Normen
32003R1560 Dublin-II DV Art7;
32013R0604 Dublin-III Art28 Abs2;
AVG §39 Abs2;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
EURallg;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §27;
VwGVG 2014 §28;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210133.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkte A.I. bis A.III.), und zwar Spruchpunkt A.I., soweit damit die Anhaltung der Mitbeteiligten im Zeitraum 3. Juni 2018 von 1.00 Uhr bis 8.00 Uhr für rechtswidrig erklärt wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes und im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligte, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt nach Italien ein und stellte dort im September 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie entzog sich diesem Verfahren durch die über Österreich vorgenommene Weiterreise nach Deutschland, wo sie Anfang März 2018 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. In diesem Verfahren erging eine auf die Dublin III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) gestützte Entscheidung, mit der die Zuständigkeit Italiens zur Führung des Verfahrens über diesen Antrag festgestellt und die Überstellung der Mitbeteiligten nach Italien angeordnet wurde. Dem kam die Mitbeteiligte zuvor, indem sie zunächst untertauchte und dann (gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten) nach Österreich einreiste, um nach Italien weiterzureisen.
2 Bei dieser Reisebewegung wurde die Mitbeteiligte, die nicht im Besitz eines Reisedokumentes war, am 3. Juni 2018 um 0.30 Uhr auf österreichischem Staatsgebiet (im Bereich des Hauptbahnhofes Villach) in einem internationalen Reisezug einer fremdenrechtlichen Kontrolle unterzogen und in der Folge (um 1.00 Uhr) festgenommen. Eine weitere Überprüfung ergab sogenannte "Eurodac-Treffer" für Italien und Deutschland. Bei der anschließenden kurzen Vernehmung gab die Mitbeteiligte (in Englisch) an, sie habe nach Italien reisen wollen, weil man ihr in Deutschland "gesagt" habe, dass sie dorthin "zurückgehen" müsse.
3 In der Folge verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über die Mitbeteiligte mit Mandatsbescheid vom 3. Juni 2018 gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung und zur Sicherung der Abschiebung. Dieser Bescheid wurde der Mitbeteiligten laut dem Inhalt einer entsprechenden Bestätigung am 3. Juni 2018 um 8.00 Uhr durch "persönliche Übergabe" zugestellt.
4 Danach leitete das BFA ein Konsultationsverfahren mit Italien ein, wobei die italienischen Behörden auf das Rückübernahmeersuchen innerhalb der hierfür offen stehenden Frist nicht antworteten. Hierauf erließ das BFA einen mit 19. Juni 2018 datierten Bescheid, mit dem (insbesondere) gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG die Außerlandesbringung der Mitbeteiligten nach Italien angeordnet und die Zulässigkeit der Abschiebung der Mitbeteiligten dorthin festgestellt wurde.
5 Bereits davor, nämlich am 12. Juni 2018, hatte die Mitbeteiligte gegen den Schubhaftbescheid "sowie gegen die Anordnung der Schubhaft" und gegen ihre "fortdauernde Anhaltung seit 03.06.2018" Beschwerde erhoben, und zwar mit dem Begehren, das BVwG "möge den angefochtenen Bescheid beheben und aussprechen, dass die Anordnung von Schubhaft und die bisherige Anhaltung in Schubhaft in rechtswidriger Weise erfolgte".
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Juni 2018 sprach das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) sodann aus, dass der Beschwerde stattgegeben und die Anhaltung der Mitbeteiligten "vom 03.06.2018, 01.00 Uhr, bis zur Entlassung" für rechtswidrig erklärt werde (Spruchpunkt A.I.). Unter einem stellte das BVwG gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 3 BFA-VG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Des Weiteren verpflichtete das BVwG den Bund zum Aufwandersatz an die Mitbeteiligte (Spruchpunkt A.III.), wies hingegen deren Antrag auf Befreiung von der Eingabegebühr als unzulässig zurück (Spruchpunkt A.IV.). Schließlich sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
7 Über die gegen dieses Erkenntnis - der Sache nach nur gegen dessen Spruchpunkte A.I. bis A.III. - erhobene Revision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen:
8 Das BFA begründet die Zulässigkeit der Revision vor allem damit, dass das angefochtene Erkenntnis keine taugliche Begründung aufweise. Damit ist das BFA, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, im Recht, weshalb sich seine Revision als zulässig und berechtigt erweist.
