VwGH Ra 2019/21/0180

VwGHRa 2019/21/018019.9.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Karlovits, LL.M., über die Revision des A E in W, vertreten durch Mag. Birgit Noha, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Zieglergasse 1/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. Mai 2019, I414 1416663-2/2E, betreffend Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs4
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210180.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist ägyptischer Staatsangehöriger. Er reiste, vierzehnjährig, im Juni 2010 gemeinsam mit seinem Vater nach Österreich ein, wo sein Vater für sich und den Revisionswerber - jeweils unter falscher Identität - Anträge auf internationalen Schutz stellte. Das Bundesasylamt wies diese Anträge vollinhaltlich ab und wies den Revisionswerber sowie seinen Vater nach Ägypten aus.

2 Über die Beschwerde des Revisionswerbers erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 27. Mai 2014 dergestalt, dass es diese Beschwerde in Bezug auf Asyl- und subsidiären Schutz abwies. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 erklärte es allerdings eine Rückkehrentscheidung für dauernd unzulässig. Dabei ging es davon aus, dass der Revisionswerber im Hinblick auf die Scheidung seiner Eltern schon in Ägypten nur mit seinem Vater im gemeinsamen Haushalt gelebt habe; er habe seine Mutter schon lange nicht mehr gesehen. In Österreich sei der Revisionswerber aber wegen häuslicher Gewalt der Obhut seines Vaters entzogen und es sei die "volle Erziehung" der Stadt Wien übertragen worden; sein Vater sei vor Beendigung seines Asylverfahrens freiwillig aus Österreich ausgereist und habe den damals noch minderjährigen Revisionswerber in Österreich zurückgelassen. Dieser habe die notwendigen deutschen Sprachkenntnisse mit sehr guten Noten erworben, befinde sich in Ausbildung und strebe ohne erkennbare Verzögerungen einen Pflichtschulabschluss an; er betätige sich in einem Verein, befinde sich in psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung und habe Aussicht auf eine Lehrstelle; ihm würden "ausgezeichnete Integrationsbemühungen" bescheinigt, weshalb eine gute Verfestigung der Lebensumstände in Österreich und keine feststellbaren sozialen Bindungen zum Herkunftsstaat vorlägen. Die gebotene Interessenabwägung habe somit ein Überwiegen des schützenswerten Privatlebens des Revisionswerbers ergeben.

3 Den nach wie vor unter der falschen, von seinem Vater im Asylverfahren bekanntgegebenen Identität auftretende Revisionswerber erhielt in der Folge eine "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 und im Anschluss daran Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" mit (zuletzt) Gültigkeit bis 14. August 2017.

4 Im Juni 2017 stellte der Revisionswerber einen Verlängerungsantrag. Mittlerweile war er allerdings mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 23. Dezember 2016 wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen und teilweise räuberischen Diebstahls - begangen in der Nacht vom 21. Mai 2016 auf den 22. Mai 2016 durch Wegnehmen von fünf Mobiltelefonen aus Handtaschen von fünf Personen, wobei er in einem Fall bei seiner Betretung eine Person, die ihn zur Rede stellte, wegstieß und die Flucht ergriff - zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von 12 Monaten verurteilt worden.

5 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erließ hierauf gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 22. März 2019 gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass eine Abschiebung nach Ägypten zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Ein Einreiseverbot wurde - ohne nähere Begründung - nicht verhängt.

6 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das BVwG mit Erkenntnis vom 20. Mai 2019 als unbegründet ab, wobei es aussprach, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Das BVwG stellte in diesem Erkenntnis u.a. fest, dass der Revisionswerber Deutsch auf Niveau B1 beherrsche. Er habe in Österreich (nunmehr) den Pflichtschulabschluss gemacht und eine Lehre als Koch positiv absolviert; ein weiteres Lehrverhältnis zum Restaurantfachmann habe er im Februar 2018 begonnen, er habe derzeit aber keinen Lehrherrn. Seit 1. April 2019 sei er aber wieder in einem aufrechten Dienstverhältnis als Arbeiter beschäftigt. Er sei Mitglied in einem christlichen Verein und beschäftige sich "mit jungen Menschen in Freizeitaktivitäten"; er habe an diversen Schulungen rund um das Thema "Wohnen" teilgenommen und sei Mitglied im Mieterbeirat seiner Wohnhausanlage. Erst im Beschwerdeschriftsatz habe er selbst den Hinweis gegeben, bisher unter einer Aliasidentität aufgetreten zu sein.

