VwGH Ra 2019/21/0050

VwGHRa 2019/21/005016.5.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12. Dezember 2018, W123 2185871-1/16E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A A S in B, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §57
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210050.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis (Spruchpunkt A II. der Entscheidungsausfertigung) wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte nach eigenen Angaben Ende Juli 2015 nach Österreich, wo er in der Folge einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. 2 Mit Bescheid vom 9. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Unter einem sprach es (von Amts wegen) aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte schließlich gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Die dagegen erhobene Beschwerde zog der Mitbeteiligte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 30. Oktober 2018 in Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wieder zurück. Hinsichtlich des übrigen, aufrechterhaltenen Teils der Beschwerde erkannte das BVwG sodann mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis, dass der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG festgestellt werde, eine Rückkehrentscheidung sei auf Dauer unzulässig. Des Weiteren wurde ausgesprochen, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt werde (Spruchpunkt A II. der Entscheidungsausfertigung). Unter einem wurde vom BVwG noch das Beschwerdeverfahren zu den Spruchpunkten I. und II. des BFA-Bescheides vom 9. Jänner 2018 eingestellt (Spruchpunkt A I. der Entscheidungsausfertigung) und ausgesprochen, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Das BVwG stellte fest, dass der Mitbeteiligte, der zu seinen Eltern und Geschwistern in Afghanistan keinen Kontakt mehr habe, mit der nach islamischer Tradition geehelichten (und 1998 geborenen) H. H. und deren (2011 geborenen) Tochter S. H. im gemeinsamen Haushalt lebe. Den beiden Genannten, die für den Mitbeteiligten "seine Familie (dar)stellen", sei in Österreich der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden.

5 Der Mitbeteiligte sei gesund, unbescholten und in keinem Verein aktiv. Er absolviere seit dem 14. Mai 2018 eine Lehre als Maurer und habe dabei ab Juni 2018 regelmäßig mehr als EUR 1.650,--

"ins Verdienen gebracht"; (demzufolge) befinde er sich seit dem 9. Juli 2018 nicht mehr in der Grundversorgung. Er habe ein Zertifikat über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 in Vorlage gebracht und einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 sowie einen Werte- und Orientierungskurs des österreichischen Integrationsfonds besucht.

6 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG zunächst fest, dass die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht vorlägen. Es führte dann weiter aus, dass der Mitbeteiligte bereits sehr gut in seinem Lehrbetrieb integriert sei und dass er auch viele österreichische Freunde und Bekannte habe. Von diesen werde er sehr geschätzt, wie in zahlreich vorgelegten Unterstützungsschreiben hervorgehoben werde; der Mitbeteiligte werde u.a. als diszipliniert, zuvorkommend, hilfsbereit und höflich beschrieben.

7 Zusammenfassend sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte einen hohen Grad der Integration in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht erreicht habe, der sich vor allem im erfolgreichen Erwerb von Deutschkenntnissen und in der umfassenden Teilnahme am sozialen und beruflichen Leben manifestiere. Ferner sei zu berücksichtigen, dass für den Mitbeteiligten seine "Ehefrau" und deren Tochter "seine Familie darstellen". Diese beiden Personen seien in Bezug auf den Herkunftsstaat des Mitbeteiligten als Flüchtlinge im Sinne der GFK anerkannt worden, sodass eine Fortsetzung des Familienlebens in seinem Herkunftsstaat ausgeschlossen erscheine; daraus ergebe sich ein besonders intensiver Eingriff in sein Recht auf Familienleben. Berücksichtige man all diese Aspekte, so überwögen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die privaten bzw. familiären Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet und an der Fortführung seines bestehenden Privat- und Familienlebens in Österreich die öffentlichen Interessen an seiner Aufenthaltsbeendigung. Somit sei festzustellen gewesen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, was gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 - der Mitbeteiligte übe eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, wobei das Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze überschreite - zur Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" führen müsse. 8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen hat:

9 Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.

