Normen
EURallg
MRK Art8
NAG 2005 §47 Abs2
StbG 1985 §7 Abs1 Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
12010E020 AEUV Art20
62016CC0082 K.A. Schlussantrag
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019220017.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 29. März 2018 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) den Antrag der Revisionswerberin, einer afghanischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" nach § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) aufgrund des fehlenden Sprachdiploms auf dem Mindestniveau A1 (gemäß § 21a Abs. 1 NAG) ab.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. November 2018 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig.
Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz - folgenden Sachverhalt zugrunde: Die Revisionswerberin habe am 30. Juli 2010 M R geheiratet, der seit dem 21. Juni 2010 österreichischer Staatsbürger sei. Am 6. August 2013 sei die gemeinsame Tochter S R geboren worden, die mit der Revisionswerberin im gemeinsamen Haushalt in Afghanistan lebe. Der in Österreich lebende M R besuche seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter einmal im Jahr für ca. drei bis vier Wochen. Die Revisionswerberin sei Analphabetin und habe keine Deutschkenntnisse nachgewiesen.
In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht zunächst davon aus, dass der Revisionswerberin der Erwerb von Grundkenntnissen der deutschen Sprache aufgrund ihres Gesundheitszustandes zumutbar sei. Im Hinblick auf den Zusatzantrag der Revisionswerberin gemäß § 21a Abs. 5 NAG nahm das Verwaltungsgericht eine Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG vor, gelangte dabei aber zum Ergebnis, dass ein überwiegendes Interesse der Revisionswerberin im Sinn des Art. 8 EMRK nicht gegeben sei. Dabei berücksichtigte das Verwaltungsgericht das angestrebte Familienleben der Revisionswerberin mit M R, vertrat aber die Auffassung, dass einer Familienzusammenführung in Afghanistan keine schwerwiegenden oder unzumutbaren Hindernisse entgegenstünden; die Revisionswerberin habe sich noch nie in Österreich aufgehalten. Es sei auch - so das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 15. November 2011, Dereci u.a., C-256/11 - in keiner Weise davon auszugehen, dass M R de facto gezwungen wäre, Österreich oder das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, wenn der Revisionswerberin der beantragte Aufenthaltstitel nicht erteilt werden würde. Die Erteilungsvoraussetzung des § 21a Abs. 1 NAG sei nicht erfüllt, weshalb der Antrag zu Recht abgewiesen worden sei.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
4 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
5 Die Revisionswerberin führt zur Zulässigkeit der Revision unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH (EuGH C-256/11 ; 8.3.2011, Zambrano, C-34/09 ) aus, die fünfjährige Tochter (S R), die mittlerweile österreichische Staatsbürgerin sei, sei durch die angefochtene Entscheidung gezwungen, weiter mit der obsorgeberechtigten Mutter in Afghanistan zu leben. Es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu, ob die minderjährige Tochter im Kernbestand ihrer Unionsbürgerrechte beeinträchtigt werde, wenn ihrer Mutter kein Aufenthaltstitel erteilt werde und sie daher nicht nach Österreich kommen könne. Das Verwaltungsgericht habe sich mit dieser Frage im angefochtenen Erkenntnis nicht auseinandergesetzt.
Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.
6 Vorauszuschicken ist zunächst Folgendes: Die Frage der Staatsbürgerschaft der gemeinsamen Tochter der Revisionswerberin und des zusammenführenden M R ist im angefochtenen Erkenntnis nicht ausdrücklich behandelt worden. Wie sich den Verfahrensakten entnehmen lässt, hat der - rechtlich unvertretene - M R in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass für das Kind die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt, aber noch nicht erteilt worden sei. Dem stehen allerdings die insoweit eindeutigen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis gegenüber, wonach M R seit dem 21. Juni 2010 österreichischer Staatsbürger, seit dem 30. Juli 2010 mit der Revisionswerberin verheiratet und der Vater der am 6. August 2013 geborenen Tochter der Revisionswerberin sei. Ausgehend von diesen Feststellungen hat S R aber gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Z 1 ABGB mit dem Zeitpunkt der Geburt die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Damit in Einklang stehend findet sich im Verfahrensakt auch ein entsprechender Vermerk der Berufsvertretungsbehörde, wonach ein (ursprünglich offenbar gestellter) Antrag von S R auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückgezogen worden sei, weil das Kind österreichische Staatsbürgerin sei.
7 Es ist daher auch nicht erheblich, dass in der Revision davon die Rede ist, S R sei "mittlerweile" österreichische Staatsbürgerin, weil - das Zutreffen des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Sachverhaltes vorausgesetzt - S R die österreichische Staatsbürgerschaft mit dem Zeitpunkt der Geburt erworben hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch nicht die Frage, ob diesem Vorbringen das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof geltende Neuerungsverbot entgegenstehen könnte, weil sich das Bestehen der österreichischen Staatsbürgerschaft von S R auf Basis des vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Sachverhaltes ohne weitere Feststellungen aus § 7 Abs. 1 Z 2 StbG ergibt.
8 Der EuGH hat bereits wiederholt entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird. Es gibt ganz besondere Sachverhalte, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. EuGH 8.5.2018, K.A. u.a., C-82/16 , Rn. 49 ff, mwN).
9 Auch wenn im soeben zitierten Urteil (ebenso wie in den dort bezogenen Entscheidungen) davon die Rede ist, dass ein Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, hat der Verwaltungsgerichtshof keine Zweifel, dass einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht auch dann einzuräumen ist, wenn ansonsten ein (sich aktuell nicht im Gebiet der Europäischen Union aufhaltender) Unionsbürger daran gehindert wäre, seinen Aufenthalt im Gebiet der Union zu nehmen. 10 Im angefochtenen Erkenntnis finden sich lediglich Ausführungen dazu, ob der Ehemann der Revisionswerberin (M R) für den Fall der Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels de facto gezwungen wäre, Österreich und das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen. Dem in den Verfahrensakten einliegenden Protokoll der mündlichen Verhandlung lässt sich zwar entnehmen, dass M R dazu befragt worden ist, ob er sich allein um seine Tochter in Österreich kümmern könnte, wobei M R dies als schwierig bezeichnete, weil seine Tochter ihn nicht so gut kenne. Dessen ungeachtet setzte sich das Verwaltungsgericht mit den Auswirkungen der Abweisung des Antrags der Revisionswerberin auf deren Tochter S R - ob nämlich durch die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für die Revisionswerberin der Tochter der tatsächliche Genuss des Kernbestands der aus ihrer Unionsbürgerschaft resultierenden Rechte verwehrt wird - in keiner Weise auseinander (vgl. zu den in diesem Zusammenhang zu beachtenden Aspekten und zum Bestehen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 10, mwH auch auf die Rechtsprechung des EuGH). Eine derartige Prüfung wäre vorliegend aber angesichts der oben dargelegten Erwägungen erforderlich gewesen.
11 Indem das Verwaltungsgericht dies verkannt hat, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Das Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. 12 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.
13 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20
14.
Wien, am 25. Juli 2019
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