8 Vom Revisionswerber gehe - so das BVwG in rechtlicher Hinsicht - angesichts seines strafrechtswidrigen Verhaltens eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus, was die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 FPG rechtfertige. Erschwerend komme hinzu, dass der Revisionswerber erst im Zuge der Beschwerdeeinbringung eingeräumt habe, bisher unter einem Aliasnamen aufgetreten zu sein. Auch wenn für die damalige falsche Namensnennung sein erziehungsberechtigter Vater verantwortlich gewesen sei, habe der seit mehreren Jahren volljährige Revisionswerber aus eigenem nichts dazu beigetragen, seine Identität richtig zu stellen. Insgesamt ergebe sich vor diesem Hintergrund ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers, und zwar ungeachtet dessen, dass er die in Österreich verbrachte Zeit unbestritten genützt habe, um sich in verschiedener Hinsicht (vor allem Eingliederung am Arbeitsmarkt, Sprachenkenntnisse und Selbsterhaltungsfähigkeit) zu integrieren.

 

9 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

11 Das BVwG begründete die Unterlassung einer Beschwerdeverhandlung damit, dass ein im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärter Sachverhalt vorliege. Es seien alle für den Revisionswerber sprechenden Tatsachen der Entscheidung zu Grunde gelegt worden und es sei nicht erforderlich gewesen, sich ein "eigenes Bild" vom Revisionswerber zu machen.

12 Dieser Überlegung steht die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gegenüber, wonach der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände (vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 12, mwN; siehe aus jüngerer Zeit etwa VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0097, Rn. 21). Demzufolge kann insbesondere bei der Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft (vgl. abermals VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, nunmehr Rn. 15; aus jüngerer Zeit auch VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0198, Rn. 9). 13 Ein derart eindeutiger Fall lag hier nicht vor. Das gilt schon für die Gefährdungsprognose, denn die der strafgerichtlichen Verurteilung des Revisionswerbers zu Grunde liegenden Tathandlungen liegen rund drei Jahre zurück, wurden in einer einzigen Nacht begangen und stehen offenkundig zum sonstigen Lebenswandel des Revisionswerbers in Widerspruch.

Bezeichnenderweise hat das BFA - wenn auch ohne Begründung - von der Erlassung eines Einreiseverbotes abgesehen. Was aber die vom BVwG im Zusammenhang mit der Gefährdungsprognose ergänzend ins Treffen geführte Aufrechterhaltung der Aliasidentität (bis zur Beschwerdeeinbringung) anlangt, so trifft es im Sinne des Revisionsvorbringens zu, dass insoweit eine Klärung mit dem Revisionswerber angebracht gewesen wäre; in der Revision führt er dazu aus, dass er vor Offenlegung seiner wahren Identität zuerst einen Pass beantragt habe, um damit seine Identität beweisen zu können, was allerdings "Jahre gedauert" habe.

14 Noch weniger kann in Bezug auf die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG von einem eindeutigen Fall ausgegangen werden, zumal sich die schon im Erkenntnis des BVwG vom 27. Mai 2014 (siehe dazu Rn. 2) konstatierte Integration des Revisionswerbers auch nach den Feststellungen im nunmehr angefochtenen Erkenntnis weiter verdichtet hat. Auch insoweit hätte es also der Gewinnung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber bedurft, wobei mit ihm etwa - nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gefährdungsprognose - zu erörtern gewesen wäre, wie es ungeachtet seiner Integration zu den der Verurteilung vom 23. Dezember 2016 zu Grunde liegenden Straftaten kommen konnte.

15 Nach dem Gesagten trifft es nicht zu, dass im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei. Das angefochtene Erkenntnis, in dem diese Auffassung vertreten wird, ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

16 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. September 2019

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