehlenden Schulerfolg gewesen seien. Der Schwangerschaftsabbruch habe nämlich erst am 1. Juli 2016 und damit zum Schulschluss stattgefunden, sodass dessen Folgen für den fehlenden Schulerfolg nicht kausal gewesen seien. Es fehlten auch diesbezügliche Feststellungen.

5.2. Zur in Abrede gestellten Kausalität ist Folgendes festzuhalten: Ursächlich im Sinn der „natürlichen“ Kausalität ist ein Umstand, der nicht weggedacht werden kann, ohne dass der Geschehensablauf ein anderer gewesen wäre. Ob ein derartiger Kausalzusammenhang gegeben ist, ist eine Tatsachenfeststellung. Ob der Kausalitätsbeweis von den Vorinstanzen zu Recht als erbracht angesehen wurde, betrifft daher eine Frage der Beweiswürdigung (vgl. VwGH 21.3.2017, Ra 2017/22/0017; mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insoweit einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es um die Schlüssigkeit dieses Denkvorgangs sowie darum geht, ob die in diesem Denkvorgang gewürdigten Beweisergebnisse in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt wurden (vgl. etwa VwGH 18.2.2020, Ra 2019/22/0221).

5.3. Vorliegend hält die Beweiswürdigung den aufgezeigten Kriterien einer Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof stand. Das Verwaltungsgericht hat die Feststellungen nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf Basis der vorliegenden Urkunden und der abgelegten Beweisaussagen getroffen. Es kann keine Rede davon sein, dass die diesen Feststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt wäre.

Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen ist das Verwaltungsgericht jedoch auf nicht zu beanstandende Weise zum Ergebnis gelangt, dass der fehlende Schulerfolg auf die bereits mit dem Eintritt der Schwangerschaft (Anfang Mai 2016) und nicht erst mit dem Abbruch der Schwangerschaft (am 1. Juli 2016) aufgetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zurückzuführen ist.

Davon ausgehend ist aber eine von der Behörde behauptete unrichtige Beurteilung von Kausalitätsfragen nicht zu erkennen. Auch ein Fehlen erforderlicher Feststellungen ist nicht zu sehen.

6.1. Die Behörde releviert, nach Ansicht des Verwaltungsgerichts habe die Mitbeteiligte die Ernsthaftigkeit und das absehbare Ende ihrer schulischen Bemühungen bekräftigt. Tatsächlich stehe die Mitbeteiligte aber bereits seit Jahren in Ausbildung, wobei sie nur ein einziges positives Zeugnis (für das Schuljahr 2013/2014) vorgelegt und sonst keinerlei Erfolgsnachweise erbracht habe. Sie habe daher die Ausbildung nicht ernsthaft betrieben. Auch vor diesem Hintergrund sei der Schwangerschaftsabbruch für den fehlenden Schulerfolg nicht als kausal anzusehen.

6.2. Die Behörde wendet sich auch in diesem Punkt gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Diesbezügliche Bedenken sind jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht stützte die betreffenden Feststellungen auf die als glaubwürdig erachteten Angaben der Mitbeteiligten, wonach diese die nunmehrige Schulausbildung ernsthaft betreibe und mit der Absolvierung des vierten Semesters (wobei sie im Zeitpunkt der Verhandlung bereits das dritte Semester besuchte) abschließen wolle. Die Mitbeteiligte mag zwar vor der hier gegenständlichen Schulausbildung einen Erfolgsnachweis nur vereinzelt erbracht haben, woraus aber nicht zu schließen ist, dass dies auch für die nunmehrige Ausbildung gelte. Dagegen spricht insbesondere, dass die Mitbeteiligte sowohl für das Wintersemester 2015/2016 (erstes Semester) als auch für das Wintersemester 2016/2017 (wiederholtes zweites Semester) Zeugnisse mit großteils positiven Beurteilungen vorlegte. Dass dabei einzelne Gegenstände „nicht beurteilt“ wurden, steht der Berechtigung zum Aufstieg ‑ mit möglicher nachträglicher Ablegung von Kolloquien in den betreffenden Fächern ‑ und damit einer verzögerungsfreien Annäherung an den Abschluss der Ausbildung nicht entgegen (vgl. näher VwGH 25.10.2017, Ra 2017/22/0048; 23.5.2018, Ra 2017/22/0098).