10 Das BVwG hat seine Entscheidung maßgeblich auf die Beziehung des Mitbeteiligten zu H. H. und deren Tochter gestützt. Er habe H. H. nach islamischem Ritus geheiratet und lebe mit ihr und ihrer Tochter, die für ihn seine Familie darstellten, im gemeinsamen Haushalt.

11 Diese Ausführungen implizieren, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung - wie vom BVwG dann auch zu Grunde gelegt - einen Eingriff in das Familienleben des Mitbeteiligten bedeuten würde. Das stünde mit der vom BFA in seiner Amtsrevision angesprochenen, auf Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes im Einklang, wenn eine entsprechend enge und dauerhafte persönliche Bindung des Mitbeteiligten zu H. H. und deren Tochter vorliegt (in diesem Sinn der in der Amtsrevision zitierte Beschluss VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0425, Rn. 13; siehe auch schon VwGH 8.9.2010, 2008/01/0551). Um das beurteilen zu können, fehlt es allerdings, wie die Amtsrevision zutreffend aufzeigt, im angefochtenen Erkenntnis an ausreichenden Feststellungen. So bleibt schon offen, wann die konfessionelle Eheschließung erfolgte und seit wann der Mitbeteiligte mit H. H. und deren Tochter im gemeinsamen Haushalt lebt. Es liegen überdies keine Feststellungen dazu vor, wann der Mitbeteiligte H. H. kennenlernte und ab welchem Zeitpunkt sich eine Beziehung bzw. Lebensgemeinschaft entwickelte, was auch vor dem Hintergrund des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG von Bedeutung ist. Dass H. H. und deren siebenjährige Tochter für den Mitbeteiligten seine Familie bilden und dass er mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebt, gibt schließlich noch keinen ausreichend deutlichen Aufschluss darüber, wie das Zusammenleben im Detail gestaltet ist, ob also z.B. der Mitbeteiligte, wie der Sache nach in der Revisionsbeantwortung vorgebracht, gegenüber der Tochter von H. H. zum "Vaterersatz" - dokumentiert etwa durch Übernahme von Aufsichtspflichten - geworden ist, was letztlich nicht nur unter dem Aspekt der Begründung eines Familienlebens, sondern auch unter dem Blickwinkel des Kindeswohls in Bezug auf die Tochter der H. H. Beachtung zu finden hätte.

12 Nach Maßgabe des Ergebnisses der insgesamt noch zu beantwortenden Fragen mag ein maßgebliches Familienleben des Mitbeteiligten mit H. H. und deren Tochter vorliegen. Gegebenenfalls würde sich die Verhängung einer Rückkehrentscheidung als besonders intensiver Eingriff in dieses Familienleben darstellen, denn das BVwG hat unter Bezugnahme auf VfGH 25.2.2013, U 2241/12, Punkt II. 2.2., mit Recht darauf hingewiesen, dass H. H. und deren Tochter als Flüchtlinge im Sinn der GFK in Bezug auf den Herkunftsstaat des Mitbeteiligten anerkannt wurden, was eine Fortsetzung des Familienlebens in diesem Staat als ausgeschlossen und damit eine solche Fortsetzung anderswo als in Österreich als unrealistisch erscheinen lässt. 13 Vor diesem Hintergrund besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten als dauerhaft unzulässig erweist, und zwar selbst dann, wenn es gemäß der vom BFA in der Amtsrevision weiter vertretenen - hier nicht geprüften - Ansicht zutreffen sollte, die vom Mitbeteiligten im Rahmen eines Lehrverhältnisses ausgeübte Erwerbstätigkeit verstoße gegen das AuslBG und erhöhe so das öffentliche Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung. 14 Aus den dargestellten Gründen ist das angefochtene Erkenntnis aber - soweit es auch der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des BFA-Bescheides betreffend die (amtswegige) Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 Folge gegeben hat, deswegen, weil das zur eigenen Begründung, § 57 AsylG 2005 betreffend, in Widerspruch steht - mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Es war daher insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Wien, am 16. Mai 2019

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