9 Zur Begründung seiner Entscheidung traf das BVwG einerseits die (unstrittige) Feststellung, die Mitbeteiligte habe in Entsprechung einer "negativen Dublin-Entscheidung" Deutschland verlassen und nach Italien, das für ihr "Asylverfahren" zuständig sei, weiterreisen wollen. Andererseits traf es die negative Konstatierung, es könne "nicht festgestellt werden", dass die Mitbeteiligte beabsichtige, sich einem Verfahren in Österreich zu ihrer Außerlandesbringung nach Italien zu entziehen. In diesem Sinn heißt es dann auch in der rechtlichen Beurteilung, es könne "nicht davon ausgegangen werden", die Mitbeteiligte werde sich "derzeit" dem Zugriff der Behörden entziehen, um ihre Abschiebung nach Italien zu "hintertreiben".
10 Zu einem ähnlichen Begründungsduktus hat der Verwaltungsgerichtshof schon festgehalten, Aussagen zu treffen, etwas könne nicht festgestellt werden, sei im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes. Vielmehr habe es - unter Bedachtnahme auf das im Grunde des § 17 VwGVG auch für die Verwaltungsgerichte maßgebliche Prinzip der Amtswegigkeit - regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zu führen und nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel in seiner Entscheidung zu den fallbezogen wesentlichen Sachverhaltsfragen eindeutig Stellung zu nehmen. Nur wenn auch nach Durchführung eines solchen - hier aber unterbliebenen (siehe unten Rn. 14) - Ermittlungsverfahrens eine klare Beantwortung einer derartigen Frage nicht möglich sei (was ebenso wie das Treffen einer "positiven" Feststellung im Rahmen beweiswürdigender Erwägungen näher zu begründen wäre), komme als Aussage allenfalls in Betracht, dass der betreffende Gesichtspunkt "nicht festgestellt werden kann" (siehe dazu VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060, Rn. 10).
11 In diesem Zusammenhang bemängelt das BFA überdies zu Recht, dass auch die Beweiswürdigung des BVwG nicht schlüssig ist. Diesbezüglich wird vom BVwG nämlich nur ins Treffen geführt, trotz der Stellung von "Asylanträgen" in Italien und Deutschland und trotz der illegalen Einreise der Mitbeteiligten in diese Länder und nach Österreich könne "im Hinblick auf den festgestellten Sachverhalt" - offenbar gemeint: wegen der Absicht der Mitbeteiligten, entsprechend der in Deutschland ergangenen "Dublin-Entscheidung" in den für das Verfahren über ihren Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat Italien über Österreich zurückzureisen - nicht davon ausgegangen werden, dass sie nunmehr ihren Willen geändert habe und nicht mehr nach Italien zurückkehren wolle, zumal sie ihre Kooperationsbereitschaft auch ausdrücklich bekundet habe. Dabei wurde vom BVwG allerdings außer Acht gelassen, dass es nicht um eine freiwillige Rückreise nach Italien in der von der Mitbeteiligten vorgenommenen Art ging, weil diese mangels Reisedokumentes auf legale Weise nicht hätte erfolgen können. Maßgeblich wäre vielmehr gewesen, ob sich die Mitbeteiligte für ein Verfahren zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung zur Verfügung gehalten und danach - anders als zuletzt in Deutschland - einer formalisierten Überstellung nach Italien (vgl. dazu Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003) nicht entzogen hätte. Dieser entscheidende Aspekt des vorliegenden Falles hätte somit vom BVwG bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigt werden müssen.