6.3. Eine Verzögerung ist im Rahmen der hier gegenständlichen Ausbildung lediglich dadurch eingetreten, dass die Mitbeteiligte das (erstmals im Sommersemester 2016 belegte) zweite Semester im Wintersemester 2016/2017 wiederholen musste. Die Ursache dafür waren aber die durch die Schwangerschaft bedingten gesundheitlichen Probleme, bei denen es sich um ihrer Einflusssphäre entzogene, unabwendbare und unvorhersehbare vorübergehende Hinderungsgründe im Sinn des § 63 Abs. 3 NAG handelte, die ihr ‑ wie das Verwaltungsgericht ohne Rechtsirrtum erkannte ‑ nicht angelastet werden können.

7.1. Die Behörde bringt vor, ein Aufenthaltstitel könne zwar bei Vorliegen beachtlicher Hinderungsgründe verlängert werden, was aber nicht bedeute, dass der fehlende Erfolgsnachweis unter keinen Umständen eine Beeinträchtigung öffentlicher Interessen darstellen könne. Dem Gesetzgeber sei nämlich nicht zu unterstellen, dass er einem Fremden, dessen bisheriges Verhalten über mehrere Jahre gezeigt habe, dass er nicht in der Lage sei, einen ausreichenden Studienerfolg zu erlangen, und bei dem auch keine Anhaltspunkte für eine baldige Änderung der Situation vorlägen, die Möglichkeit zu einem weiteren Aufenthalt verschaffen wollte (Hinweis auf VwGH 25.3.2010, 2009/21/0188; 17.12.2010, 2007/18/0643).

7.2. Diese Rechtsprechung erweist sich gegenständlich schon deshalb nicht als einschlägig, weil ‑ wie bereits aufgezeigt wurde ‑ auf Grundlage der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen keineswegs davon auszugehen ist, dass die Mitbeteiligte ‑ im Rahmen ihrer nunmehrigen Schulausbildung (sollte sich die Situation in der Zeit davor anders dargestellt haben, ist eine Änderung eingetreten) ‑ nicht in der Lage oder nicht willens wäre, einen ausreichenden Schulerfolg zu erzielen.

8.1. Die Behörde macht ferner ‑ mit Blick auf § 10 VwGVG ‑ geltend, das Verwaltungsgericht habe es unterlassen, sie vor der Fällung des Erkenntnisses über die im Beschwerdeverfahren „vorgebrachten“ Beweismittel in Kenntnis zu setzen und ihr eine Stellungnahme einzuräumen. Sie sei hierdurch in ihrem Recht auf Parteiengehör verletzt worden.

8.2. Auf dieses Vorbringens braucht nicht näher eingegangen zu werden, weil die Behörde die Relevanz des gerügten Mangels nicht aufzeigt.

Auch die (allfällige) Verletzung des Parteiengehörs bewirkt nur dann einen wesentlichen Mangel, wenn das Verwaltungsgericht bei dessen Vermeidung zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können. Der Rechtsmittelwerber muss daher die entscheidenden Tatsachen behaupten, die wegen des Mangels unbekannt geblieben sind. Er darf sich nicht darauf beschränken, den Mangel bloß zu rügen, sondern muss konkret darlegen, welches Vorbringen er im Fall der Einräumung des vermissten Parteiengehörs erstattet hätte und inwiefern sich daraus eine für ihn günstigere Entscheidung hätte ergeben können (vgl. etwa VwGH 8.7.2019, Ra 2017/08/0119; 19.4.2016, Ra 2016/22/0003).

Vorliegend erstattete die Behörde kein konkretes Vorbringen im soeben aufgezeigten Sinn. Sie legte daher die Relevanz der behaupteten Verletzung des Parteiengehörs nicht dar.

9. Insgesamt werden somit in der Revision keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

10. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 4. Juni 2020

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