12 Demzufolge wurde die primäre Annahme des BVwG, es sei keine erhebliche Fluchtgefahr im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Dublin III-VO gegeben gewesen, nicht stichhältig begründet. Es kommt daher der in die rechtliche Beurteilung - offenbar hilfsweise - aufgenommene weitere Begründungsteil zum Tragen. Demnach sei nach Meinung des BVwG die Verhängung der Schubhaft gegen die Mitbeteiligte auch nicht verhältnismäßig gewesen, weil "nicht ausgeschlossen werden kann", dass der Sicherungszweck durch Anordnung eines gelinderen Mittels hätte erreicht werden können. Diese Auffassung wird allerdings - abgesehen davon, dass ihr auch keine konkreten, auf den Fall bezogenen Überlegungen zu entnehmen sind - der Bestimmung des § 77 Abs. 1 FPG nicht gerecht, wonach das Bundesamt nur dann gelindere Mittel anzuordnen hat, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. Demnach genügt es nicht, wenn - wie das BVwG formulierte - bloß "nicht ausgeschlossen werden kann", dass der Sicherungszweck mittels gelinderen Mittels hätte erreicht werden können. Das muss vielmehr - um eine Pflicht zur Anordnung gelinderer Mittel zu begründen - aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalles positiv anzunehmen sein (vgl. in diesem Sinn auch die ErläutRV zum FrÄG 2011, 1078 BlgNR 24. GP 37; siehe des Näheren auch noch VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0022, Rn. 11, mwN). Das hat das BVwG offenbar verkannt.
13 Schon wegen dieser Mängel der tragenden Begründung war das angefochtene Erkenntnis in dem aus dem Spruch ersichtlichen Umfang wegen (prävalierender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Allerdings ist noch ergänzend anzumerken, dass auch die Begründung des BVwG für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung - wegen Vorliegens eines "aufgrund des vorgelegten Aktes, des Verfahrensganges und der Beschwerde" geklärten Sachverhaltes - nicht nachvollziehbar ist. Das BFA ist nämlich im Schubhaftbescheid aufgrund des Vorverhaltens der Mitbeteiligten - illegale Weiterreise ohne Abwarten der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz in Italien nach Deutschland, Stellung eines wiederholten Antrags auf internationalen Schutz, Entziehen der "formalisierten" Ausreise aus Deutschland nach Italien durch illegale Ausreise nach Österreich - in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher sozialer Anknüpfungspunkte in Österreich vom Vorliegen von erheblicher Fluchtgefahr ausgegangen, während die Mitbeteiligte dieser Annahme mit dem Vorbringen in der Beschwerde entgegentrat, sie habe sich bei der Festnahme in Entsprechung der "negativen deutschen Dublin-Entscheidung" am Weg nach Italien befunden und werde sich einem Verfahren zur Überstellung nach Italien nicht entziehen. Angesichts dessen war die Annahme des BVwG, der Sachverhalt erscheine im Sinne der offenbar als Rechtsgrundlage herangezogenen Bestimmung des § 21 Abs. 7 BFA-VG aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt, nicht gerechtfertigt. Auch das bemängelt die Amtsrevision zu Recht.
15 Das BVwG hat aber darüber hinaus verkannt, dass sich die Beschwerde schon nach der Anfechtungserklärung und dem Begehren nur gegen den die Schubhaft anordnenden Bescheid, der am 3. Juni 2018 um 8.00 Uhr erlassen wurde, und die darauf gegründete Anhaltung richtete. Ihrem gesamten Inhalt nach blieb in der Beschwerde die Festnahme der Mitbeteiligten und die daran anschließende Anhaltung (bis zum Vollzug der Schubhaft) unbekämpft. Das BVwG belastete daher Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses, soweit damit die Anhaltung der Mitbeteiligten im Zeitraum 3. Juni 2018 von 1.00 Uhr bis 8.00 Uhr für rechtswidrig erklärt wurde, mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit und es war daher in diesem Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.
Wien, am 13. November 2018
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)